Seit« 2 Donnerstag, 1. September 1938 Nr. 20» tete Ansicht, daß nur ein Krieg das deutsche Boll Von der Diktatur erlösen könne. Man muß dieser Ansicht unter allen Umständen entgegentreten. Nicht der Krieg kann Deutschland von der Dikta» tur erlösen, sondern Deutschland kann sich nur selbst von chr befreien. Dazu gebärt aber, daß Hitler nicht immer wieder außenpolitische Erfolge erringen kann. Wenn der Nationalsozialismus einmal keine außenpolitischen Erfolge mehr haben wird, dann wird sich auch die Lage im Innern sehr bald kritisch entwickeln. Ist eine solche Entwick- lung aber erst einmal in Lauf gesetzt, dann werden auch schon kleine Aktionen genügen, um sie vorwärtszutreiben. Heut« hat di« Masse überhaupt kein Selbstbewusstsein, kein Gefühl von der Macht mehr, hie ihr innewohnt. Man muß dem Boll wieder klar machen, daß seine Bedrücker in Wirklichkeit Angst vor ihm haben und dass die Masse den Machthabern von heute viel gefährlicher erscheint, als sie selbst weiß. Bekommt das Boll auch nur eine Ahnung wieder davon, dann wird es nicht mehr nur immer abwarten, bis es von außen erlöst wird. DK Gauverfassung könnte also ein Schritt zur Modernisierung unserer Verwaltung und gleichzeitig zur nationalen Befriedung sein. Allerdings ist die Frage der Verwaltungsreform und nationalen Selbstverwaltung nicht die einzige in dem ganzen Komplex der nationalen Fragen. Ausländische Blätter melden, daß nunmehr ein Plan besteht, möglichst rasch konkrete Antwort auf die Frage, inwieweit das deutsche Bolt auf den Krieg geistig vorbereitet ist. Nach den unabhängig voneinander aus allen Teilen des Reiches einlaufenden Berichten kann festgestellt werden, daß dieses moralische Kriegspotential des deutschen Volles weit gering« ist als 1914. Darüber hinaus kann die Einstellung des Volles zum Krieg auf Grund der Berichte auf folgende Formeln gebracht werden: 1. Die große Masse des Volkes fürchtet den Krieg, niemand glaubt, daß Deutschland siegen könnte. 2. Ein großer Teil der Jugend ist durch die Propaganda des Regime- für den Krieg gewonnen. 8. Erhebliche Teile der entschiedenen Gegner des Regimes sehnen den Krieg herbei, weil ihrer Ueber- zeugung nach nur durch einen Krieg die Diktatur gestürzt werden kann und sie ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne End« vorziehen. So lautet ein Bericht aus Südwestdeutschland : Die allgemeine Situation unter den Hitler- gegnern kann man auf den Satz bringen:„Wenn bloß ein Krieg käme". Die Leute können sich einfach kein anderes Ende der Diktatur vorstellen, als durch eine Niederlage im Kriege. Diese Stimmung ist keineswegs auf die Sozialisten beschränkt, sondern geht bis in die katholischen Kreise hinein. Die Leute sagen sich einfach: Schlimmer als eS jetzt ist, kann es nicht werden, alles ist besser als diese Diktatur. Deshalb wünschen sie den Krieg, obgleich sie an sich Kriegsgegner sind. Dia Stimmung unter den Soldaten In der letzten Zeit sind aus den meisten Landesteilen Meldungen darüber eingelaufen, daß nicht nur unter der Bevöüerung, sondern auch unter den Soldaten sich die Stimmung fortgesetzt verschlechtert. Als Gründe werden dafür schlechte Behandlung, schlechtes Essen, die zweijährige Dienstzeit und die drohende Nähe eines Krieges angegeben. So Meldet ein Bericht aus dem Süden des Landes: Die Soldaten werden von Monat zu Monat unzufriedener. Allgemein ist die Klage darüber, daß die Behandlung und das Essen viel schlechter sind als vor einem Jahre. Dabei klagen nicht nur Arbeitersöhm,, sondern auch Leute aus Beamten-, kreisen und aus Familien, die