Nr. 143 Freitag, 19. Juni 1936 Seite 5 Der Schüler der„Weisen von Zion** Soeben erschien in der Verlagsanstalt i „Graphia", Karlsbad , eine außerordentlich interessante Schrift: Adolf Hitler , Schüler der „Weisen von Zion ". Der Verfasser ist A l e x- ander Stein. In dieser Schrift wird nachgewiesen, daß die Regierungsmaximen Hitlers den.Protokollen der Weisen von Zion" entstammen, einem Machwerk übelster Art, das sich an Machiavellis»Buch vom Fürsten" an- lehnt und zugleich die Grundlage der antisemitischen Hetze ist. Wir drucken hier das Kapitel „Von Machiavelli zu Hitler " ab. Die Gegenüberstellung der„Protokolle der Weisen von Zion " mit der Theorie und Praxis des Dritten Reiches zeigt die Aehnlichleit ihrer sittlichen und staatspolitischen Aufsagungen zwingend auf. Die Aehnlichleit ist keineswegs zufällig. Sie entspringt der Tatsache, daß der nationalsozialistische Diktaturstaat sein Vorbild im Frankreich des dritten Bonaparte, im russischen Zarismus und auch im fürstlichen Absolutismus des 15. und 16. Jahrhunderts in Italien findet. Es könnte als Kuriosität erscheinen, dem Machwerk der„Protokolle", aus der Fälscherwerkstatt russischer Geheimpolizisten und ihrer französischen Komplicen, große politische Bedeutung beizumessen. Aber diesem scheinbaren Kuriosum liegt eine tiefe geschichtliche Tragik zugrunde. Der zur Macht drängende Nationalsozialismus vermochte auf der Suche nach einem Lehrbuch des Staatsstreiches und des Diktaturstaates keinen besseren Leitfaden zu finden, als die„Protokolle", in denen unter dem Wust hineingefälschter Angriffe gegen das internationale Judentum die scharfgeschliffenen Ratschläge hervolleuchten, die Machiavelli in seinem„Buch vom Fürsten" dem Florentiner Lorenzo vom Medici erteilte. Das Buch Machiavellis gilt seit Jahrhunderten als die formvollendetste Zusammenfassung jener amoralischen staatspolitischen Grundsätze, die, aus der Banditenpolitik der einander bekämpfenden italienischen Fürstentümer des 15. Jahrhunderts herausgewachsen, zum Leitfaden aller Diktatoren, Thronprätendenten und politischen Abenteurer wurden. Die Gedankengänge dieses Buches kommen, mitunter wörtlich, auch in den„Dialogen" von Ioly, der Urschrift der .Protokolle", zum Vorschein, in denen»— unter Anlehnung an das berühmte Werk von Mon tesquieu ,„Der Geist der Gesetze", das eine Satire auf den französischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts darstellte,— die Auffassungen Machiavellis denen des Vorkämpfers des moder-. nett Rechtsstaates gegenübergestellt werden, um so den Staatsstreich und die Diltaturmethoden Na poleons III. ins Lächerliche zu ziehen. ..Diese Satire^ ist—^tbeoreUsch upd pratsch ■— von den Agtionglspzialisten übertroffen worden, die bei den„Generalspitzbuben aus dem Orient" in die Lehre gingen, um das deutsche Volk um seine politische Freiheit zu prellen. Ausgerüstet mit diesen machiavellistischen Erkenntnissen, haben sie die Herrschaft des Rechts gestürzt, die Gleichheit vor dem Gesetz vernichtet, die Rechtsprechung zur Farce gemacht, die Presse, die Schule, die Kirche in Instrumente ihrer Tyrannei verwandelt. Sie haben den Geist der Spitzelei, des Denunziantentums und der Gewalt großgezüchtet und in ihrer inneren und äußeren Politik dieselben Methoden der Hinterlist und