Freitag, 19. Juni 1936 Nr. 143 16. Jahrgang Einzelpreis 70 Heiter («intchliefilich i Hellar Porto) 1ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TXGLKH FRÜH. Redaktion und Verwaltung präg xii., fochova 42. Telefon S3077. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB . VERANTWORTLICHER REDAKTEURi DR. EMIL STRAUSS, PRAG . Japanische Löhne sudetendeutscher Arbeiter Zustände wie vor hundert Jahren Der Prager „Börsencourier" veröffentlicht eine längere Darstellung der Lohnverhältniffe in der Tschechoslowakei , welcher wir einige Tatsachen entnehmen. Diese Darstellung eines bürgerlichen Blattes, welches das niedrige Lohnniveau im Lande ohne Schonung kennzeichnet, bestätigt die in unserem gestrigen Leitartikel ausgesprochene Auffassung, daß die Lohnverhältniffe im sudetendeutschen Gebiet unhaltbar find. Das jährliche Lohneinkommen in der Tsche choslowakei betrüg im Jahre 1929 14.4 Milliarden KL, im Jahre 1932 9.2 Milliarden KL. Der Lohnausfall gegenüber 1929 beträgt daher 5.2 Milliarden. Von diesem Rückgang sind auf die geringere Zahl der Beschäftigten etwa 60 Prozent, das sind 3.1 Milliarden zurückzuführen, während 2.1 Milliarden, das sind 40 Prozent des Gesamtausfalles auf die Verringerung der Reallöhne durch Kurzarbeit und Lohnsenkung zurückgeführt werden können. Lag schon im Jahre 1929 bei dem täglichen Durchschnitt von KL 19.11 das Jahreseinkommen von 5733 KL knapp unter dem Existenzminimum von 6000 KL, so liegt im Jahre 1934 das auf Grund des durch- schnittMchen Tagesverdienstes von 16.30 KL errechnete durchschnittliche JahreSlohneinkommen von 48Ü0 KL schon recht erheblich unter dem Existenzminimum, das in unserem Staate gilt. Bon der Gesamtzahl der Versicherten Waren 1929 in den unteren vier Lohnklassen, die selbst im günstigsten Falle ein Lohneinkommen unter dem Existenzminimum bedeuten, rund 50.86 Prozent versichert, im Lahre 1934 rund 64 Prozent. Noch ärger ist es beim Lohneinkommen der Frauen, bei welchem nahezu 48 Prozent auf die beiden untersten Lohnklassen(Tagesverdienst bis zu 10 KL) entfiel. Das heißt, daß 48 Prozent der weiblichen Lohnempfänger ein Jahreseinkommen hatten, das unter der Hälfte des Existenzminimums lag. Als klassisches Land der niedrigen Löhne gilt Japan . Nach den Angaben des Internationalen Arbeitsamtes vom Oktober 1935 betrug der durchschnittliche Tageslohn eines Textilarbeiters im März 1935 1 Den 336 Rin, das sind 9.35 KL, einer Textilarbeiterin 0.637 Den, das sind 4.46 KL täglich. In gewissen Textilbetrieben bei uns aber bestehen Wochenlöhne von 43 bis 50 KL, was einem Taglohn von KL 7.20 bis 8.30 entspricht. In der Strick- und Wirkwarenindustrie in Jglau erhält ein gut qualifizierter Arbeiter bei 48stündiger Arbeitszeit 60 bis 70 KL wöchentlich, vereinzelt 100 KL. Der Stuntzenloh« für Jugendliche beträgt 40 bis 50 Heller, der Tagesverdienst dah« 3.20 bis 4 KL. Stillesuns bei Haas& Czijzek? Wie wir erfahre«, hat die Firma Haas& Czijzek beim Fürsorge» und beim Handelsministerium angesucht, die Betriebe in C h o d a u und Schlag- g e n w a l d auf längere Zett als drei Monate Mlzulegen. Derzeit find bei dieser Firma in Chodau 525, in Schlag- genwald 350 Arbeiter beschäftigt, so daß also bei Verwirklichung der Absicht anSvv MenschendasHeer der Arbeitslose« vermehren würde«. Begründet wird dieses StMegungs-Ansuchen mit der allgemein ungünstige« Situation in der Porzellanindustrie. Der Durchschnittsverdienst einer weiblichen Arbeitskraft in der Kottonindustrie beträgt 70 bis 90 KL. Kraß ist der Lohnverfall überall dort, wo in der Erzeugung