Sette 2
Dienstag, 10. Mai 1038
Nr. 109
Nähme von Verpflichtungen, die Deutschland   in aussenpolitischer Agressivität bestärken könnten. Denn Mussolini   will such zu einer Verständigung mit Frankreich   kommen, zu einer stir ibn sehr wichtigen Verständigung. Sie erst könnte ihm Ita­ liens   Stellung als Mittelmeermacht als ernstlich begründet erscheinen lassen. Und dass eine Verstän­digung mit Frankreich   nicht möglich ist oder doch nur etwas sehr Fragwürdiges wäre, wenn gleich­zeitig Deutschland   zu schrofferem Vorgehen gegen die Tschechoslowakei   ermutigt worden wäre, weiss Mussolini  . So wertvoll auch für Frankreich   eine Verständigung mit Italien   ist nicht minder wichtig, ja lebenswichtiger ist eS für Frankreich  , dass Deutschland   nicht zu der tatsächlich Europa  beherrschenden Macht wird. Denn das weiss man in Frankreich  , dass dann die grossdeutsche Expan­sion sich nach dem Westen wenden würde. Nie ist widerrufen oder auch nur abgeschwächt worden, waS in dem auch in Frankreich   recht gut bekannten BucheMein Kampf  " gesagt wird: dass die AuS- einandersehung mit demvernegerten" Frank­ reich   unausbleiblich istl Ja. daS weiss man in Frankreich  , dass der deutsche  Drang nach dem Osten" sich sehr bald in einen nicht minder hef­tigenDrang nach dem Westen" wandeln würde und diese Erkenntnis bat zu weitgebender
Line Mahnung Peroutkas Unter dem TitelEine zweckmässige Betrach­tung" befasst sich der bedeutende tschechische Publi­zist Ferdinand Peroutka   in den'Lidovk Nobiny" mit der deutschen   Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei  . Wir geben daS Wichtigste aus diesem Artikel wieder: Wir haben schon einmal die Bemerlung ge­macht, dass eS vielleicht am besten sei, über die Dinge vom Standpunkt der Zlveckmässigleit zu reden, wenn tvir uns einigen wollen. ES ist leider Gottes eine solche Zeit, dass eS fast lei» Gefühl und kein Ideal gibt, welches dem einen heilig ist und dem anderen nicht lächerlich und verabscheu» ungSwürdig vorkäme. Da ist es dann am besten, in der Debatte sich daran zu halten, was gün­stig ist. Unter der Oberfläche unseres politischen Lebens, hinter de» Kulissen unserer Regierung geht der Streit um die Frage der deutschen   So­zialdemokratie. Was mit ihr? Soll sie als Teil der Regierung oder wenigstens der Regierungs­mehrheit erhalten werden? Oder soll ihr diese Demokratie den blauen Bogen schicken wie einem Ausgedienten? Soll sie unterstützt oder soll ge­opfert werden? Besteht«in Interesse daran, dass sie lebt oder wird es" niemandem schaden, wenn sie zugrunde gehen wird? Jede Politik soll irgend einen verständlichen Sinn haben. Welches aber kann das Fiel der Politik sein, welche mehr oder weniger diskret da­von auSgeht, dass die deutsche Sozialdemokratie vernichtet oder wenigstens ohne jede Hilfe ihrem Schicksal angesichts der henleinschen Uebermacht überlassen werden soll. Welche Fiele kann derjenige verfolgen,der in sich das Verlangen spürt, lieber die Sudetendeutsche Partei   als die Partei JakschenS zu unterstüssen? Darauf können wir nur dann antworten, wenn wir unS nicht die parteimässige, sondern die staatliche Bedeutung der deutschen  