Heuchelei zur höchsten Geltung gebracht, die Machiavelli seinem Fürsten empfohlen hat. Alfred Rosenberg ist zwar in seinem »Mythus des 20. Jahrhunderts" voll sittlicher Entrüstung über Machiavelli : .Trotzdem er gegen die Kirche für einen italienischen Nationalstaat kämpfte, trotzdem das Geschäft der Politik zu allen Zeiten nicht gerade eine Schule grundsätzlicher Wahrhaftigkeit gewesen ist: ein derartiges, nur.auf menschliche Niedertracht aufgebautes System und ein; grundsätzliches Bekenntnis dazu ist keiner nordischen Seele entsprungen."(S. 67/8.) Das hat aber Rosenberg, ebensowenig wie Hitler gehindert, das„nur auf menschliche Niedertracht" aufgebaute System Machiavellis, das tragende Gerüst der„Protokolle", zur Grundlage ihres politischen Wirkens zu machen. Die gleichen Ziele: Eroberung der Macht, Beherrschung des Volkes, Ausbreitung des Herrschaftsgebietes, führen zur Aneignung der gleichen staatspolitischen Grundsätze. Die Gleichartigkeit der politischen Tatsachen und der ihnen zugrunde liegenden sozialen Machtverhältnisse führt notwendigerweise auch zur Gleichartigkeit der Ideologien, die diese Tatsachen verbrämen. Machiavelli schuf sein System der Machtbehauptung an der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts in einem von inneren Wirren zerrissenen Lande, in einer Zeit, in der der zentralisierte monarchistische Staat gegenüber der korrupten und skrupellosen Politik der kirchlichen und fürstlichen Machthaber noch eine geschichtliche Aufgabe zu erfüllen hatte.'Vier Jahrhunderte später zeigt die Anwendung des gleichen Systems in einem Linde mit festgefügter Rechtsordnung, hoher Kultur unweit ausgebauter politischer Demokratie, daß die Bankrotteure des Kapitalismus und die Repräsentanten des kriegerischen Alldeutschtums in das dunkelste Mittelalter flüchten müssen, um ihre Herrschaft aufrechterhalten zu können. Zu diesem politischen Kernpunkt kommt aber in der Wirklichkeit der deutschen Konterrevolution, die sich als„nationalsozialistische Revolution" maskiert, ein weiterer hinzu: Der neue deutsche Absolutismus bedarf zur Behauptung seiner»Totalität" und zur Rechtfertigung seines militärischen und politischen ErpansionSdranges eines agitatorischen Ansatzpunktes und einer neuen weltpolitischen Konzeption. Er findet beides in der von ihm geschaffenen Legende einer.drohenden jüdisch-marxistischen Weltherrschaft, zu deren Ab-' wehr Judentum und Marxismus ausgerottet und ein arisch-germanischer Herrenstaat geschaffen werden müsse, der an di- Spitze des Kreuzzuges gegen den Bolschewismus zu treten habe. Hitler — als Vorkämpfer dieses neuen Absolutismus — benutzt das von ihm als Lehrbuch des Staatsstreichs verwendete legendäre Kampfprogramm dts inter - nationalest Judentums nicht nur für.seinen Ausrottungskrieg im Innern, sondern auch zur Maskierung des Feldzugs des neudeutschen Imperialismus gegen die ganze Welt. Volkswirtschaft und Sozialpolitik Aus der Praxis der Bau- und Zwecksparkassen Es wurde bereits in den Tageszeitungen berichtet,'' daß der Direktor der Schreckensteiner Und WarnSdorfer Bau- und Zweckspar-Genossenschast vom KreiSgericht Leitmeritz wegen Betruges verurteilt wurde. Interessant sind die Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen über die Bau- und Zwecksparkassen, die, weil