neben Betriebsarbeitern auch Heimarbeitskräfte beteiligt sind. Hier sind Tagesverdienste unter dem Niveau der japanischen Löhne. So bewegen sich die Verdienste einer Heimarbeiterin in der Stickereiindustrie(Gras litz , Asch, Weipert ) zwischen 2.60, bis 5 KL pro Tag, bei nahezu unbeschränkter Arbeitszeit. Um 3 KL bewegt sich der Tagesverdienst der vielen Spitzenklöpplerinnen im Erzgebirge . Das langt auf Kartoffeln und vielleicht etwas Kornkaffee, zu mehr auf keinen Fall. In der Hemdenindustrie werden in manchen Gegenden 80 Heller pro Stück gezahlt, wobei die Arbeiterin noch den Zwirn beistellen muß. Wenn dabei ein Tagesverdienst von KL 5.— heraussehen soll, muß sehr fleißig und mehr als acht Stunden gearbeitet werden. Dasselbe gilt für die Schürzenindustrie, hier werden pro Schürzenähen 50 Heller gezahlt. Ebenso sind bei den Heimarbeiterinnen der Kunstblumenindustrie durchschnittlich Tagesverdienste von 4 bis 5 KL die Regel. Sehr kraß liegen auch die Verhältnisse in der Musik- instrumentenindusirie von Graslitz und Schönbach. So wird zum Beispiel für die Anfartigung von einem Dutzend Gei» gvnbödon aus Ahorn, die mit der Hand geschnitzt werden, ganze KL 10.— gezahlt, das ist gute zwei Tage Arbeit bei zehn- bis zwölfstündiger Arbeitszeit. Ein Dutzend Geigendecken, die aus weichem Holz hergestellt werden können, wird mit 5 bis 6 KL bezahlt. Ein Dutzend geschnitzte Geigenhälse aus hartem Holz mit 10 KL, das ist ebenfalls zwei Tage harte Arbeit. Ein starker Verfall der Löhne ist auch in der Gablonzer Industrie eingetreten, wo es zum Teil auch zu Tagesverdiensten von 3 und 5 KL gekommen ist, in der Nixdorfer Messerindustrie, in der Spielwaren- und Handschuhindustrie in Kaaden und Mertham. * Neben dem Elend und der Verzweiflung zehntausender deutscher Arbeitsloser gibt es also auch Hunger, Elend und Hoffnungslosigkeit von Arbeiterschichten, die zwar Arbeit haben, aber auf einem wirtschaftlichen Niveau leben, das nicht mehr als menschlich bezeichnet werden kann. * Unhaltbares Lohnniveau. In dem unter diesem Titel gestern erschienenen Artikel haben sich zwei Druckfehler eingeschlichen Bei dem einen handelt es sich um den Preisindex. Es soll richtig heißen: Der Index der Lebenshaltung einer Ar- heiterfamilie betrug im April 1935 684, im April 1936 aber 707, nicht, wie es fälschlich heißt: im April 1934 und 1935. Außerdem soll es heißen, daß es Weberfamilien gibt, die bei 14stündiger Arbeitszeit nicht mehr als KL 160.— monatlich verdienen, nicht wie in dem Artikel stand, KL 100.—. Der neue Kameradschaftsbund Die Ereignisse in der Sudetendeutschen Partei laffen deutlich erkennen, daß Dr. Walter B r a n d, um den der Kampf in erster Linie geht, vom„Führer" Henlein nicht allein der besonderen Qualifikation wegen gehalten wird, sondern daß diesen Dr. Walter Brand Kräfte stützen, die ebenso mächtig, wie unsichtbar sind. Und es ist die Annahme nicht won der Hand zu weisen, daß die Männer des Kameradschaftsbundes, die die SdP und deren Führer beherrschen, in dieser Angelegenheit das entscheidende Wort gesprochen haben. In der Führung des Kameradschastsbundes aber, der die SdP nur als das Instrument seiner hochfliegenden Pläne benutzen will, sitzt derselbe Dr. Walter Brand , der zu den unbeliebtesten Männern der SdP gehört, ja, man muß ihn als den sudetendeutschen Chef des Kameradschaftsbundes bezeichnen. Der Mann, den in der SdP ein Sturm des Hasses und der Abneigung umbrandet, ohne daß ihn dies irgendwie anficht, bleibt dort sitzen aus jener Diachtvollkommenheit, die die Männer des