Übereinstimmung in der Stellungnahme der Tsche­ choslowakei   geführt. Mit Recht heben schweizerische und englische Blätter als äusserst bedeutungsvoll hervor, dass Tardieu imGringoire  " die von die­sem Blatte verkündeteNichtinterventionspolitik" dem tschechoslowakischen Problem gegenüber zu- rückgewiesen und erklärt hat, Frankreich   würde nicht für die Tschechoslowakei   kämpfen, sondern wie 1014 für sich selbst. Angesichts einer so geschlossenen einheitlichen öffentlichen Meinung Frankreichs   kann Mussolini   nicht die für ihn not­wendige Verständigung mit Frankreich   wollen u n d Deutschland   zur Aktivität in Mitteleuropa  , daS beisst gegen die Tschechoslowakei  , ermutigen. Es ist also eher anzunehmen, dass Hitler   ent­täuscht, als dass er beglückt nach Deutschland   zu­rückgekehrt ist. Die aussenpolitische Situation ist also für die Tschechoslolvakei aller Wahrscheinlichkeit nach gün­stiger als noch vor ganz kurzer Feit. Es ist nun ihre Aufgabe, dem freundschaftlichen Rate Frank­ reichs   lind Englands ebenso folgend wie den selbst erkannten Notwendigkeiten. Innenpolitisch über die Untätigkeit dec letzten Wochen hinwegzukommen: entschlossen die Lösung der nationalen Probleme anziipacken. aber ebenso entschlossen die Staats­autorität wieder anfzurichten I
Sozialdemokratie   vor Augen führen. Worin be­ruht diese Bedeutung? Sicherlich darin, dass eS heute die einzige deutsche   Partei bei uns ist, welche sich nicht zu: i deutschen   Nationalsozialismus ge­meldet hat, was in der Praxis bedeutet, dass dies die einzige Gruppe deutscher   Männer bei uns ist, welche nicht ihre tatsächliche Führung im AuS- lande, in Berlin  , sucht. Ist dem so. dann ist eS schwer. daS Schicksal dieser Partei leichtsinnig zu betrachten. Wer eS trotzdem tut, nähert sich dem Rekord im Mangel an Voraussicht... Werden wir unsere Politik so durchführen, dass wir die Position der deutschen   Sozialdemo­kratie untergraben, werden wir bald dazu gelan­gen. dass bei unS keine anderen Deutschen   sein werden als henleinistische, waS nach deren feier­lichen Bekenntnis zum Nazismus bedeutet, dass bei unS keine anderen Deutschen   sein werden als Hitlerianer. ES handelt sich also darum, ob wir die Politik so durchführen' sollen, dass die Anzahl der Hitlerianer bei unS volle 100 Prozent erreicht und dass wir der Welt nachweisen, eS gäbe keine anderen Deutschen bet unS. DaS bitte ist nicht eine Sache deS Geschmacks, sondern eine Angelegenheit deS StaatSinteresseS. Manche unserer Politiker treiben eine solche Politik, damit dem Herrn Henlein   auch nicht ein Prozent unserer Deutschen   entgehe. Sie helfen ihm dazu, die Totalität zu erreichen, zu der eS aus eigenen Kräften niemals gelangen stjnnte. Diesen Menschen müssen wir diese Haupt« frage stellen: Ist es im Interesse unser-» Staates, seiner Ganzheit, seiner Abwehrbereitschaft, dass die Henleinpartei unter unseren Deutschen   zu vollen hundert Prozent gelange?... Auf diese Frage und aus keine andere, muss jeder Anttvort geben. Sollen wir helfen, jeden- Deutschen  , der mit unserer Republik übereinstimmt, auszuhun- gern? Ist die Sudetendeutsche Partei   so verläss­
lich, dass wir ihr einen solchen Dienst erweise» können? Eineö Tages werde» wir alle erkennen, dast der grösste Fehler, den wir begangen haben, der war, dast wir nicht genügend vermocht oder dass wi.r es nicht gewollt haben, jene deutschen  aktivistischen Parteien, welche bestanden Halen, zu unterstützen. Erst nach dem Fall zweier von ihnen ist die Kraft deS HenleiniSmuü mit vollem Gewicht auf uns gefallen. Erst da hat sich der Horizont für un­verdüstert. Noch aber verbleibt die deutsche Sozialdemo­kratie. Es ist, wie wir gerade hören, noch in der deutschen   Agrarpartei der Wille zum selbständigen Leben. Werden wir in unseren Fehlern fortfahren, werden wir eine solche Politik machen, dass wir alle