9tUt 2 Donnerstag, 28. August 1938. Nr. 199. -urcki sozialpolitische Rcsonnen verhinderte, so daß sie erst in einer internationalen Situation erfolgen tonnten, die für eine gesellschaftlich« Erneuerungs­arbeit besonders ungünstig Ivar und nicht nur dies allein: die französische Unterneh­merschaft brachte eS ungehindert durch irgendeine»sostspielige So­zialpolitik" schon seitJahren nicht mehr fertig, ihre Betriebsanlagen auf derHöhe des technischen Fort­schrittes,zu halten, wodurch die französi­ sche Industrie ihre Konkurrenzfähigkeit auf man­chen Gebieten verlor, die Exporte sanken, das Land mit ausländischen Waren überschwemmt wurde, die Produktion zurückging. Jouhaux' Stellvertreter fragte nach DaladierS Rede er­staunt, wie man die AichcitSzeit über vierzig Stunden hinaus erhöhen wolle, wenn im Durch­schnitt in den Großbetrieben kaum 89 Stunden, in manchen sogar nur 80 und 82 Stunden ge­arbeitet werde und selbst der Vorsitzende des fran­ zösischen Industriellen-Verbandes. Gignonx, ge­steht in seiner LeitungIourncc Industrielle", nachdem er den Ministerpräsidenten durch eine be­ständige Kampagne auf seine Linie gebracht hat, - mit der Aufhebung deS Gesetzes über die Vier­zigstundenwoche das Problem allein nicht gelöst werden könne. Die französische Linke glaubt da­her von der Regierung erwarten zu müssen, daß sie zu einer den Tatsachen besser entsprechenden Einschätzung der Situation gelangen möge, als sene, die in DaladierS Rundfunkappell zum Aus­druck kam. Der WeltJugendkongreB eröffnet New Dorf. Die Delegation der tschechoflowa- kischen Jugend zum Zweiten Weltjugendkongreß in Dassar College in New gort wurde bei ihrer An­kunft in New fiork am 18. August 1988 vom tsche­choslowakischen Konsul Jng. Hani sowie den Vertre­tern der landtmännischen Vereine begrübt und im alten Raihause vom Sekretär de» Bürgermeister» empfangen. Bei einem zur Begrüßung im tschecho« slowakischen Nationalhau» veranstalteten Dejeuner sprachen u. a. der Generalkonsul Dr. Brabec und der amerikanische Senator Fisches, der Vorsitzender d«S kürzlich gegründeten amerikanisch -tschechoslowakischen Ausschusses für die kulturelle und wirtschaftliche An­näherung ist. Für die Begrüßung dankten im Namen der Delegation Dr. JIti KaSpärek, der Slowake Dr. Josef SolteSz, der deutsche Delegierte Willi Wanka und der karpathorussische Delegierte Dr. NIkolaj Lacaniö. Sonntag abend» veranstaltete der amerikanische JugendauSschuß vor 80.000 Zuschauern eine Kundgebung, in welcher der New Aorker Bür­germeister La Guardia , einige andere amerikanische Redner und namen» der Kongreßteilnehmer für jeden Erdteil je ein Delegierter sprachen. Namen» der europäischen Jugend sprach der tschechoslowakische Delegierte Dr. KaSpärek. In der einen Tag später stattgefundenen Eröffnungssitzung de» Kongresses, in Wassar College, ungefähr SO Kilometer von New Vork entfernt, hielt die Gattin de» Präsidenten Roosevelt di« Eröffnungsansprache. Attentate and Entführungen in Palästina Jerusalem . In der Stadt Janin ist Mitt­woch der stellvertretende DistriktSkommiffär Mof­fatt»«in Engländer, mit lebensgefährlichen Schußverletzungcn aufgefunden worden. In dem Küstenort Cassarea wurden von Aktivisten ein griechischer Mönch und dessen Bruder entführt. DaS Attentat auf Moffatt wurde verübt von 8 Männern, die Polizeiuniformen trugen. Japaner erschienen Insassen eines