Sekte 2Mittwoch, 24. Juni 1938Nr. 147Die DerwaltungAll Nlm MMIIlkll, WlirtklllkimD Snferenten!Anläßlich de» Feiertages(Peter und Paul)wird am Montag, den 29. Juni, nichtgearbeitet, so daß unsere Dienstagausgabeentfällt.Parteiführer, wie er die»Emigrantenpresse" beschützt. Das rassistische Bekenntnis der SdPäußerte sich in einem Bild, ans dem der SchattenNapoleons hinter einem spielenden Negerkind dargestellt wird; der»Karikaturist" läßt den Schatten sagey:„Mon dien, wie haben sich die Franzosen geändertl" Das ist die These von der„Ber-negerung" Frankreichs, die sich in»Mein Kampf"und bei Rosenberg findet. Auf einem anderenBild wird dargestellt, wie ein armer Vater mitseinem Kinde einer jüdischen Familie begegnet,die sich'» gut gehen läßt. Der krummnasige. rotangestrichene„Chef des Hauses" tafelt gerade imFreien: man sieht den Wein und den Braten, dieihn labten, er liest den„Sozialdemokrat", an den IFingern seiner gutgenährten Frau glitzern dieBrillantringe, im Hintergrund steht das kostbareAuto, mit denen sie ins Freie fuhren. Sagt derJunge zum Vater:„Vater, sind das auch Genossen?" Vater:„Ja, Kind, aber denen geht esdiel schlechter als un», das sind arme Emigranten." Ordinärer ist auch der Goebbels nicht. Undinmitten dieser Niedrigkeiten steht ein großgemalter Ausspruch des Führers, des Mannes alsi),von dem seine Untergebenen nicht genug versichern können, daß er anständig und sauber ist— als ob sich daS für einen Politiker nicht vonselber verstünde!—:„Unserem volksbewußtendeutschen Pressewesen und den guten, in unseremVolke wurzelnden Zeitschriften gebührt unserD a n k I" Als Ueberschrift schlagen wir vor:„Konrad Henlein dem Igel!" Es.scheint eben, seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und seines sudetendeutschen Ablegers,'verschiedene Auffassungen don Anständigkeit und Sauberkeit zu geben. Wir allerdingsdenken, daß es für diese Dinge nur ei neuMaßstab gibt.Der Führer stellte aus! Er hat die Ausstellung in feierlicher Ansprache eröffnet. Auch anseinen Fingern klebt der Schmutz, durch den sichdie SdP in dieser Ausstellung repräsentierte.Die Grenzzone festgelegtDurch die Regierungsverordnung 155/36Prag. Die Sammlung der Gesetze undVerordnungen vom 23. Juni veröffentlicht dieRegierungsverordnung Rümmer 15b vom 19.Juni 1936 über die Grenzzone und denUmkreis der befestigten und anderer für dieStaatevcrtcidiguug wichtigen Orten, d. i. direrste Durchführungsverordnung zum Staatsver-teidigungsgesetz.Die Berordnimg umfaßt vier Teile, vonwelchen der erste die BestimmungenüberdieGrenzzon« enthält. Die Grenzzone bilden in Böhmen 55, in Mähren-Schlesien22, in der Slowakei 48 und in Karpathorutzland12 politische Bezirke. Auf diese Bezirke beziehe«sich von nun an die im StaatsvevteidigungSgrsetzvorgesehenen Dtaßnahmen zum Schutze derSicherheit.Diese Grenzbezirke sind:a) in Böhmen: Neuhaus, Wittingau,Kaplitz, Kruman, BndwriS, Prachatitz, Schüttenhofe«, Klattau, Taus, Bifchoftrinitz, Mies, Ta-Wau, Tepl, Plan, Marieniad, Karlsbad, Elba gen,Eger, Asch, Falkenau, GraSlitz, Rrudek, JoachimS-thal, Pvehnitz, Kaaden,'Saaz, Komotau, Brüx,Bilin, Tür, Teplitz-Schökaü, Aussig, Leitmeritz,Tetschen, Schluckmaü,'Rumburg, Warnsdorf,Böhm.-Leipa, Deutsch-Gabel, Friedland, Reichenberg, Gablonz, Tnrnan, Semil, Starkenbach,Hohenelbe, Renpaka, Königinhof, Trautenau,Braunau, Rachod, Neustadt a. M., Reichenaua. Kn., LandSkron und Senftenberg.b) in Mähren-Schlesien: Hohenstadt, Mähr.-Schönberg, Freiwaldau, Jägerndorf,Freudenthal, Römerftadt, Troppan, Hultschin,Waagstadt, Mähr.