Deutschen   in eine Herde treiben mit dem be­kannten Hirten?... Ich bekenne, dass ich. während ich von der Sache schreibe, einigexprassen von Scham erfüllt bin. Gibt es unter uns irgend welche Helden, dann find es unsere tschechischen Leute im Grenz­gebiet und jene Deutsche  », welche in der Flut de» Henleinismus dem Terror trotzen, von dem man sich in Prag   schwer eine Vorstellung macht. Ich schäme mich dafür, dass wir sie ohne Hilfe lassen, dass wir den Henleinleuten erlauben, dast sie sie, wenn auch nur trügerisch und für den Augenblick, als Leute betrachten, welche von uns geopfert wur­den. lieber eine Sache möge sich die Führung unse­rer Politik nicht täuschen: Eine» Tage», früher oder später, w.ird gerade dieser Frage wegen ihr ganzer staatsmännischer Ruf aus dem Spiele stehen. Wenn sie durch ihre Tätigkeit dazu bei­tragen, dass die Herrschaft Henlein  » und jener, die dahinter stehen, sich ans die gesamten hundert Pro, zent Deutschen   erstreckt, werden sie einen Zustand schaffen, der in den nächsten Jahren sehr schwer, vielleicht überhaupt nicht gutznmachen sein wird. Sie handeln heute nickst nur für sich, sondern auch für ihre Nachfolger. Sie haben nicht das Recht, ihnen eine so schwere und gefährliche Situa­tion zu hinterlassen. Mögen sie wissen, dast sie sich keinen Anspruch der Nation erwerben, wenn e» ihnen gelingt, au» allen unseren Deutschen Nazi» zu machen.
Das Pressebüro In der Verteidigung Die Angriffe, die in der letzten Feit von unk und einer Reihe anderer Blätter gegen das Tschechoslowakische Pressebüro wegen seiner par­teiischen, SdP-freundlichen Berichterstattung über die Feiern deü 1. Mai geführt wurden, haben daS angegriffene Amt veranlasst, sich in einer an die Blätter ergangenen Mitteilung, zu verteidigen. ES veröffentlicht noch einmal den Bericht über die Maifeiern im deutschen   Gebiete, wobei sich neuerlich zeigt, wie mager der Bericht ist und von welcher politischen Einsichtslosigkeit, bzw. geringen staatsmännischen Klugheit die Herren vom Tschechoslotvakischen Pressebüro er­füllt sind. Am Schluss dieser Mitteilung wird be­merkt, dass die vom Tschechoslotvakischen Presse­büroangeführten Fahlen durchweg» amtliche sind". Demgegenüber wiederholen wir. dass wir diese Mitteilung des Pressebüro» nicht für richtig halten und der Ansicht sind, dass das Pressebüro die von seinen Korrespondenten welche, wie wir bereits am Karlsbader   Beispiel gezeigt haben, der SdP nahestehen mitgeteilten Fah­
len einfach übernommen hat, ohne dass diese amt­lich geprüft worden sind. Haben doch Polizei­organe selbst verschiedenen unseren Funktionären gegenüber andere Teilnehmerziffern genannt. Während aber daö Pressebüro die Teilnehmer­zahlen an den demokratischen Maifeiern im deut­ schen   Gebiete der Republik   reduziert hat, hat es die Fahlen der Beteiligten an den SdP-Felem hinauflizitiert. So hat z. B. der Melntker Sen­der berichtet, dass der Henleinumzug in Aussig  80.000 Teilnehmer aufwie», was von allen objek­tiven Beobachtern bestritten wird. Es wird also dem Tschechoslowakischen Pressebüro nicht gelin­gen. sich für sein unerhörtes Verhalten, welche» in seiner Berichterstattung über den 1. Mai be­steht, reinzuwaschen. Im übrigen bemerken wir» dass die Kund­gebung der deutschen   Sozialdemokratie in Karls­ bad   nicht auf dem Becherplatz, sondern auf dem Markthallenplatz stattgefunden hat. Auf diesen beziehen sich auch die Masse, welche einwandfrei die tendenziöse Berichterstattung de» amtlichen tschechoslowakischen Nachrichtendienste» unter