durchaus national sind. Einige Beispiele: Ein junger Mensch, der eine Führerfunktion bei der Hitlerjugend hat, wollte sich noch im vorigen Jahre freiwillig melden, sobald er das 17. Lebensjahr erreichen würde. Jetzt sagt er unter dem Eindruck der Schilderungen seines älteren Bruders, der bereits beim Militär ist, er wolle lieber warten, bis sie ihn holen. — Auf einer Stube, die elf Mann umfaßt, von denen sechs Oberkanoniere und fünf Gefreite sind, wollten im Herbst noch zehn beim Militär bleiben. Heute ist es nur noch einer. Der beste Beweis für die Stimmung im Heer ist die Tatsache, daß man sich heute schon wieder sehr bemühen muß, die Leute zum Längerdienen zu gewinnen. Bor einem Jahr hatte das Militär noch einen solchen Andrang von Bewerbern für die längere Dienstzeit, daß man diesen Bewer- Vorschläge zu bringen, die geeignet find, die Dünsche aller jener Sudetendeutschen zu befriedigen, die nicht Totalität sondern Demokratie, nicht Krieg sondern Frieden wollen; ein solches konkretes Programm, über das, wie wir hören, die Oeffentlichkeit in den nächsten Tagen amt», sich informiert werden soll, ist lebhaft zu begrüßen. Alle Blätter verzeichnen und zitieren den gestrigen„wilden Angriff", der im„Angriff" Die Verantwortung der SdP Der diplomatische Korrespondent der.Times" stellt die Lage Mittwoch folgendermaßen dar: Es ist klar» daß in amtlichen Kreisen Nachdruck darauf gelegt wird, daß keine Entscheidung angekündigt oder vielleicht getrofßm werden wird, solange kein Bericht darüber einläuft, wie sich die Sudet ende irischen zu dem neuen tschechoslowakischen Angebot verhalten. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich daher in diesem Augenblick eher auf Prag . Beachtung hat hi« di« in der offizösen Deutschen diplomatisch-politischen Korrespondenz enthaltene Kritik gefunden, daß d« tschechoslowakischen Regierung versöhnlicher Geist zugebilligt werde» bevor»och Einzelheiten des Hauptplaues bekannt wwrdeu. Rach hiesig« Ansicht sei es notwendig gewesen, darauf zu verweisen, daß allein di« Tatsache, daß nach Ablehnung d« früheren Anträge ne« gestellt wurden, ei» Beweis ver- söhulichen Geistes siei. Im gegenwärligen Augenblick find die Vorschläge in gewissen Einzelheiten bekannt und in London ist man d« Ansicht, daß sie wenigstens die Grundlage für ernste Verhandlungen bieten. Es sie« Aar , daß die Tatsache und der Jnhatt des tschechoslowakischen Angebots für die britische Politik von erheblich« Wichtigkeit find. Der Geist, in welchem die Sudctendrutfchen das tschechoslowakffche Angebot annehmen werden, wird doppelte Bedeutung haben, denn in ihm wird sich auch die amtliche Meinung deö Deutschen Reiches widerspiegeln. Es wird«llärt, daß ihre Antwort beinahe fertig ist und möglicherweise morgsn früh bekanntgrgeben werden wird. Ihr Inhalt muß auf die offizielle Haltung Londons einen wichtigen Einfluß«msüben. Di« Meinung ist hi« weder düsterer noch freudig«, ab« es be- steht alle Hoffnung, daß der gute Wille und die Verhandlungsbereitschaft aus feiten der Sudeten- deutschen bessere Ausfichteu als bisher schaffen werden. Die Nachrichten, dir d« britischen Regierung von ihren Sonderbeobachtern»»gehen, decken sich sehr eng mit dem amtlichen tschechoslowakischen Berichten üb« die Zwischenfälle in den sudetendent- schen Gebieten. Man glaubt bi« nicht, daß die Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten so schwer- wiegend find, daß sie das Strebten nach ein« bern noch ein Probejahr auferlegen konnte, das sie absolvieren mußten, bevor man sie als Län gerdienende annahm. Heute muß