Verkehrsflugzeuges Hongkong. (Reuter.) Japanische Flugzeuge haben ein B e r k r h r S f l u g z e u g der na­tionalen chinesischen Flugverkehrsgesellschaft über dem Delta deö Kantonflusses zu einer Notlan­dung gezwungen. Wie nunmehr die Luftfahrtbc« Hörden in Hongkong bestätigen, wurden 12 Pas­sag i e r e deS überfallenen chinesischen Flugzeu­ges durch japanisches Maschinen­gewehrfeuer getötet oder verletzt. Die Japaner nahmen an, daß sich unter den Pas­sagieren der Vorsitzende der chinesischen Regie­rung Sungfo befinde, der jedoch, wie auS Hankau gemeldet wird, mit einem anderen Flugzeug nach Hongkong reiste, wo er inzwischen bereits gelan­det ist. Unerwartete Konferenz Chamberlain-Halifax London.(Reuter.) Eine Zusammenkunft des Ministerpräsidenten Chamberlain mit dem Mini­ster für auswärtige Angelegenheiten Lord Hali­ fax und mit dem Schahkanzler Sir John Simon ist Mittwoch ganz unerwartet erfolgt. Lord Hali­ fax stattete seinen üblichen Besuch in seinem Amte ab und Sir Lohn Simon kam au» Nord-Berlvick, um sich mit den Geschäften des Schatzamtes zu befassen. Alle drei Minister benützten diese Gele­genheit, um gemeinsam die politische Gesamtlage insbesondere die Situation in Mitteleuropa und die Folgen der Antwortnote deö Generals Franco zu prüfen. Was man in Italien Frankreich vorwirft Rom. (Stefan!.) DasGiornale d'Jtalia" erwidert auf Artikel desTemps" und anderer französischer Blätter, welche betont hatten, cS sei nicht Frankreichs Schuld, wenn jetzt zwischen Frankreich und Italien eine Spannung bestehe. Giornale d'Jtalia" schreibt u. a., daß Frank« Der Konflikt um Paris . DkenStag abends befasste sich die Union der Syndikate mit der sonntägigen Rede DaladierS. Rach der Sitzung wurde eine Resolu­tion angenommen» in welcherdie Erregung der Ardeiterklasse über die Rede deö Ministerpräsiden­ten gegen die 40stündige Arbeitswoche" zum Aus­druck kommt undder Standpunkt DaladierS ver­urteilt wird» der sich in formalem Gegensatz mit den Sozialgrsetzen und dem Gesetz über die 40stün- dige Arbeitswoche auS dem Jahr« 1936 befindet." In der Resolution heißt eS weiter, daß be­reits seit Monaten tausende von Arbeitern auS den Betrieben, in denen sie arbeiteten, entlassen wur­den und daß ein großer Teil der Unternehmer, welche die Aufhebung des Gesetzes über die SOstün- dige Arbeitswoche fordern, ihr Personal nur 30 hiS 88 Stunden wöchentlich beschäftigen. Die Resolution stellt ein bedeutendes Sinken der Kauf­kraft der Arbeiter und Angestellten fest, das da­durch verursacht wurde, daß eine Regelung der Einkommen andauernd abgelehnt wird, während die Preise der Lebensmittel steigen. Es wird festgrstrllt» dass die Verschärfung der Wirtschaftskrise nicht durch die Sozialgesetze» son­derndurch die Sabotage der Arbeitgeber in dem Kampf« gegen die Truste und Finanz- obltgarchien" verschuldet wurde. Die Union der Syndikat«»»lehnt eS daher ab, einer Aufhebung des Gesetze- über die 40stündige Arbeitswoche in gewissen Industriezweigen zuzustimmen» solange reich durch sein Abkommen über die Oeffnung der französischen Häfen für di« britische Kriegs­flotte die Gefahr eines europäischen Krieges er­höht habe, welche einzig und allein durch den gu­ten Willen Mussolinis uird durch die Kaltblütig­keit Italiens gebannt wurde. Horthy in Berlin Berlin . Der ungarische Reichsverweser von Horthy und seine Gemahlin sind Mittwoch abend mit Sonderzug auf dem Lehrter Bahnhof einge­troffen. Oer Rassismus eine moralische Gefahr Stadt deö Vatikans.