sie auf ein„Schneeballsystem" aufgebaut sind, betrügerischen Charakter annehmen. In dem Gutachten des JllDr. Walte r-Tep- litz wird zunächst festgestellt, daß die WarnSdorfer Genossenschaft keinerlei AnfangSvermögen besaß. Ausgaben und Zahlungen konnten nur insoweit geleistet werden, als Zahlungen neuer Kreditsuchender eingingen. Jeder Darlehenswerber hatte bei Antragsstellung 250 KE zu entrichten. ES konnten gleichzeitig mehrere Darlehensbewilligungsanträge gestellt, doch mußten dann für jeden Antrag 200 KE Gebühr gezahlt werden. Die Verwaltungökosten wurden bei der Endabrechnung der Darlehensgewährung abgezogen, die anderen Einzahlungen verfielen auf jeden Fall. Von den geleisteten Sparraten(Einzahlungen vor der Darlehensbewilligung) wurden im vorhinein je zehn Prozent auf Verwaltungskosten, fünf Prozent auf Ausgleichsquote und je drei Prozent des nachgesuchten Darlehensbetrages auf Werbekosten verrechnet. Die Werbekosten mußten auch dann gezahlt werden, wenn eine Darlehenszuteilung nicht erfolgte. Die Werbekosten betrugen in Schreckenstein im Jahre 1988 72.044 KE. Das geringste Darlehen war mit 5000 KE, die kürzeste Immer neue SchünheitskSniglnnen Eine der vielen, in England am laufenden Band hergeftellten Schönheitsköniginnen. In diesem Falle zeigte die Jury immerhin einen guten Geschmack. Wartezeit mit drei Monaten festgesetzt, normal mit zwölf Monaten., Ditz Wartezeit, konnte aber nur dann eingehakten werden, wenn entsprechende Gelder' zur Verfügung standen, was aber Weber in Warnsdorf noch.in Schreckenstem der, Fall war. Da keine entsprechenden Geldmittel zur Verfügung standen, ergab sich der zwingende Schluß, daß die Tätigkeit der Genossenschaften darauf aufgebaut. war, aus den Einzahlungen neuer Antragsteller die ersten Darlehenssucher zu befriedigen. Es handelt sich also um ein plumpes Schneeballsyftem, das in kurzer Zeit zum Zusammenbruch führen mußte. Bei der WarnSdorfer Genossenschaft, die Anfang 1985 liquidiert wurde, wurden in der kurzen Zeit ihres Bestehens bei 199 Mitgliedern von 177 Mitgliedern 124 Kreditbewilligungsanträge auf 2,471.000 KE gestellt. Tatsächlich erhielten in der Mindestwartezeit nur 89 Mitglieder nicht einmal. den zehnten Teil der geforderten Darlehen, wobei für die geleisteten Darlehen von 181.718 KE die Spesen 182,931 KE betrugen. Bei der Schreckensteiner Genossenschaft hätten bis 30. Juni 1935 auf Darlehensanträge 545.000 KE ausbezahlt werden müssen, während an flüssigen Mitteln nur 1070.45 KE vorhanden waren. Bei der WarnSdorfer Genossenschaft betrugen die Verpflichtungen der Anträge über je 10.000 KE allein 806.000 KE, während die Bilanz vom 31.- Dezember 1933 eine Barschaft und Bankguthaben von 13.411 KE aufweist. Von August bis Jahresende 1933 konnten nur 16.425 KE als Darlehen ausgezahlt werden, trotzdem wurden im Jahre 1934 noch Anträge auf größere Darlehen ange^mmen, so daß die Verpflichtungen sich auf eine M^awn KE, erhöhten. Darlehen wurden nur in Höhe von 129.166 KE ausgezahlt. Zum Semesterschluß war ein Bar- und Bankguthaben von 5628,15 KE vorhanden. Um dieses magere Ergebnis der Darlehensgewährung zu erzielen, war ein Kostenaufwand von 21.226 KE im Jahre 1933 und weiterer Aufwand von 40.878 KE im ersten Semester 1934 zu verzeichnen, der sich durch den