die Armee sich die Leute schon^suchen und die guten Soldaten erzählen immer wieder, wie die Offiziere sie zum Längerdienen zu bewegen versuchen. Allerdings ist der Arbeitsdienst noch weniger beliebt als jener bei der Wehrmacht . Man sagt allgemein: lieber ein Jahr bei den Soldaten als sechs Monate beim Arbeitsdienst. Wadisende Gleichgültigkeit der Bevölkerung Me Berichte über wachsende Mißstimmung und Unzufriedenheit im Dritten Reich bedürfen einer Korrektur: Sie geben ein falsches Bild von der geistigen Verfassung des deutschen Volkes, wenn sie nicht ergänzt werden durch den Hinweis auf die wachsende Entpolitisierung, die zuneh mende Indifferenz, die erstaunliche Abgestumpft heit der grossen Masse des Volkes. In allen Be richten, die über die allgemeine Situation in Deutschland zugehen, kehrt die Klage wieder, daß hinter dem ganzen kraftlosen Geschimpfe weder eine politische Erkenntnis noch ein politischer Wille sichtbar werde. So heißt eS in einem Bericht aus Norddeutschland: Die allgemeine Stimmung in Deutschland ist gekennzeichnet durch eine weitverbreitete poli- tische Indifferenz. Die große Masse des Volkes ist völlig cwgestumpft und will von Politik einfach nichts mehr wissen. So hat z. B. die Angliede rung Oesterreichs nicht enffernt die Begeisterung und nachhaltige Wirkung ausgelöst, wie etwa drei Jahre vorher die Wiedereinführung der allgemei nen Wehrpflicht. Man darf sich durch das allge meine Geschimpfe nicht täuschen lassen. Es wird heute überall und über alles geschimpft, aber nie mand will mit diesem Geschimpfe gegen das Re gime Stellung nehmen. Man kann es heute er leben, daß auch in der Oeffentlichkeit geschimpft wird: in Straßenbahnwagen, in Restaurants usw. und die Regel ist, daß sich dann auch nie mand findet, der das Regime verteidigt. Aber die Regel ist eben auch, daß niemand das Geschimpfe als einen Angriff auf das Regime selbst, als eine politische Stellungnahme-gegen die Diktatur be trachtet. Boll und Regime identifizieren sich nicht. Das Boll fühlt sich nur als Objeü der derzeitt« gen Regierungsform und hat überhaupt nicht mehr den Gedanken, daß es eines Tages wieder Subjett Werden könnte. Das Erschütt«ndste ist die Unkenntnis weiter Kreise über das, was in Deutschland wirklich vor sich geht. Der Berichterstatter hat in den letzten Monaten Gelegenheit gehabt, verschiedenen Leu ten die letzten beiden Bücher von Konrad Heiden zum Lesen zu geben. Dabei hat er immer wieder festgestellt, daß die meisten Leute die Tatsachen, die Heiden in diesen Büchern wiedergibt, einfach I friedlichen^Lösung behtndern könnten. nicht glauben wollen, ganz abgesehen von den Meinungen, die Konrad Heiden äußert. Ein betrübliches Zeichen für die Schwäche enthalten war. Im Deutschen Reich» sagt der und Unreife der Hitlevgegner ist die weitverbrei- i Korrespondent, herrscht merklich wenig« Begeiste- Militärisches und Politisches aus Deutschland (Fortsetzung von Seite 1) rmrg für die suldetendeutfche Frage als Befürcht tung vor de» Folgen» die aus dem Ein tretet: für die Frage entstehen könnte». Im Leitartikel der „TimeS" wird neuerlich bewnt, daß die britische Regierung von dem Streben nach einer friedliche« Lösung auf der Grundlage eines gerechten Kompromisses geleitet ist» zu welchem die Tschechoslowaken und die Minderheiten beitrage» müssen. „Weder Krieg noch Frieden!" Der»Hllustrotoany Kurher C o d'z renn h". ein der Tschechoslowakei nicht wohlgesinntes Blatt, schreibt in seinem Leitartikel vom 29. August, daß ein Angriff Deutschlands auf die Tschechoslowakei keineswegs wahrscheinlich