(Havaö.) DerOsser- vatorc Romano" veröffentlicht einen weiteren Artikel über die Rassenfrage, in dem eS heißt: Der Rassismus ist keine politische Frage, son­dern bedeutet eine moralische Gefahr und verbleibt somit in der Kompetenz der Kirche. DaS Blatt stellt fest, daß eine gewisse Anzahl von Blät­tern daS zwischen der faschistischen Partei und der Katholischen Aktion abgeschlossene Ilebcreiulommen als eine Verpflichtung dieser Organisation an­sicht, sich nicht mit der Rassenfrage zu befassen und fügt hinzu, daß diese Annahme p h a n t a* st i s ch sei der Rassismus sei keine politische Frage, sondern eine Gefahr für die große, christ­liche Menschenfamilie". Otto wollte den Einmarsch verhindern London.Daily Herald" teilt mit, daß in Frankreich ein sensationelles Buch erscheinen wird, in dem enthüllt wird, daß Otto von Habsburg im letzten Augenblicke vor dein ilntergang Oesterreichs dem Bundeskanzler Schuschnigg das Angebot machte, nach Oesterreich zu kommen undmit dem ganzen, jahrhundertealten Prestige deS habs­burgischen Geschlechts dem Einfall Hitlers " Widerstand zu leisten. Schuschnigg habe dieses Angebot abgelehnt, weil eS angeblich dm Bürger­krieg zwischen Deutschen bedeutet hätte. Daladiers Rede in diesen nicht alle Arbeitslosen beschäftigt sein toerden und fordert die Arbeiter sämtlicher Korpo­rationen auf» wachsam und vorbereitet zu fein» einmütig auf alle Aktionen zu reagieren» welche vom Allgemeinen ArbritSvertand zur Verteidigung der Sozialgesetze werden beschlossen werden." Der Vorsitzende deS Allgemeinen Gewerk­schaftsverbandes Jouhaux, der auf einer Reise nach Mexiko ist, um am Kongreß der südamerikanischen Arbeiter teilzunehmcn, ist Dienstag in New Fort augekommen. Bon d«n letzten Ereignissen in Frankreich sagte er, daß er durch sie überrascht wurde und daß er die vom Vorstande deS All­gemeinen Gewerkschaftsverbandes in dieser Sache abgegebene Erklärung vollkommen billige. Paris.(HavaS.) DaS Sekretariat der Ha­fen- und Dockarbeiterföderation teilt mit, daß das Büro der Föderation den Vorschlag des Regie­rungsdekretes betreffend die Beilegung des Kon­fliktes im Marseiller Hafen abgelehnt hat. Di« Delegierten der Föderation beharrten mif den Forderungen, daß augenblicklich das Militär aus Marseille abberufen werde, daß der jetzige Kol­lektivvertrag bis zu seinem Ablaufe in Geltung bleibe, und daß schließlich die Verhandlungen über die Festsetzung einer neuen Grundlage für die Aufwertung der Gehälter im Verhältnis zu den in anderen großen Häfen üblichen Bezahlun­gen fortgesetzt werden. Bukarester und Belgrader Kommentar Bukarest : Einheit der Kleinen Entente Bukarest. Ein halbamtlicher rumänischer 'Kommentar zu den Ergebnissen der Konferenz von Bled führt u. a. aus: Alle Welt hate völliger Verständnis der Klei­ nen Entente für jeden einzelnen ihrer Mitglied­staaten feststellen Wunen. Die Solidarität der Kleinen Entente hatte sich einmal in Bezug aus die Beziehungen zu Ungarn erwiesen. Gewisse Versuche, die Tschechoflowakei durch Sonderabkom- men mit Jugoslavien und Rumänien zu diskrimi­nieren, sind mißlungen. Die Bedeutung des AbkomnienS von Bled liegt in zwei Punkten. Zum erstenmal schloß Nu- garn mit der Kleinen Entente al» solcher ein Ab­kommen ab, waS es bisher immer abgelehnt Hot. Da» Abkommen