Kameradschaftsbundes in der SdP für sich in Anspruch nehmen. Zwar hat die„Zeit", das Sprachrohr der Brand-Gruppe, vor kurzem behauptet, der Kameradschaftsbund existiere nicht mehr. Und die „Zeit" hat scheinbar auch recht. Aber nur scheinbärl Denn der Kameradschastsbund lebt unter anderem Namen weiter. Die tschechische Zeitschrift„Piitomnost" bringt dafür in ihrer letzten Ausgabe stichhaltige Beweise, Der Kameradschaftsbund beschloß im Feber 1934 seine Selbstauslösung. Diesem Beschluß war die Verhaftung einiger führender Männer dieses Bundes vorausgegangen und die Selbstauslösung sollte das drohende Verbot der SHF verhindern. Als jedoch, im Frühjahr 1935, die SHF wieder Oberwasser zu haben glaubte, taten sich auch die Männer des Kameradschaftsbundes wieder zusammen: in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in Bad Ullersdorf wurden neue Satzungen und ein neuer Name für die alte Gemeinschaft beschlossen; der Kameradschaftsbund übernahm die Bezeichnung„Bund sirr politische und gesellschaftswissenschaftliche Bildung und Erziehung". Es handelt sich hier um die Bildung einer ausgesprochenen Geheimorganisation, wofür die Tatsache bezeichnend ist, daß seinerzeit, als über diese Ullersdorfer Zusammenkunft Nachrichten in die Oeffentlichkeit drangen, das Material in panischer Eile beiseite geschafft wurde. Die„Bundessührung" des neuen Kameradschaftsbundes besteht aus 15 Leuten, wovon fünf in Oesterreich und zwei in Deutsch land leben. Daneben gibt es nach den Satzungen einen„Engeren Kreis", dem auch einige andere Führer angehören und einen„Weiteren Kreis", der die übrigen Mitglieder umfaßt. Wir finden in der Bundesführung gute Bekannte: Walter Brand , Hans Neuwirth, Oskar Kuhn , Friedrich Köllner, Wilhelm Sebekowsky , Heinrich Rutha , Franz May , Ernst Kundt . Dem„engeren Kreis" gehören u. a. Robert Hetz und Toni Müller an, die Verderber des Bundes der Landjugend, dann Wilhelm Rümmler, Eduard Schmued, Karl Her mann Frank . Es ist auffallend, daß nicht nur keiner dieser Herren in dem Streit Kasper—Henlein auf Seiten Kaspers kämpft, sondern, daß die meisten in der Niederschlagung der„Rebellion" hervorragend beteiligt sind. Wer macht Ordnung? Der Kameradschaftsbund! Die„Pkitomnost"^nag schon recht haben, wenn sie sagt, daß die Hauptaufgabe des Bundes in der Aufrechterhaltung der Diktatur innerhalb der SdP und der Beziehungen mit reichsdeutschen und österreichischen Stellen besteht. Der Krach in der SdP seht weiter Bei einer Amtsleit«rtagnag der SdP in G ö r k a u berichtete u. a. der Abg. Liebt über de« Konflikt in der Partei. Die Tagung sprach, laut Bericht des„Pr. Tgbl.", L i e b l und Kasper ihr Vertrauen aus und sandte eine« Brief an die Hauptleitung der SdP in Eger , in dem die E n t l a s s u n g Dr. Brands aus allen Acmtern gefordert und die Amtsenthebung des Bezirksleiters Bock und des Bezirks-Arbeitcrstandesvertrc- ters Kreißt nicht zur Kenntnis ♦ ♦ ♦ SdP-Rebeiiion im Graslitzer Bezirk Wie in anderen Bezirken Westböhmens ist auch in den Kreisen der SdP-Anhängerschast des Graslitzer Bezirkes über die letzten Ereignisse innerhalb der Partei eine tiefgehende Erregung zu verzeichnen, die ihren Ausdruck in einer Aktion findet, Unterschriften für eine Sympathiekundgebung für Rudolf Kasper zu sammeln. Obwohl die Bezirksleitung in einer Kundmachung jede gesonderte Stellungnahme zu den jüngsten Ereignissen untersagt hat, kreisen im Graslitzer Bezirke die Prote st schreib en gegen D r. Brand, und die Zahl der Unterschriften soll bereits recht beträchtlich sein. Immer deutlicher zeigt