-Oftrau, Freistadt, Tschrchisch-Teschen, Mistel, Friedel, Neutitschein, Göding,NikolSburg, Anspitz, Znai«, Kromau, Budwitzund Datschitz.Die Militärverwaltung ist nach Teil 2 810berechtigt, Orte z« bestimmen, die al» b e f e-st i g t anzusehen sind. Zum Umkreis einesFestungsgebietes gehört da« Gebiet bis zu 10Kilonieter Entfernung und das Gebiet inmittendes befestigten Ortes.Hier können Bauten nur mit Bewilligungder Militärverwaltung erfolgen, die festsetzt, inwelchen Teilen des Festungsgebietes überhauptkeine Bauten aufgeführt und in welchen Teilensolche Bauten nur nach Unterzeichnung des sogenannten Demolierungsreverseserrichtet werden dürfen, der den Bauherrn verpflichtet, über Aufforderung der Militärverwaltung jederzeit das Gebäude auf eigene Kostenabzutragen.Zu den besonder- geschützten militärischenObjekten gehören weiter» Militär- und andereöffentliche Flugplätze und Probeschießstätten vonWaffenfabriken samt einem Umkreis von 500Metern, MunitionS- oder Sprengstoffabrikemoder-Lager im Umkreis von 750 Dietern; Lagervon brennbaren Stoffen sowie Fabriken zur Erzeugung solcher Stoffe mit einem Umkreis von100 Metern, militärische Waffenlager und sonstige militärische Objekt« mit einem Umkreis von250 Metern.Die Verordnung 256 setzt fest, welche Erfindungen und Patente als kriegswichtig anzusehen und daher der Militärverwaltung anzumelden sind. Hierher gehören Kampfmittel, Mittel der passiven Verteidigung, Verkehrsmittel,Mittel zur Ernährung der Bevölkerung im Krieg,Erfindungen auf dem Gebiete des Straßenbauesund der Ersatzproduktion.Die dritte Verordnung(Nr. 257) enthälteine Aufstellung jener Gegenstände, die nur mitBewilligung der Militärverwaltung ein« oderausgeführt werden dürfen. Hiezu gehören Waffen, Munition, militärische Ausrüstungsgegenstände, Kampfgase etc.Die IV. Etappevom Standpunkt der niederen AngestelltenPrag. Der Senat arbeitete am Dienstagin einer längeren Sitzung eine Reihe von unerledigten Vorlagen, bezw. Parlamentsbeschlüffenauf und vertagte sich dann auf nächste Woche, inder noch die Steuerreform und die weiteren Vorlagen, die das Abgeordnetenhaus diese Woche verabschieden wird, angenommen werden sollen. Inden letzten Tage« der nächste« Woche wird dannauch der Senat in die Ferien gehen.Von Parlamentsbeschlüssen genehmigte derSenat die Verlängerung des Währungsschutzes, die Steuer von Kunstfetten unddie Gleichstellung der IV. E t a p p e der Staatspensionisten.Zu letzterer Vorlage sprach von unsererFraktion Genosse Grünzner, der sie vomStandpunkt der niedrigen Angestrlltenkategorieneiner sachlichen Kritik unterzog und sich vor allemauch mit den Wünschen und Beschwerden derEisenbahner befaßte, denen seine Lebensarbeit gilt.Genosse Grünz ner begrüßte es, dqßnun endlich mit derRechtsungleichheit in be»zag auf die PensionS-bemessungsgruudlageder StaatSbedienstüenaufgeräumt werden soll.Aber auch jetzt wird eSauf Grund der kompli zierten, im Berard-nungS- und Verwal tungswege erlassenenVorschriften noch immergewisse Unebenheiten ge ben. DaS wir» sich inkonkreter Form auch beider individuellen Durchführung der 4. Etappe erweisen.Alwensionisten waren zunächst nur jene Staatsangestellten, die vor dem 31. August 1919 in Pensiongegangen waren. In der Folgezeit kamen immer neueGruppen hinzu.'so daß«S schließlich fünf oder sechssolcher Gruppen gab, die immer wieder die Forderung nach Gleichstellung mit den Neupensionisten erhoben.Versprechungen wurde» ihnen damals von den bürgerlichen Parteien genug gemacht, aber niemand dachte an die entsprechendeBedeckung im Staatsvoranschlag. Erst als nach denWahlen des Jahres 1929 di« Sozialistenin die Regierung kamen, waren f i e eS, die ernsthaft an die Lösung dieses Problems schritten.Aul der Gleichstellung nach dem vorliegendenGesetz werden allerdings vor allem die h ö h e r e nBeamtengruppen«inen Gewinn haben. Ein großerTeil der Staatspensionisten wird aber von der Unifizierung nichts oder nicht viel haben,, dadie nunmehr erfolgenden Abzüge nach dem Gesetz204/32 