klärt ferner eine rechtliche und tot- sächliche Lage, welch« eine für Mitteleuropa ge­fährliche Zweideutigkeit dargeftellt habe. Wenn Ungarn guten GlaichenS ist und die Besserung der Beziehungen mit Rumänien ehrlich anstrebt, so kann Bled die feste Basis für eine neue Politik int Donaugebiete darstellen. Dieser Akt ist nicht we­niger bedeutungSvvoll als das Abkommen von Sa­loniki. E» hängt nunmehr vom Denken und vom Verständnis der ungarischen Regierung ab, daß eine Aera des Friedens und der ehrlichen Zusam­menarbeit Ungarns und seiner Nachbarn begonnen werden könne. Belgrad : Die Aufgabe Stojadlnovic Belgrad. Die Blätter berichten auf ihren Titelseiten über daS günstige Ergebnis der Kon­ferenz deS Ständigen Rates der Kleinen Entente. Breme" schreibt in ihrem Kommentar, daß der amtliche Bericht kategorisch, klar und konkret sei. Die Verhandlungen verliefen nicht glatt, doch ge­lang e» Dr. Stojadinoviü als neuem Vorsitzenden des Ständigen Rates der Kleinen Entente, durch seine Unterredung mit dem ungarischen Außenmini­ster Kanya ein Einvernehmen zu erzielen. DaS Ab­kommen mit Ungarn , schreibt dieBreme", schafft eine neue Atmosphäre, die einen Einfluß auf da» gemeinsame Schicksal haben muß. Dr. Stojadinovit wurde damit betraut, in der ungelösten Frage der ungarischen Minderheiten, die nur die Tschechosso- wakei betrifft, in den Verhandlungen über ein wür­dige» Abkommen zwischen den beiden Staaten zu vernlitteln. 3)tan muß, so schreibt da» Blatt weiter, betonen, daß die von der Regierung Dr. Stojadino- vlü begonnene ftiedliche Politik an den Grenzen Ju- goflawien» im Lauf« von drei Jahren den Frieden und die herzlichen Beziehungen mit allen Nachbarn wiederhergeftellt hat. Kanya in Klei nicht bekannt. Loudon. Di«Tim«»" verzeichnen In ihrem Berichte aus Bled folgenden Vorfall: Der unga­rische Gesandte in Belgrad Ivar von seiner Regie­rung nicht ermächtigt, di« neue Formel deS Ab­kommen» mit Ungarn zu paraphieren. Der unga­rische Außenminister von Kanya war bekanntlich Dienstag im deutschen Hafen Kiel . Der jugosla- wische Ministerpräsident Dr. Stojadinoviä rief deshalb Kiel telephonisch an und ersuchte, mit Herrn von Kanya verbunden zu toerden. Er erhielt die Antwort, daß Herr von Kanya in Kiel nicht bekannt sei. Darauf soll Dr. StojadinoviL gesagt haben:'Ich werde warten, bis Herr von Kanya in Kiel bekannt sein wird." Am Abend kam aus Kiel die Antwort des Minsster» Kanya und da» Ab­kommen mit Ungarn wurde paraphiert. G Man stelle sich vor, IvaS die nazistische Presse aufführen würde, wenn sich ein solcher Vorfall in der Tschechoflowakei ereignet hätte. DIE SPIONIN VON W, STERN FELD Er wich allen Antworten auS, doch sie gab nicht nach. Auf einmal schrie sie auf:Du kommst zur Nachrichtenabteilung l" Henry erwiderte nichts. Sie hatte richtig geraten. Seine vorge­setzte Behörde hatte erkannt, daß ein Mensch mit solchen Sprachkenntnissen und solchem Auftreten, mit diesem Vertrautscin mit Land und Leuten zu Besserem zu verwenden war als zum Kanonenfut­ter. Für den Posten eines politischen Kriminal­beamten in Feindesland gab es jedenfalls keine geeignetere Persönlichkeit als gerade ihn. Man hatte ihn der wichtigsten Abteilung, der Spionage- Abwehr im belgischen Jndustrierevier zugewiesen» und er hatte bereit» mehrere schwierig« Fälle zur Befriedigung seiner Vorgesetzten aufgeklärt. Ihm selbst Ivar wenig