Ankauf eines Autos auf rund 68.000 KE erhöhte. Obwohl im zweiten Semester 1984 noch fast 800.000 KE Darlehenswerbungen eingingen, stiegen die DarlehensauSzahlungen nur um 12.500 KE. Der Aufwand für eine Kreditgewährung von 12,500 KE belief sich auf 56.904 KE. Im Jahre 1934 gab eS bereits Zivilstritte wegen Nichteinhaltung der Darlehenszahlungen und der geforderten Rückzahlung der Spar- und Tilgungsraten. DaS Gericht in Böhmisch-Leipa stellte in erster und zweiter Instanz fest, daß die WarnSdorfer Genossenschaft vom Kläger Gebühren herausgelockt hat, indem sie ihm vorspiegelte, daß sie in der Lage sei, ein Darlehen zu gewähren. Beide Genossenschaften werden jetzt liquidiert. Man rechnet bei der WarnSdorfer mit einer 70pro- zentigen, bei der Schreckensteiner mit einer 50pro- zentigen Auszahlung und dem gänzlichen Verlust der Anteile. Die i. I. 1922 errichtete vor der Liquidation stehende Schreckensteiner Genossenschaft war von dem verurteilten Direktor zur Gründung der eigenen Existenz benützt worden. Sie war auf ganz anderen Voraussetzungen aufgebaut als die WarnSdorfer. Es war eine sogenannte zinsfreie Bausparkasse. Der Umsatz war verhältnismäßig gering. Bis Ende 1934 - wurden 110.901 KE eüigehobeu und bis auf die Re» 4^9 serven von 25.219 KE. verbraucht. Für 165.811 KE' gewährte Darlehen wurden 85.000 KE aufgewendet. Auch hier handelte eS sich um daS plumpe Schneeballsystem- Bis zum Jahresschluß betrugen die Ansprüche der Mitglieder 1,759.994 KE, an flüssigen Mitteln waren 1763 KE vorhanden., Hierbei darf nicht übersehen werden, daß 23 Mitglieder ihre Anträge auf 1,859.500 KE Darlehen gekündigt hatten und daher der Genossenschaft die hieraus entfallende Gebühr zukam. ohne daß sie dafür eine Leistung aufbringen mußte. Die Schreckensteiner Genossenschaft arbeitete seit dem 18. Mai 1938 ohne Betriebskapital und es hatten bis Ende 1934 rund 100 Mitglieder Kredite in der Gesamthöhe von 8,799.500 KE angefordert. AuSgezahlt wurden tatsächlich Darlehen in Höhe von 155.811.70 KE. Im allergünstigsten Falle hätte die Genossenschaft ein Drittel der Ansprüche befriedigen können. Sie hat passiv gearbeitet und der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Erfolg. Madrid diM■. Von Arnold Heilbut» Madrid . Um es gleich summarisch abzumachen: die spanische Hauptstadt war wochenlang ohne Bier, ohne Eis, ohne Fahrstühle, von anderen Dingen ganz zu schweigen. Bier, Eis und Fahrstühle find drei'wichtige Faktoren im öffentlichen Leben Madrids . Es wird hier viel Bier getrunken, gutes Bier, von deutschen Braumeistern gebraut. Nun, man kann es schließlich entbehren. Es gibt ja so viele andere erfrischende Getränke. Weniger entbehrlich ist schon Eis. Mit dem fehlenden Roheis(hielo) verschwinden auch die vielen leckeren Sorten von Gefrorenem(mantecado). Sehr betrübend für die„senoritas", die davon erkleckliche Portionen zu vertilgen pfleaen. Immerhin, auch das ist schließlich zu verschmerzen. Ganz schlimm aber ist die Sache mit den Fahrstühlen. Madrid ohne Fahrstühle— das kommt einer Katastrophe gleich. Man hat hier nämlich eine Vorliebe für sehr hohe Häuser und nennt sie— etwas renommistisch »rascacielos"(Wolkenkratzer). So ein Wohnhaus hat gewöhnuck seine fünf bis sechs Stockwerke. Aber das ist eine Falle. In Wirklichkeit sind