und. der Verordnung 253/33 die Erhöhungkompensieren werden, wenn nicht gar noch eine Einbuße resultiert. An dem Doppelverdienertum wirdalso die I V. Etappe nicht viel ändern.Die Pensionisten b.egrüßen aber di«Vorlage, weil endlich mit der RrchtSuuglrichheitaufgeräumt und auch die Sicherheit grschaffeuwird, daß sie an künftige« Bezugsregelungen deraktiven Bediensteten teilhaden werden.Schon Kollege Brodecky hat darauf hingewiesen, wo der Ursprung zu suchen ist. daß die nie-dereu Kategorien aus der erfolgten Ueberleitungwenig oder gar nichts gewinnen werden. DasGrundübel liegt in dem Gehaltsgesetz Nr. 1.08/26, und was die Eisenbahnerbetrifft, in der Verordnung Nr. 15 auf Grund des8 210 des GehaltSgesctzes, in der der Essenbahn»dienst in den niederen Kategorien viel zu gering bewertet und namentlich das Gefahrenmoment gardpicht'beachtet worden ist.Genosse Grünzner geht dann auf die ll n-fallversorgung d'e r Eisenbahnbe«dienfteten ein, die gegenüber dem alten Oesterreich bedeutend verschlechtert, wurde. Damals unterlagen die Eisenbahner der sogenannten berufSge-noffenschaftlichen llnfallversicherungsanstalt. die aufGrund des KapitaldeckungSverfahrens die Rentenzahlle. Bei den tschechoslowakischen Staatsbahnengibt es keine Unfallversicherung mehr, sondern nureine Unfallversorgung, und eS wurde schon ab 1919die Unfallsrente mit der Pension zusammengelegt,während früher die Pension völlig unabhängig voneiner eventuellen Unfallsrcnte war. Bei uns ist derBezug beider an eine gewisse Höchstgrenze geknüpft;dadurch sind die Bediensteten geschädigt. Außerdemwerden jetzt die Unfälle schlechter qualifizier t als es früher der Fall war.Abschließend erklärte Genosse Grünzner. daßwir für die Vorlage stimmen, weil damit einemjahrelang unerfüllten Verlangen der Pensionistenendlich Rechnung getragen wird.(Beifall.)Zu diesem Punkt sprach weiters u. a. dertschechische Genosse B r o d e c k h. Ueber Antragder Referentin Plaminkova wurde auch eine Resolution einmütig angenommen, worin die R ü ck-verlegung des Zahlungsterminesfür die Bezüge der Staatsabgestellten und Pensionisten auf dem Ersten dcS MonatS gefordertwird.In der Debatte über die Kunstfettabgabe verurteilte die Opposition von dem Kommunisten Mikulicek bis zu dem ehemaligen Handelsminister Matouseek die Belastung der breitenKonsumentenschichten durch eine neue Verbrauchssteuer, bis sie der Referent Karas im Schlußwort darauf aufmerksam machte, daß die Vorlagekeineswegs den ärmeren Bevölkerungsschichten einwichtiges Nahrungsmittel verteuern, sondern lediglich einen Teil des Gewinnes der Kunstfettfabriken zugunsten des Staates wegsteuern will.E n h u b e r(SdP) klagte in bewegten Tönen darüber, daß seine Fraktion keine Zeit gehabt habe, entsprechende Abänderungsanträge vorzubereiten, und befaßte sich dann mit dem Bäderkonto, ohne auch nur mit der leisesten Andeutung daran zu rühren, daß wohl eigentlich dieHitlerrogierung, die den deutschen Staatsangehörigen kein Geld zum Besuch unserer Kurortezur Verfügung stellen kann, weil sie die Devisenbis zum letzten Heller für Rüstungszweckeverwendet, die größte Schuld an den unleidigenVerhältnissen auf diesem Gebiete hat. Die Fettabgabe selbst verdonnerte Enhuber erbarmungslos in Grund und Boden, ohne Rücksicht darauf,daß sie doch, wie jedes Kind weiß, in erster Linieauf die Initiative der sonst von der SdP so verehrten tschechischen Agrarpartei zurückzuführen ist.Es ist nur schade, daß nach solchen Wald- undWiesenreden nicht sofort jemand aas den Reihender Koalition den Herren von der SdP entsprechend antwortet und die schreienden Widersprüchezwischen Theorie und Praxis dieser Parteiaufzeigt.»Außerdem genehmigte der Senat noch zweiRegierungsentwürfe über die Behandlung vonForderungen gegen den Staat, die