Wohl bei dieser Tätigkeit. Er war sich des Zwiespalts seiner Empfindungen voll bewußt und suchte nach einem Ausweg, ohne ihn zu finden. Seiner Nationalität nach war er Deut­ scher und hatte als deutscher Soldat zu gehorchen. Seine Heimat aber war Belgien , wo er feine Ju­gend und sein ganzes bisheriges Leben verbracht batte, dessen Land und Menschen er gern hatte. Es schien ihm eine Schande, gegen sein« bisheri­gen Landsleute Spiheldienste zu leisten» einerlei, ob ihn ein Befehl dazu zwang oder nicht. Er hatte sofort versucht, sich an die Front zu melden, um der ihm verhaßten und unwürdig erscheinenden Tätigkeit zu entgehen, doch war sein Gesuch ab­schlägig beschieden worden. Als Hermine erkannte, daß sie richtig geraten batte, sprang sie auf, nahm Hut und Mantel und verließ ohne Gruß das Lokal. Henry blieb allein zurück. Schon der Gedanke, daß ihr Freund zu den Feinden ihre» Lande» gehör«, hatte sie gepei­nigt, doch hatte sie diese Empfindung niederzu­drücken versucht, indem sie sich immer wieder vor­hielt, daß er ja nur ein einfacher Soldat sei, der seinePflicht" gegen sein Land nur unter dem Zwang tat, dem in diefer Zeit alle jungen Män­ner unterworfen waren. Sie kannte ihn genau genug, um zu wissen, wie sehr er selbst darunter litt und wie im Innersten zuwider ihm dieser Krieg war. Die Gewißheit aber,'daßihr" Henry jetzt persönlich gegen ihre Landsleute vorgehen müsse, bei denen er durch feine genauen Kennt­nisse der Landessprachen und durch sein Aussehen und Auftreten Vertrauen wecke, um sie dann zu verraten der Gedanke war unerträglich. Tiefe Empörung packte sie, am liebsten hätte sie ihn nie­derknallen mögen wie einen tollen Hund. Sie irrte durch die Straßen und überlegte, ob sie nicht ins Lokal zurückgehen solle, wo jeder sie kannte, um ihn vor aller Oeffentlichkeit anzuklagen und ihm ihre Verachtung ins Gesicht zu schreien. Aber selbst das war ja nicht möglich. Sie hätte damit zwar seine Tätigkeit als Spion verhindert, aber was wäre damit gedient gewesen? Man hätte sie in Haft genommen, ihn an die Front geschickt und ein anderer, den sie nicht kannte, hätte seinen Posten bekommen. Etwas aber mußte geschehen sie wußte nur nicht was. In dem unpolitischen Mäd­chen regte sich plötzlich ein Nationalempfinden, das ihr bisher absolut fremd gewesen. Haß fraß sich in ihr fest gegen die fremden Eindringlinge» die daS Land Werfallen haften. Bisher hatte sie nur wenig daran gedacht, daß jenseits der Kampflinie auf Frankreichs Seite auch ihre Brüder im Felde standen und die Heimat verteidigten. Jetzt zum ersten Male wurde ihr die Pflicht jedes Einzelnen llar, der Gedanke wuchs in ihr, daß alle, auch sie fehhft» dazu beitragen müssen, daß da» Land wie­der frei werde. Aber wie? Gleichgültig hafte sie bisher den Verände­rungen im Leben der Hauptstadt gegenWerge« standen. Die Befehl« und Verordnungen de» Gouverneurs und der deutschen HeercSleüung hat ­ten zwar ihr Dasein gleichfalls nicht unwesentlich geändert und ihr manche Verpflichtungen aufer­legt, die ihr unangenehm waren, aber bisher hatte sie sie genau befolgt. De» feldgrauen Offizieren und Soldaten in den Straßen hatte sie nach Mög­lichkeit keine Beachtung geschenkt, obgleich sie säbel­raffelnd herumpromenierten und sich als die Her­ren auffpielten. Eines Tages, so hatte sie gedacht, wird der ganze Spuk vorbei sein, die Deutschen werden wieder abziehen