Freitag, 20. März 1936 16. Jahrgang Nr. 68 Ehnlrtit 70 Krim (einschlieBlich 5 Heller Forte) IENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung frag xiufochova a. Telefon 53077. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB . VERANTWORTLICHER REDAKTEUR« DR. EMIL STRAUSS , FRAG. Einstimmiger Schuldspruch gegen Deutschland Die Locarno* Mächte e'nis/ Erregung in Berlin eigenen noch viel zu gering sei. Das trägt dem Vertri- Uhr im diger eine Rüge durch den Vorsitzenden ein."/ Ribbentrop plädiert im Rat London. (Reuter.) Um halb 11 westeuropäischer Zeit wurde Donnerstag St. James-Palais in London die öffentliche S zung des Bölkerbnndratts eröffnet Der größte Schüft im ganzen Land t.. Zunächst wurde der Hauptbelastungszeuge Stöckl einvernommen, ein ehemaliger Sozial­demokrat, der an der Brünner Konferenz teilge­nommen hat und. sich bemühet, soviel ehemalige Kameraden wie möglich zu belasten und. zu denunzieren. Es handelt sich um einen charakterschwachen Menschen, der.offenbar schon in Brünn mit einem Polizeispitzel in Verbindung ge­wesen ist. Der Name dieses Sitzels, der in Brünn gesehen wurde, ist den Angeklagten bekannt. Dem Stöckl, dem eine Welle des. Hasses und der Per­achtung entgegenschlägt(Wenn Gefühle Peit­schenhiebe wären", sagte ein Auslandsjournalist, so wäre Stöckl schon längst tot."), werden von den Angeklagten und der Verteidigung eine ganze Reihe von Widersprüchen nächgewiesen, wodurch die Glaubwürdigkeit dieses. Zeugen stärk in Zwei­fel gestellt'ist.... Ter Zeuge, der wegen eines anderen De­liktes in Haft ist, bestreitet zwar, für feinen Verrat etwas versprochen erhalten zu haben, er gibt aber zu, daß er eine mildere Strafe als Lohn für sein Verhalten erhofft habe. Ein Verteidiger bemerkt, daß für d i e s e n Mann die verhängte Strafe Der Denunziant als Kronzeuge Der Wiener Prozeß ein Schandmal des Starhembers-Resimes! Rach Eröffnung der Sitzung ergriff als er­ster Redner der deutsche Delegierte, von Ribben­trop, das Wort. Im ersten Teil seiner Rede ver­suchte er die Legalität des deutschen Schrittes bei der Wiederbesehmlg der Rheinlandzone nachzu­weisen, da das Locarno -Abkommen durch den französisch-sowjetrnffischr» Pakt verletzt worden sei. Gegen das franko-russische Bündnis brachte Ribbentrop insbesondere vor: 1. Dieses Bündnis bedeutet die Z u s a m- m e n,z ieh« ng zweier Staaten, die eingerechnet der für militärische Hilfeleistung in Frage kommenden kolonialen Gebiete etwa .275 Millionen Mensche» umfasse«. 2. Die beiden vertragschließenden Parteien gelten jede für sich zurzeit als die st ä r k st e n Militärmächte der Welt. 3. Dieses Bündnis richtet sich ausschließlich gegen Deutschland . 4. Sowjetrußland, das an sich, durch weite Räume von Deutschland getrennt, von diesem gar nicht angreifbar wäre, hat sich durch einen analogen militärischen Bündnisvertrag mit der Tschechoslowakei indirekt an die deutsche Grenze vorgeschoben. 