eS acht bis neun. Denn da gibt es erstens: den Zwischenstock(entresuelo), zweitens: den Hauptstock(Principal) und dann teilt man noch die einzelnen Stockwerke häufig in a, b, c auf. Broürä« ger, Briefträger, Dienstmädchen, Zubringer haben es nickt leickt in diesen Tägen. Ihre Tagesleistung im Treppensteigen ist eine recht beträchtliche Alte Leute und Kranke sind tatsächlich zu erstem Hausarrest verurteilt, 120 bis 150 Stufen zu erklimmen, ist für sie unmöglich. Aber es wird alles mit Geduld und Humor ertragen. Ter Spanier ist Fatalist. Mit den kleinen Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens findet er sich achselzuckend ab. Die Madrilcner leiden augenblicklich unter der Streikwelle, die das ganze Land, besonders aber die Hauptstadt, überflutet. Die gesamte Arbeiterschaft kämpft um neue Arbeitsbedingungen und neue Löhne. Der Kampf ist hart und zäh. Was die Arbeiter jetzt nicht erringen, werden sie später nie mehr erreichen. Diese Wochen sind daher entscheidend. Die Bevölkerung, soweit sie mit den Arbeitern sympathisiert, nimmt die Unannehmlichkeiten stillschweigend in Kauf. Sie bezeigen damit eine vorbildliche Solidarität.. Eben jetzt geht der große, wochenlange Streik der Kellner zu Ende. Wochenlang waren fünf der größten Cafts von Madrid geschloffen. DaS will etwas« bedeuten, denn was fängt der Madrilekier ohne sein geliebtes Cafe an, wenn er schon nicht zu den„toros", d. h. zum Stierkampf gehen kann.(Auch die Stier« kämpfer haben eine Zeitlang gestreikt.) Einige Cafes und Bars hatten auch während des Streiks geöffnet, die Gäste wurden dort von dem Inhaber selbst und seinen Familienmitgliedern bedient, Oder der Besitzer hatte sich irgendwie, ohne den Schiedsspruch abzuwarten, mit seinen Angestellten geeinigt. Sie waren aber nur spärlich besucht und mußten von„guardias"(Schutzleuten) bewacht werden. Man nahm den Kaffee stehend am Pult — Kaffee unter Bedeckung. Das darf man nicht ohnes weiteres als Streikbruch ansehen. Ohne Kaffee ist der Spanier nur ein halber Mensch, ganz gleich,, ob Bürger oder Proletarier. Er kann eher auf das Essen verzichten als auf seinen Kaffee. Der Streik der Kellner ist nur teilweise beigelegt. Diejenigen, die in der UGT(Union general de trabajadores), der sozialistischen Gewerkschaft, organisiert sind, haben die neuen Tarife angenommen und arbeiten wieder. Die übrigen, die der CNT(Confederaciün national de trabajadores), der kommunistisch eingestellten Gewerkschaft angehören, verharren im Streik, weil sie die Löhne als unzureickend ansehen. So kommt es, daß die großen Cafes, deren Personal zur Hälfte der UGT und zur Hälfte der CNT angehören, schon um 12 Uhr schließen müssen, weil die Ablösung fehlt. Ohne Bier, ohne Eis, ohne Fahrstuhl, ohne „toros"— schlimm, sehr schlimm, aber schließlich und endlich ein vorübergehender Zustand. Jedoch ein anderer Mißstand, der nicht so leicht zu beheben sein wird, der allerdings nichts mit dem Streik zu tun hat, ist von weit schwerwiegender Bedeutung. 