ist, da Deutschland heute nicht mit der Neutralität der Westmächte rechnen könne, die wissen, daß ein Fall der Tschechoslowakei Deutschland den Weg zur Hegemonie in Europa eröffnen würde . Deutschland wäre unüberwindlich. sckald es üb« die Rüstungsreserven der Tschechoslowakei , die Nahrungsmittel Ungarns und die Naphtha Rumäniens verfügen würde. Der Appetit d« deutschen Militärs würde dann von Tag zu Tag wachsen. Die Westmächte würden den Krieg nickt vermeiden und müßten ihn dann unt« viel ävgerea Bedingungen führen. Die Tschechoslowakei ist der letzte Schutzwall, d« der germanischen Hegemonie im Donauraum im Wege steht. Daher können die Westmächte den Fall der Tschechoslowakei nicht zulas sen und Deutschland darf sich nicht eilureben, daß die Weftmäte der Tschechoslowakei , wenn sie angefallen würde, nicht zu Hille eilen würden. In einem europäischen Konflikt würde Deutschland wiederum der ganzen Welt gegenübersteben. es kann nicht einmal auf Italiens Hilfe vertrauen. Dieses würde sicherlick in der«ften Kriegsphase seine Neutralität verkünde» und di« weitere Entwicklung d« Ereignisse abwart«. DaS Resultat des Krieges ist nicht schwer zu«rate». Unt« den heutigen Bedingungen würde ein Krieg den nationalen Selbstmord Deutschlands bedeuten. Abgesehen davon, daß er der Selbstmord des jetzige » deutschen Regimes wäre. Bevftandesarcwmente sprechen allo gegen den Krieg. Man kann sich allerdings auf den Standpunkt stellen, baß Deutschland nickt von Vernunft, sondern von Mvstik regiert wird, die verblendet und taub macht, wie vom Glaube» an seine Sendung, der gegen die Gebote von Verstand und Vernunft zu bandeln heißt. Wenn wir unS auf diesen Standpunkt stellen, entfällt allerdings jede iteberlegung. Man kann nicht vorauSsehen. war ein Mondsüchtiger tun wird. Die deutsche Politik roßt jedoch vielleicht nicht in den Händen von Mondsüchtigen. die den Abgrund nicht setzen, in den fa fallen konnten. Was bedeuten allo die deutsche» Manöver und Drohungen? Ist dies ein V«such der HispaEerung des tschechoslowakischen Staates? Eine Hispanisierung ist nicht leicht bei einer Tschechoslo wakei. die auf alles vorbereitet und zu allem entschlossen ist . Deutschland hat die Waffen des Druckes und der Drohungen mit Erfolg gegen Oesterreich, ob« ohne Erfolg im Mai aegen die Tschechoslowakei an- aewendet. Es wird sie vom neuen bei günstigere» Umständen anwenden. Der Gegner soll umsÄosien und so lange beengt werden, bis er infolge Er« schöpsimg und steter Aufregung fällt. Deullchland fürchtet nicht, daß die Westmächte die Geduld verlieren und zum Gegenangriff übergehen, daher wird es seine Methode nicht aufgeben. aber eS wird keine« Krieg riskieren.„Weder Frieden, noch Krieg"— st lautet die heutjge Richtlinie d« deutschen Politik gegenüber der Tschechoslowakei . Deutschland wüd weder den Krieg erklären, noch ihn herauSprovozie» ren, aber eS wird Europa durch einen Zustand martern, der weder Friede noch Krieg ist und der alle« Staaten und Böllern ungeheure wittschafflicke. finanzielle und soziale Lasten auferlegt . Deutschland rechnet damit, daß eine Reihe von Staate» wegen dieser Lasten seinem Druck nicht wird standhalt« können, daß es zu Wirren und Revolution kommen wird, die es dann für seine Ziele wird auSnützen können. Darauf arbeitet auch die deutsche Propa ganda hin . Deutschland will Europa zu Tode martern. ob« er ist die Frage, ckb«S sich selbst nickt früher erschöpft und zerstört. DIE SPIONIN VON W. STERNFELD Der belgische Advokat Braun, den man Hermine zur Verteidigung beigegeben hatte, hatte ein schweres Amt übernommen. An der Schuld der Angeklagten war nichts zu rütteln, und die Schwere der Tat ließ es unmöglich erschienen, noch etwas für sie zu erhoffen. Er beschräntte sich darauf, an das Gefühl der Richter zu appellieren, um ihr Mitleid zu erregen. Vom Untersuchungsr-chter hatte er gehört, daß Hermine oft stundenlang in ihrer Zelle wehmütige und auch heitere Volkslieder gesummt hatte und daß die Militärposten stehen geblieben waren, um ihrer angenehmen Stimme zu lauschen.