5. Frankreich und Rußland erheben sich nach diesem Bündnis zum Richter in eigener Sache, indem sie gegebenenfalls auch ohne einen Beschluß oder ohne eine Empfehlung des Völker» bundes selbständig den Angreifer bestimmen und somit gegen Deutschland nach> ihrem Ermesse» zum Kriege schreiten können. Der fonnelle Schuldspruch des Rates stellt einen bedeutenden moralischen Erfolg Frank­ reichs und eine Niederlage Hitlers dar, die ihn um so schmerzhafter treffen wird, als a« ch P o- len und Italien dieses allerdings ohne Stimmrecht für den Schuldspruch gestimmt haben. In Berlin bringen die Abendblätter die Meldung meist noch ohne Kommentar, soweit sie aber darüber schreiben, gegen sie in erregten Worten ihren Unwillen über denFehl­spruch" kund, gegen den sich an Ort und Stelle auch Ribbentrop gewandt hat. Wenn auch Hitler den Spruch insofern ausnützen wird, als er nun versichern wird, daß Deutschlands Hands zurück­gestoßen wurde, so kommt doch in einer für das Regime peinlichen Weise die Isolierung des Hitlerreiches zum Ausdruck..)- Man darf aber nicht verkennen» daß der formelle Erfolg, den Flandin heimbringt und über den er noch Donnerstag mit Sarraut konferierl hat, praktisch nur eine geringe Bedeutung hat. Wichtiger ist, das die Loearnomächtr bald nach der Ankunft Ribbentrops in London , die eine anfeuernde Wirkung hatte, und augenscheinlich unter stärkstem Druck Flandins einig geworden sind. Die Forderungen, die sie aufstellen werden, sollen sich auf folgende Punkte erstrecken: 1. Der Haager Gerichtshof wird aufgefordert, in der Sache des französisch-sowjetrussischen Beistandspaktes zu entscheiden, 2. Lediglich in der deutschen Rheinzone wird eine von internationa­lem Militär als Hilfspolizei überwachte demilitarisierte Zone ge­schaffen werden, 3. wird ein Einvernehmen über die Zusammenarbeit zwischen den Ge» neralstäben Frankreichs und Englands erzielt werden. Drr entscheidende Punkt ist die Zusammenarbeit der Generalstäbe, also die militä­rische Allianz. Denn auf die Anrufung des Haager Gerichts geht, wie sich aus Rib­bentrops Erklärungen im Rat ergibt, Deutschland nicht ein und die Schaffung einer einseitigen demilitarisierten oder gar internationalisierten Zone, sei es auch nur für einige Monate, wird von Deutschland ebenfalls sehr energisch abgelehnt. Hier handelt es sich also um rein theore­tische Forderungen: die Frage wird nun sein, ob sich trotz der z» erwartenden Ablehnung der Forderungen durch Hitler eine Möglichkeit zu. Verhandlungen finden wird, die England anschei­nend um jeden Preis herbeiführe» will. Sowohl für Frankreich als auch für Hitler wird es schwer sein, an den Berbandlungstisch zu kommen, nachdem man sich einmal auf die Forderung der neuen demilitarisierten Zone, bzw. auf die eindeutige Ablehnung der Forderung festgesetzt hat. Das eigentlich P o s i t iv e bleibt ans jeden Fall die enge Zusammenarbeit der W e st m ä ch t r, die in Berlin am ehesten imponieren und Hitler spätestens nach derVolks­abstimmung" verhandlungsreif machen dürfte. Wien.(Eigenbericht.) Auch der vierte Ver-1 Handlungstag hat nicht den Schatten eines Bewei ­ses für die Schuld der Angeklagten erbracht, son- seines verächtlichen Verhaltens befragt, geani dern die Brüchigkeit der Hochverratsanklage erst recht geoffenbart. Die äusländische Sozialisten-Delegation wurde endgültig abgewiesen; diese Abweisung ist auf die persönliche Verstimmung des Herr» Bun ­deskanzlers Schuschnigg gegen. die englischen Trabe Unions zurückzuführen. Daß de Brouckere, Frau Vandervelde , Prinee und Longuet in Wien waren, durfte die österreichische Bevölkerung über ­haupt nicht erfahren, London . Der Völkerbund hat Donners­tag nachmittag in der öffentlichen Sitzung den von Belgien und Frankreich eingebrachten Ent­schließungsentwurf über die Verletzung des Per­trages von Locarno bei Stimmenthalt Chiles angenommen. Die Signatarmächte des Locarno - Vertrages