62.000 Kinder sind heute noch ohne Schule in Madrid . Mit anderen Worten: in der Hauptstadt der spanischen Republik wachsen 62.000 Kinder ohne jeden Unterricht auf. Dazu muß man noch ungefähr 27.000 Kinder zählen, die zur Zeit noch in^geistlichen Schulen unterrichtet werden. Daß diese siebenun^waNzigtausend nicht im Geiste der Republik erzogen werdest, liegt auf der Hand. Die Republikaner, Vie sich die Errichtung moderner«weltlicher Schuten besonders angelegen sein lassen, sehen sich einem, schweren Problem gegenüber. Man wird fick damit behelfen müssen, zunächst einige leerstehende Lokalitäten zu mieten, in denen man provisorische Schulen einrichtet. Denn es muß unter allen Umständen vermieden werden, daß sich Tausende von Kindern auf der Straße herumtreiben, allen Gefahren der Großstadt ausgesetzt. Ohne Zweifel vermochte man bei der Einrichtung neuer Schulen nicht Schritt zu halten mit dem Wachsen Madrids . Die große Bewegung, die jetzt durch die gesamte Arbeiterschaft Spaniens geht, verlangt aber gebieterisch eine schnelle und gründliche Lösung dieser brennenden kulturellen Frage. Nicht günstige Arbeitsbedingungen und bessere Löhne allein sind eS, die den„obrero " zu einem höheren Lebensstandard verhelfen, auch daS kulturelle Niveau des spanischen Proletariers bedarf einer umfassenden Hebung. Unter der Heranwachsenden Generation darf kein einziger Anal- I phabet mehr zu finden seim Dieses„ohne", diese : Sckullosigkeit, unter dem Madrid zu leiden hat, I ist zweifellos das Schlimmste.— Aber noch etwas fehlt Madrid , allerdings ohne daß man es entbehrt. Madrid ist ohne Bettler! Die furchtbaren Belästigungen in den Straßen Madrids , zu einer wahren Plage ausgewachsen, bestehen nicht mehr. Man kann auf den Veranden der Cafts ruhig sitzen, ohne jede Sekunde in der unverschämtesten Weise angebetrelt zu werden, man kann unbelästigt-die-Eingänge der Metro passieren, man braucht auf der Straße teigen allzu Aufdringlichen mehr- abzuschütteln und braucht schließlich nicht' mehr vor Ekel über die grauenvollen Entblößungen der Krüppel die Augen zu schließen. Die Straße ist rein von Bettlern, Krüppeln und Blinden . Das Verdienst darf der frühere Bürgermeister von Madrid , Salazar Alonso , für sich in Anspruch nehmen. Weitere Verdienste hat er allerdings auch nicht aufzuweisen. Man hat diese Elenden in großen Heimen(paraues de los mendigoS) untergebracht, wo sie gut verpflegt und gewartet werden. Nach Maßgabe ihrer körperlichen Kräfte haben sie dafür Arbeiten zu leisten. Es hat harter Kämpfe und in vielen Fällen Anwendung von Gewalt bedurft, diese Menschen von der Straße zu bringen. Sie haben lieber der Kälte, dem Regen oder dem glühendsten Sonnenbrand getrotzt, als sich der Obhut der Behörden anzuvertrauen. Auch die Bettelei kann ein Berits sein, und manchmal vielleicht nicht der schlechteste. Bei dem ausgesprochen mildtätigen Sinn der Spanierin ist so ein fester Posten vor einer Kirche entschieden kein schlechtes Geschäft gewesen. Kirchen gibt es genug in Madrid und Messen werden von früh bis spät gelesen. Bei der noch heute hier und da sich vorfindenden Verach, tung der Arbeit ist diesen Menschen eine erbettelte Peseta lieber als fünf durch Arbeit verdiente. Die empfangene„limosna"(Almosen) quittiert man mit einem gemurmelten„dios se lo pague"(Gott wird es lohnen), das kostet keine Anstrengung, aber den Tageslohn müßte man mit schwerer Arbeit bezahlen— dies no quicra(Gatt behüte).
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16 (19.6.1936) 143
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