Beweis gestellt haben. Oerdeutsche Gruß und das, Preßbüro Das Tschechoslowakische Pressbüro hat Frei­tag abend» zwei Meldungen über Zwischenfälle auSgegcben. Die eine Meldung betraf einen Zu- sammenswh in Fallena», die andere einen Streit zwischen deutschen   Studenten und Tschechen   in der Prager   Lützowgasse. In beiden Fällen be­schränkte sich die amtliche Berichterstattung auf die Berichterstattung über die W i r k u n g irgend­einer offenbar unbekannten Ursache; die Ur­sache der Zlvischenfälle aber blieb dem Leser ver­borgen. In Wahrheit hat e» sich immer darum gehandelt, dass mit dem sogenanntendeutschen" Gruss gegrüsst wurde. Besonders in Prag   muss dieser Gruss als Provokation wirken. Offenbar aber darf der anstliche Pressedienst die Tatsache ganz einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich unsere Nazis schon so benehmen, als ob das Land ihnen gehörte.
Erneuert die gesetzliche Ordnung Im deutschen   Gebiet I Ta» verlangtPrävo Lidu" in seiner sonn« tägigen llebersicht, welche Dr. Karl Kriz verfasst hat. Da» Blatt schreibt: WaS entscheidend ist, ist unserer Ansicht nach die Notivendigkeit, dass alles geschehe, um die ge­setzliche Ordnung, die Gültigkeit der Regierungs­verordnungen und der ordenllichen Gesetze in allen deutschen   Gebieten zu erneuern. Das erachten wir für die tvichtigste administrativ-politische Aufgabe der Regierung. Die Gesetze müssen für alle Bür­ger der Republik   gelten. In Nordböhinen wächst unseren Nachrichten gemäss die deutsche Spannung, die tschechische Min­derheit ebenso wie die deutschen   aktivistischen Par­teien sind bereit» am Ende ihrer Geduld. E» kann geschehen, dass sie eine» Tages losgehen, mögen wir un» auch wie immer bemühen, sie zu beruhi­gen. ES ist untragbar, dast Staatsbürger, feien sie tschechischer oder deutscher   Rationalität, nur deswegen boykottiert und terrorisiert werden, weil sie sich zur Demokratie melden und die Republik  gegen zersetzende Elemente verteidige».,
J Um die deutsche Sozialdemokratie
So schien auch die Gestalt, die sich oben auf der Spitze des Mastes hielt, ohne Stühe, obne Stand, nur wiegend auf einer tvinzigen Fläche, nur geschaukelt wie auf einem Blumenblatt. Der Tänzer dort oben auf dem Seil lvog sich auö mit seinem Stab, der bald zur Rechten, bald zur Lin­ken neigte. Er trippelte. Seine Füsse, gekleidet in die roten Schnallenschuhe, kaum wahrnehmbare Flecken, etwas dunkler als das übrige Dunsten. Man konnte meinen, unter ihm sei ein offenes Feuer angefacht. Damit es ihm nicht die Sohlen versenge, musste er über das grundlose tanzen. ES begann zu tanzen des Kaisers Maschi­nenmeister, Johannes von Cremona, dessen Ruf schon seit langem die Ortschaften von Estrema­ dura   aufgeregt hatte. Er war der Meister der kaiserlichen Zerstreuungen. Er schuf ihm die Vö­gel, die fliegen und singen tonnten. Er baute ihm Gehäuse mit Seelen, die die Ewigkeit in Stunden zerschnitten und läuteten, hatten sie wieder eine Stunde anzukündigen» die abzuzählen war von dem Tage, da sich von neuem die Zäune der pa­radiesischen Gärten öffne», würden, und nun ein für allemal, und keine Versuchung und kein Sün­denfall würde das mehr hindern.<» Oben sprühte dem gaukelnden Tänzer das Kreisen der künstlichen Sonnen inö Gesicht. Es war, al» tänzelte er geradeaus in die Sonne hin­ein. Es gefiel ihm, unterwegs vergnügteste Sta­tion zu machen. Er kniete, er drehte sich mehrmals um sich selber. Er reckte sich jetzt auf die Zehen­spitzen, auf flachem Fusse schritt er dann hin.