stimmten im Völkerbundsrat für die Resolution mit Ausnahme Deutschlands , das d t g e g e n stimmte. Die Stimmen der Lo- rarnomächte zählen kür die einmütige Abstim­mung des Rates nicht mit. Der angenommene Text lautet wie folgt: Der Völkerbundrat befindet auf Grund des am 8. März erfolgten Ersuchens Belgiens und Frankreichs , daß die deutsche Regie­rung einen Bruch des Artikels 43 des Versailler Vertrages beging, indem sie am 7. März 1836 veran­laßte, daß militärische Streitkräfte in die demili­tarisierte Zone einmarschierten und sich dort fest­setzten, eine Maßnahme, auf die sich der Artikel 42 und die nachfolgenden Artikel des Versailler Vertrages und des Vertrages von L o c a r n a beziehen,«nd beauftragt den Ge­neralsekretär unter Bezugnahme auf Artikel 4, Absatz 2 des Locarnovertrages über diesen Be­fund des Bölkerbundrates ohne Verzögerung die Signatarmächte dieses Vertrages\ zu verstän­digen." Der" Hauptangeklagte S a i l e r erzählt, daß Stöckl bei der Konfrontation, nach den Gründen wartet hat:i bin einig'falln, also sollen auch andere einig'tunkt werden." Der Untersuchungs­richter hat damals dem Stöckl gesagt:Das hät­ten Sie nicht antworten sollen. Hätten Sie liebe: gesagt, weil es wahr ist." Der Zeuge bestrei­tet seine Bemerkung nicht, sie befindet sich bezeich­nenderweise nicht im Protokoll.. Sie sind ein Lügner Stöckl erzählt auch, daß die Teilnehmer an der Brünner Konferenz den Auftrag erhalten hätten, sich um ein Alibi umzusehen. Nach sei­nem Alibi befragt, erklärt er, er habe sich aus taktischen Gründen keines beschaffen wollen. Frau Emhart verweist darauf, daß es zwischen ihr und dem Zeugen persönliche Diffe­renzen gibt, über die sie nicht reden wolle. Den Zeugen verläßt dabei sein sonst so gutes Gedächtnis. Frau Emhart ruft erregt:Sie sind ein Lügner", und wird dafür nicht gerügt. Der Angeklagte Binder weist dem kalt und zynisch dreinschauen­den Stöckl eine ganze Reihe Unwahrheiten nach und beendet seine Abrechnung mit den Worten: Sie sind ein elender Gesinnungslump. Mehr kann ich nicht sagen." Binder wird vermahnt. Die von der Anklage behauptete organi­satorische Einheit zwischen Sozialisten nnd Kommunisten wird auch von diesem Bela­stungszeugen widerlegt. Er erkennt nämlich die beiden Mitangeklagten Kommunisten nicht. Man bedenke, daß ein Mensch wie Stöckl, der sich zu . gemeinem Verrät hergab, also tatsächlich ein Gesinnungslump«nd kein ehrlicher Mann ist,, als Hauptstütze dec Anklage wirkt. Tatsächlich hat sein Auftreten eine von der Anklage keines­wegs erwartete Wirkung hervorgerufen: mit. Ausnahme drr zahlreichen im Saal befind­lichen Spitzel sie sind auch hinter den Plät­zen der Auslandsjonrnälisten zu sehen schütteln sich die Zuhörer vor Ekel. ^Schluß ans Seite 2), Die neuen Wohnungsgesctzc Die heftig umstrittenen Gesetzentwürfe übe: die Baubewegung und über den Mieterschutz sind nunmehr in der Koalition vereinbart worden und stehen eben im Abgeordnetenhause in Verhand­lung. Der sozialpolitische Ausschuß hat beide Vor­lagen mit Gründlichkeit und Sachlichkeit durchbe­raten und so wieder erwiesen, daß unser Parla­ment arbeitsfähig ist, wenn ihm Arbeitsrnöglich- leit geboten wird. Der Ausschuß hat an der Bau­förderungsvorlage noch einige Verbesserungen vorgenommen, insbesondere durch Wiederherstel­lung der Steuerfreiheit von Neubauten im Um­fange der. früheren Bauförderungsgesetze und durch zehnjährige, bei Kleinwohnungen