sich auch die Scheidung der Geister insofern, als die Gegensätze zwischen dem Lager der in der SdP organisierten Arbeiterschaft und der. gleichfalls zu Henlein stehenden Unternehmer und Fabrikanten scharf in Erscheinung zu treten beginnen und daß in den Kreisen der Arbeitnehmer schon heute Propaganda für eine neue Partei, bzw. für den Anschluß an e in e d er b t st e h en den Parteien, die sich der I n t e r e s s e n der Arbei- t e r f ch a f t annimmt, betrieben wird. Zu Hevlein stehen nach wie vor die Fabrikanten und Unternehmer.. Kasper blamiert Sandner Einige deutschbürgerliche Blätter veröffentlichen eigen Artikel, in dem Rudolf Kasper zum erstey Male während des schweren Zevwürf- nisses in der SdP in der Presse Stellung nimmt. Kasper sah sich, wie er behauptet, zu seiner „Klarstellung." um so mehr gedrängt, als, wie er mitteilt, d i e d e r„R ü n d s ch a u" z u g e- gcnommen wird. Bock ist tagsvorher seines Amtes enthoben worden, weil er es abgelehnt hat, das Treue- gelöbnis für Konrad Henlein z« erneuern. Auch in Brüx fand eine Tagung von SdP- Funktionären statt, die eine Sympathiekundgebung für Kasper beschloß. Die Ortsgrnp» Penleiter von O l m L tz und Gießhübel bei Olmütz haben der Hauptleitung ihre Resignation bekanntgegeben. gangenen Presseberichtigungen von dieser Redaktion nicht veröffentlicht wurden. Sodann stellt Kasper fest, daß bei allen jenen Personen, die S a n d n e r in seinem Brandartikel vom 6. Juni als Rebellen bezeichnete, dem Läute- rungskommisiär der Beweis, sie seien schwer beschuldigt, nicht geglückt sei. Kasper sucht das an der Behandlung der Fälle Haider, Smagon, Brehm, Dr. Kreißl und Liebl nachzuweisen und schließt mit der Feststellung, daß die Behauptungen Sandners„ungeheures Unheil" angerichtet hätten. Nach Herrn Sandner also haben die genannten SdP-Amtswalter die„offene Rebellion" in der SdP auf dem Gewissen, nach Herrn Kasper aber sind sie alle zumindest innerhalb der SdP die reinen Lamperln. Die Wahicheit dürste ungefähr in der Mitte liegen: die Rebellion ist da, die Genannten sind an ihr nicht unschuldig; aber wo die„Besseren" in diesem Kampf zu suchen sind, steht immer noch dahin... Vie flucht aus der Henlelnpartel Herr Theuer, Bezirksvertreter der SdP in Znaim , hat Herrn Jilly in einem Schreiben mitgeteilt, daß er seine Funktion„aus Gesundheitsrücksichten" zurücklege. In Privatgesprächen hat aber Herr Theuer eine andere, etwas drastischere Begründung angegeben. Die Wahrheit ist', daß Herr Theuer seine Funktion niedergelegt hat, weil er von der unfruchtbaren Politik der Henleinpartei maßlos e n t t ä u s ch t' und über die Wirtschaft, die in dieser Partei herrscht, maßlos erbi'tt e rt ist.'Man sieht: nicht nur die„stürmifche Jugend", auch, das gereifte Alter kehrt der„Volksgemeinschaft" angewidert den Rückens 4 Es ist übrigens bekannt, daß die- gegenwär- tige Auseinandersetzung innerhalb der SdP nicht die erste ist: im vorigen Jahr hat der„Aufbruch"« Kreis der Parteiführung zu schaffen gemacht, aber auch die„Bereitschaft", der Kreis um Patscheider, trat als Konkurrentin des Kameradschaftsbundes auf. Die Bereitschaft wurde bezeichnenderweise durch eine Denunziation erledigt. Zwar ist nicht.bekannt, wer denunzierte, aber dem Kameradschastsbund war geholfen. Der Tätigkeit der „Bereitschaft" wurde durch den Patscheider-Prozeß ein Ende, gesetzt. Der Kameradschaftsbund hat auch in den Kreisen der reichsdeytschen Na-
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16 (19.6.1936) 143
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