und alles wird sein wie vordem. An den Krieg wird man denken wie an einen bösen Traum. Auf einmal schien ihr alles, was sie bisher gedacht und empfunden hatte, als falsch. Die Deutschen befestigten ihre Positionen mehr und mehr, täglich wurden neue Behörden eingerichtet, täglich verkündeten sie neue Siege in Ost und West. Wenn man auch gerüchtweise gehört hatte, daß sie vor mehr als drei Monaten eine unge­heuere Niederlage erlitten hatten, und daß der Marsch auf Paris zum Stehen gekommen sei, so hatten sie doch indischen Antwerpen genommen und der größte Teil Belgiens war in ihrer Hand. Täglich kamen frische und glänzend ausgerüstete Truppen durch Brüssel , siegessicher und kampf­begierig. Dieses Deutschland schien ein uner­schöpfliches Heerlager zu sein, daS so viel Solda­ten und Material an die Fronten werfen konnte, wie ihm notwendig schien, um die Welt zu erobern. Hermine war e» in den Kriegsmonaten im Grunde nicht schlecht ergangen. Gewiß, die ersten Tage nach dem Einzüge der Deutschen waren schlimm gewesen. Aber nachher? Die Deutschen hatten sich im allgemeinen dem Einzelnen gegen­über korrekt benommen, ihre Offiziere hatten große Einkäufe gemacht und die Ware bar bezahlt. Täglich kamen sie einzeln oder in Gruppen in da» kleine Spitzengeschäft und kauften, waS ihnen ge­fiel. Sechst die ältesten Ladenhüter hatten ihre Abnehmer gefunden. Die Inhaberin war zufrie- den und hatte HerminenS Leines Gehalt in di« Höhe gesetzt, weil, wie sie sagte, HerminenS deui- sche Sprachkenntnisse für die neue Kundschaft ein nicht zu unterschätzender Faktor war. Daß Her­minenS AeußercS und ihre Liebenswürdigkeit in der Bedienung die jungen Offiziere mindestens eben so sehr zum Besuche deS kleinen LädchenS anreizte, verschwieg sie wohlweislich. Hermine war allen diesen neuen Kunden gegenWer immer von der gleichen Höflichkeit. Sie schwatzte mit ihnen und warf auch eiymal ein Scherzwort hin, aber jede Einladung, sich außerhalb der Geschäfts­zeit mit dem einen oder andern zu treffen, hatte sie unter dem Borgeben, verlobt zu sein, stets ab­gelehnt. Jetzt schien ihr der persönliche Vorteil, den die Besatzungszeit ihr gebracht hatte, höchst ne­bensächlich. Wurden nicht täglich Dutzende ihrer Landsleute verhaftet, weil sie die neuen Verord­nungen nicht befolgt hatten? Waren nicht viele Tausende geflüchtet und hatten alles, was sie besaßen, im Stich lassen müssen, nur um daS nackte Leben zu retten? Hatte man nicht Hundert- tausenden den Vater, den Gatten, den Bruder, den Geliebten genommen? Kämpften nicht die Heere ihrer Landsleute bet Dixmuiden und an der 8söre? Im Sumpf und BlutI Waren nicht viele Städte und Dörfer vom Feinde zerstört und ver­nichtet, Louvain angezündet, waren nicht die Flu­ren ihrer wallonischen Heimat zerstampft worden, und lag nicht auf allen, die im Lande geblieben waren, die schwere, harte Faust der Eroberer? Solche Gedanken und Empfindungen gewan­nen in den folgenden Tagen immer mehr Ge­walt Wer Hermine. Die Sorglosigkeit, mit der sie bisher ihre Tage gelebt hatte, verschwand aus ihrem Wesen, sie wurde verschlossen, und wenn sie bisher den fremdem Offizieren aus innerster Na­tur freundlich entgegengetreten war» so muhte sie sich jetzt Gewalt antun, um nicht garstig und un­höflich zu sein. Sie war sich Wer den Wandel, der sich in ihr vollzog, und Wer seine Ursachen völlig klar, i^(Fortsetzung folgt.).