verpfändetoder zediert werden, und über die Organisierungder jüdischen Kultusgemeinden in den historischenLändern. Es handelt sich hier im wesentlichendarum, einer bereits bestehenden Spitzenorganisation einen gesetzlichen Rückhalt zu geben. Eineallgemeine Regelung für das gesamte Staatsgebiet scheiterte an dem Einspruch der orthodoxenJuden in der Slowakei und Karpathorußland.20Wir suchen ein LandRoman einer EmigrationVon Robert GrötzschCopyright by Eugen Prager-Verlag, Bratislava.Versunkene Stadt. Ueber den Häuschen fehlen nur noch Fische, die durchs Tief des dünn-gtlben Elements huschen. Weiße Wolken segelnhoch oben, fegen davon, die Sonne brichtüber die Bergkämme, wirft sich auf den Stromund irrlichtert weit drüben im anderen Lande aufeinem Flaschenbauch, dessen Rundung aus demWasser schimmert.Unaufhaltsam hat der Strom die Flascheweitergetragen. Manchmal hing sie an Steinender Uferränder fest, bis sie ein Wirbel löste unddie Wellen sie wieder in ihre weichen Arme betteten. Fische haben sie umspielt, unter die Schaufeln der Dampfer geriet sie und strudelte davon,neben Toten glitt sie einher, immer weiter hiqeinin das Land des Schweigens. Breiter wird derStroin und breiter. Mächtige Lasten schleppt erauf seinem Rücken zum Meere. Die Berge liegenweit hinter ihm, flach dehnt sich das Land. Tiefegrüne Wälder säumen die Ufer, an großen Städten zieht er vorüber.Ein heimlicher Bote, in Dünkel gehüllt, gleitet die Flasche, tanzt durch den Strudel eiligerSchiffe und schlägt hart, gegen das Holz einesKanus. Ein nackter Arm greift heraus und hebtsie ans Licht. Sieh da, sieh da.-. Der Mannzieht das Ruder ein, legt es quer über das schaukelnde Boot und hält daS gläserne Gehäuse gegendie Sonne. Helles Papier schimmert durch daSgrünliche GlaS, helles Papier IDer Mann greift in den Bauch des Kanus— langt ein Messer zutage, läßt den Korkzieheraufschnappen, entkorkt die Flasche und zieht daSPapier zutage. Es ist bedruckt mit verbotenenWorten, kündet Freiheit, Wahrheit, Menschlichkeit... Der Mann liest und liest von Menschenschändungen in Konzentrationslagern, von Betrugan einem Volle, dem man alles versprach, was eshören wollte. Nun wartet es und murrt, skrupellose Bonzen mit festen Ellenbogen bereichern sichan fremdem Eigentum, haben alle Versprechungenin den Wind geschlagen und erzählen dem Bolteaufgewärmte Märchen von kommenden schönerenZeiten— in hundert Jahren...Der Mann liest und liest. Manches wußte erschon, manches ist ihm neu. Die Röte steigt ihm indie Wangen, denn der Flaschenbote klagt auch ihnan. Ist er nicht Redakteur eines Blattes, das allesversprach? Auch er, Erich Meller, gehört zu denBetrügern, auch er heulte mit den Wölfen. Gewißhat er geglaubt, aber als er nicht mehr glaubenkonnte— was tat er? Ist er aufgestanden für seinen Glauben? Er hat mal da opponiert, hat malda, mal dort seine Kritik laut werden lassen undsich von seinen Kollegen etwas zurückgezogen.Aber er blieb, er klebte an der Futterkrippe derLüge.Das Kanu ist am Bootshaus augekommen,wird hineingetragen. Erich Meller streift das Trikot herunter, kleidet sich an, steckt die Flaschenpostin die Brusttasche, fährt in die Redaktion, verschließt das anklagende, bedrückende, gefährlichePapier im Schreibtischfach. Sein Gesicht hat diefrische Farbe des Vierzigers; der braune Schnurrhart hängt gestutzt unür der Nase, aber in denÄugen schleiern Müdigkeit und Unruhe. Durch dieNebenzimmer raffeln Telephone, er hört die Stimmen der Kollegen, seine Blicke aber laufen überden Schreibtisch hinweg, an der gelben Wandempor.Dort hängt ein Bild in schwarzem Rahmen.Ein alter Stich, wahrscheinlich aus einer Zeitschrift stammend, die Ränder schon etwas vergilbt.Auf einem Wagen steht ein Mann, wie zum Narrenfest geschmückt. Man hat ihm eine