Wohin würde der Zufall lenken und lei­ten? Aus dem Körper schallte ein Schrei. Schrei einer Schwalbe, der plötzlich der Ton in der Kehle zerspringt. Den Zlvergenkörper zu berühren und mit einem Tuch das Gesicht zu verdecken, in dem Mund und Augenhöhlen schon zur forinlosen, sandgemischten Masse zusmnmengeslossen waren, das wagte hernach allein Doktor MatthtzS. Er bettete die Knochen, die sich nicht mehr regten, und die Muskeln und die Adern, die zer­rissen waren, auf die Bahre. DaS geschah schon in den schwarzen Rauchschwaden, die als einziger Rest deS festlichen Blendens übriggeblieben ivaren. Die ihm dabei halfen, luden eine geringe Last auf, doch sie schleppten schwer daran bis zur Schwelle des kaiserlichen Hauses. Deshalb hatten sie keine Feit, u>n sich darum zu bekümmern, wer die Frau tvar, die hinter der Bahre ging. Sie hatte sich aus der gedrängtem Menge losgelöst. Beim Rückfluten des Bolles war sie übriggeblieben wie ein in der Hast vergessenes Essgeschirr. Man war vielleicht über sie hinweg» getrampelt, oder vielleicht hatte sie sich auch ab­seits gehalten und irgendwo in einem Winkel ver­steckt. Dann aber hatte sie nichts von dem Blen­den und dem Jubel gemerkt und auch nichts von dem plötzlichen Jammer und der plötzlichen Jagd. Verloren auf irgendwelcher Wanderung, hatte sie vielleicht einen Augenblick rasten wollen, und da hatte es sich ergeben, dass sie bei einer Totenbahre anlangte. Sie hatte vielleicht irgend etwas ge­sucht und gemeint, dass sie.S in den Sonnen­fahnen, die sich plötzlich in schwarze Rauchfahnen verwandelt hatten, finden würde. Sie war alt. Die gebleichten Haarsträhnen, die unter der Haube hervorquollen, verhüllten eine steingraue, gefurchte Stirn. Sie ging der Bahre nach, als gehörte sie zu dem Ferschmetter- ten. den auch nicht die Maschen des FangnetzeS dagegen geschützt hatten, beim Sprung ins Ufer­lose daS Ziel zu verfehlen.