zwanzig­jährige Befreiung der Neubauten von der Miet­zinsabgabe. Von dem Rankenwerk der Paragraphen los­gelöst, bedeuten die beiden Vorlagen:- Durch Be­reitstellung einer neuen Garantiesumme von 300,000.000 KL wird die Schaffung von 15.000 bis 18.000 Einzimmerwohnungen ermöglicht. Darüber hinaus wird für arme Personen, das sind solche, denen ihre materiellen Verhältnisse die Beschaffung einer Wohnung nicht möglich machen, der Bau von einräumigen Wohnungen allen­falls mit einem zweiten Raum von zehn Quä- dratmeter Grundfläche durch Getvährung eines Staatsbeitrages an die Gemeinden ermöglicht, die solche Wohnbauten errichten. Da in diesem Falle die Garantie den ganzen Bauaufwand um­fassen, müssen die Gemeinden bloß den Grund beistellen und einen Jahresbeitrag von einem Prozent-leisten, während der durch dey Mietzins zu deckende Aufwand durch den Staatsbeitrag auf drei Prozent des Bauaufwandes gesenkt wird. Dazu kommt die Ermöglichung der Unterstützung von Arbeitslosensiedlungen, wie.sie erstmalig di: Regierungsverordnung vom 13. Juli 1934 vor­gesehen hatte. Der Mieterschutz wird für Zweizimmerwoh­nungen bis 30. Juni 1937, für kleinere Woh-, nungen, wenn der Mieter ein Mindesteinkommen von 18.000 KL, bei Familienerhaltern von 30.000 KL hatte, bis 30. Juni 1938, bei einem Einkommen von 15.000 KL bzw. 24.000 KL bis 30. Juni 1939 aufrechterhalten. Dabei wird das steuerpflichtige Einkommen mehrerer Familien­mitglieder zusammengezählt, aber das der Ab­zugssteuer unterliegende Lohneinkommen nur mit der Hälfte angerechnet. Wurde diese Einkommens­grenze nicht erreicht, so bleiben Einzimmerwoh­nungen, bis 30. Juni 1940 unter Schutz, Wohn­küchen aber auch über diesen Termin hinaus. Nach den Publikationen des statistischen Staatsamtes bestanden von 301.000 Arbeiter­wohnungen in den größeren Städten 123.000 bloß aus einem Raum, 151.352 aus zwei Räu­men, also aus Zimmer und-Küche. Für den weit­aus überwiegenden Teil aller Arbeiter denn welche Arbeiterfamilie erwirbt heute 24.000 KL im Nähre bleibt also der Mieterschutz bis Mitte 1940 aufrecht. Aber darüber hinaus werden für die Ge­biete, in denen die wirtschaftlichen, sozialen und Wohnungsverhältnisse besondere Vorkehrungen er­fordern, die eben dargelegten Bestimmungen über die Aufhebung des Mieterschutzes nicht gelten: in den Notstandsgebieten, deren Umfang die Re­gierungsverordnung festsetzt, wird also der Mie­terschutz, so wie er heute besteht, solange unver­ändert weitergelten, bis eine neue gesetzliche Vor­kehrung erlassen wird. - Im Jahre 1928 hat der Bürgerblock durch zahlreiche Durchbrechungen des Mieterschutzes, namentlich durch die Ausnahme aller Neuvermie­tung die unaufhaltsame Liquidierung des Mie­terschutzes eingeleitet. Seit 1928 hat jeder ein­zelne Wohnungswechsel ein neues Loch in den Mieterschutz gerissen. Zugleich hat der Bürger­block, bei glänzendem Stande der Staatsfinan­zen, für die Bauförderung aus öffentlichen Mit­teln s o g uck wi e nichts geleistet. Die vor­übergehende Konjunktur des Kapitalismus wurde für eine planmäßige Wohnungsfürsorge nicht nutzbar gemacht, im Gegenteil, die bestehenden Einrichtungen der Wohnungsfürsorge wurden ver­schlechtert, Der, E i nfluß d e r S o z i aldemo- k r a t i e hat dann, unter wesentlich verschlechter­ten Voraussetzungen, angesichts wachsender Fi- 'nanznot des Staates und aller öffentlichen Kör- 1 perschaften, die:., fasterloschene Bausörtze»