zerrisseneToga umgehangen und einen Strohkranz auf denKopf gestülpt, zwei Kriegsknechte halten neben ihmWache, sein schmales Gesicht ist angespannt, dieAugen glühen, seine Wangen sind vom Elend gezeichnet, an seinem Munde und den Gesten derHände erkennt man, daß er spricht. Die KriegS-knechte grinsen, der eine holt aus, als wollte erihm auf den Mund schlagen, der zweite schaut mitbehaglichem, breitem Lächeln in die Menge, dieden Wagen johlend begleitet.Redakteur Meller rührt sich nicht. Wie einMagnet zieht daS Bild seine Augen an. Seit langem schon und oft in den letzten Monaten. Wasist's? Was stellt es dar? Manchmal dünkt ihm,er hätte diesen Zug im letzten Jahr oft auf denStraßen gesehen. Wo ist der Mann, der vor ihmhier saß? Wo sind sie alle, denen diese Räumegehörten, ehe die ganze Zeitung ein Raub derWahlsieger wurde? Versprengt, im KZ manche,im Äusland andere.Lachen ertönt im Nebenzimmer. Der Politische kommt herüber, erzählt Meller die neuesteAnekdote. Zote, politisch garniert. Meller winktab, der andere schüttelt sich vor Lachen, verstummtdann, zuckt die Achseln, geht und denkt: der istauch bald für den Abbau reif... Meilers Blickwandert wieder zu dem Bild hinauf. Oft hat er'sansehen müssen, immer wieder. Wenn seine Kollegen wüßten, was das Bild bedeutet— es hättelängst von der Wand herunter gemußt. Diehaben's gut. Das Denken erscheint ihnen alsLuxus und das Lügen als heilige Sache. Das Bildhalten sie wohl für einen Karnevalsscherz..Leidenszug der Wahrheit" oder„Sieg der Gemeinheit" könnte darunter stehen.Er. zieht den Schreibtisch auf, greift wiederzur Flaschenpost und liest. Redet der Märtyreran der Wand nicht lauter, grinsen die Kriegsknechte nicht roher als vorher? Das Bild beginntzu leben, als sollte der Wagen aus den Rahmenfahren, mitten ins Leben hinein...Meller schließt die Post des Stromes wiederein, zieht«in Manuskript zutage. Es stammt vondem, der vor ihm hier saß. Ist ja mit dessen Namen gezeichnet. Eine Erzählung in der Ichform,eine Erinnerung aus der Zeit des Bismarck'fchenSozialistengesetzes: der Verfasser wandert in»Gefängnis, weil er Flugblätter ausgetragen hat,in denen Freiheit, Demokratie, Bolksrechte, gefordert worden. Als er das Gefängnis verläßt,ist die Rechtlosigkeit gefallen, ist wiedermal einStück Freiheit erkämpft...Meller senkt den Kopf.,. Dieser Erzähler hat für jene Rechte gelitten, die uns an dieMacht trugen, mich in diesen Sessel und den anderen, der ehedem hier saß wohin?Vielleicht in den Tod? Und jetzt? WaS haben wirmit diesem Sieg getan? Was haben wir erfüllt?Wieder zieht ihn das Bild hinauf. Das Gesicht des Märtyrers ist gezeichnet vom Wissen umdas Ewige seiner Kraft. Die Kriegsknechte, diejohlende Menge— erscheint das nicht wie Spreu,die vorm nächsten Sturm zerstiebt? Meller fühlteinen Druck um die Brust. Eines Tage- wird dashinweg sein, wie es gekommen, der Mann auf demWagen wird vom Pranger steigen und unser Richter sein... Und dann? Wer sitzt dann an diesemTisch hier? Derselbe, der vor mir da war und dessen Geist aus diesem Bilde spricht?Ein Redaktionsbote bringt Zeitungen. Mechanisch schlägt sie der Redakteur auf, knipst dieSchreibtischlampe an, das Bild sinkt in dämpfenden Schatten zurück. Meller atmet tief, aber derRing um die Brust herum bleibt, die Schatten derLampe füllen den Raum, der Sessel beginnt zugleiten. Meller will sich zurecht rücken, aber dasGleitegefühl weicht nicht, das Schaukeln seinesKanus wird in allen Gliedern lebendig, ihm ist,als rutschte er wieder den Strom hinauf, alshöre er den Knall der Flaschenpost am Holz desBootes und schaukle weiter, ins andere Land hinauf. Die Wellen wiegen ihn auf und nieder, ermuß die Augen schließen. Stromauf geht dieFahrt, in das Land, aus dem wohl die Flaschenpost kam.(Fortsetzung folgt.)