Sie ging der Bahre nach, als gehörte sie zu allem Toten, und ihr Fuss trat lautlos auf Ivie ein Schatten. Erst als der Zug vor der Tür des Hauses hielt, erst als die Fackel ihren Schein warf, be­merkte Doktor MatthtzS die Frau, und sie war weiss gekleidet. Trotz ihres GreisentuinS war sie nicht gebückt, aber das Kleid flatterte um ihre Hagerkeit. Eie wollte mit den Bahrenträgern in das HauS hinein, und man wehrte eS ihr. Da hob sie die Hände zu den Bediensteten einpor. Die Leute wussten nicht, was zu sagen. Sie sahen nur auf den ihnen entgegengestreckten Handfläche» Wund  « male, aus denen ein dünneS, wässeriges Blut sil­ierte. Und die Lippe»» der Frau bewegten sich, ohne dass sie ein Wort sprach. Die Bediensteten blickte» verwundert von ihrem Herrn zu diesen zerkerbten Lippen, die schon schlaff hingen, weil kein Zahn sie mehr stützte. Da bat Doktor MatthtzS die Bediensteten: Lasst siel Um der Barmherzigkeit willen, jagt sie nicht hinaus!" Hinter dem Toten wurden die Tore ge­schlossen. Die Begleiterin seiner Bahre blieb in dem HauS. XU. Zwischei» Doktor MatthtzS und der stummen Frau mit den Wundmalen war ein ungeschriebe­ner Vertrag geschlossen. Er durfte sie nicht fra­gen. Alles, was sie anging, durfte er nur erraten. Ihn beschäftigte bald nichts anderes als dieses Rätsel. Dass er sie um sich hatte, dass sie in seiner Wohnung irgendwo zu finden war, in einem dunklen Winkel oder auch am Fenster, daS Aus­blick in die Ferne gestattete, das wurde ihm zur unentbehrlichen Gewohnheit. Er hatte sie In allem zu erraten, auch in dem, ob sie ihn noch kannte. Manchmal meinte er eS. Denn Adelgonde de Vocht musterte ihn dann
lange und ernsthaft, so, als errechnete sie, war sich an seinen» Aussehen und an seiner Art des Bewegens und des Niedersitzens iin Lauf der Jahre verändert hätte. Er beobachtete, dass eS ihr nicht mehr ge­lang, mit den Zähnen die Wundinale an den Handflächen offenzuhalten. Dann rieb sie an Kanten und Spitzen und war erst befriedigt, wenn das Blut wieder zu rinnen begann. Angestrengt betrachtete sie die Zeichen, und ihr Wesen, sonst so well, flackerte wieder auf. Er gab ihr Salben, um die Wunden zu bestreichen, Entsetzt riss sie sich los und floh, al» wollte inan ihr einen Schaden zufügen. Er würde sich in solchem Augenblick nicht verwundert haben, hätte sie ihn mit dein Schür­haken des Kamins angefallen. Ob sie wirklich stumm und taub war, da» war sein gröhier Rätsel. Er nahm einen Anlauf, um eS zu lüften. Er überrumpelte sie, wenn sie in ihre Grübeleien eingetaucht war. Niemals gab sie ihr Geheimnis preis. Ab und zu wies sie nur, stellte er sich neben sie ans Fenster, in die Weite hinaus, und in der Frau begann ein seltsames Unruhigsein. Nickt Zorn, nicht Wut war eS, Verzweiflung auch nicht, was sie dann zeigte. Ain ehesten, meinte Doktor MatthtzS, ähnelte diese Rastlosigkeit, dieser Verlust der Fähigkeit, bei den Dingen in der Stube zu verweilen, dem Wittern des Jagdtiers, das über Strecken und Strecken irgendwelche Beute sucht. Trotzdem blieb sie freiwillig. Sie folgte ihm sogar beharrlich tvie sein Schatte»!. Sie folgte ihm auch beharrlich wie sein Gewissen. Und sein Gewissen quälte ihn während einiger Stunden nicht mehr, schwieg wie die Frau. Wenigsten» klagte es ihn nicht mehr an, der Pflicht des Dan­kes an feine Wohltäter entwichen zu sein. Die Anwesenheit der stummen Frau wirkte auf ihn wie ein Heilmittel. In ihm vernarbten Wunden, die sich während der Jahre nicht hatten schliessen wollen.
(Fortsetzung folgt).