—-«Meine Herren Richter", so führte er auS,«vor nicht langer Zeit hat sein« Exzellenz, der Herr Gouverneur, eine Verordnung erlassen, die es verbietet, fortan den Buchfinken die Augen auszustechen, um sie besser singend zu machen. Sr hat mit diesem Erlaß recht gehabt,— man mutzte mit dieser Barbarei, die hier in Belgien noch geübt: urde, endlich Schluß »rachen, und jeder, der ein Herz hat, weiß ihm Dank dafür. Auch die Angeklagte, die heute vor Ihnen steht, des schweren Verbrechens des Hochverrat- angeklagt und vollauf geständig, ist ein solcher Singvogel. Sie hat seine Grazie, seine Leichtigkeit, seine Unbesorgtheit und seine Lieder. Werden Sie auf immer diese Augen dem Licht verschließen, für immer gar ihre Lieder zum Schweigen bringen? Werden Sie auch nur diesem Singvogel die Freiheit nehmen für iimr.er? — Meine Herren Generale und Offiz-erel Sicherlich haben mehrer- unter Ihnen daheim in der Heimat eine Tochter gleichen Alters wie die junge Angeklagte, von gleicher Fri-> sch« und gleicher Zarthest, gleichem Frohsinn und gleicher Heimatliebe,— vielleicht auch mit gleicher Sange-freunde. Einst wird der Tag kommen, wo Sie ihren Lieben zurückgegeben sein werden, sie umarmen können, wo Sie sich mit ihnen wiederfinden im Frieden in der Wärme Ihre- Heims. In der Ecke des Kamins wird Ihr: Tochter Sie bitten:»Vater, erzähle uns aus der Kriegszeit und von Deinen eigenen Erlebnissen!" Sie werden nicht nein sagen, denn es gibt wohl kaum einen Vater, gleich , ob deutsch, belgisch oder französisch, der einem solchen Wunsche nicht willig Folg« leisten würde. Sie werden dann auch von diesem Prozesse erzählen, von dem größte» Spionageprozetz, den eS bisher gegeben hat, und Sie werden berichten, denn Sie können nicht anders, auch von der jungen Angeklagten, die ich hier zu verteidigen habe, und von der Rolle, die sie gespiett hat... Und wenn Ihre Tochter Sie dann fragen wird:»Was hast du, Vater, als du ihr Schicksal in Händen hattest, mit ihr gemacht?"— sagen Sie, meine Herren Richter, was möchten Sie dann antworten:»Ich habe Sie erschießen lassen" oder»Ich habe ihr das Leben ge- schentt". Bon Ihrem heutigen Spruche hängt auch die Antwort an Ihre Tochter ab." Der Effett der Rede war stark. Belgische Ohrenzeugen berichten, daß sie hier auf den harten Soldatengesichtern zum ersten Male ein menschliches Rühren gesehen hätten.— Doch da- Verbrechen, das Hermine begangen hatte, war zu groß, die Folgen für das deutsche Heer waren gu schwer gewesen, als daß«in anderes als das Todesurteil hätte gesprochen werden können. Bon den 39 Menschen auf der Anklagebank hatten nach dem Verdikt neun ihr Leben verwirkt, darunter Hermine, Roels und Lampert, drei«hielten lebenslängliche Zuchthausstrafe, fünfzehn andere wurden zu 180 Jahren Zuchthaus verurteilt, sechs wurden fteigesprochen und der Rest kam mit langjährigen Gefängnisstrafen davon. Auf Veranlassung ihres Verteidigers reichte Hermine noch in der Nacht ein Gnadengesuch ein, obwohl man ihr sagte, daß ihr nur g«inge Aussicht bestehe, daß ihm entsprochen werde. Man sandte ihr einen Priester, damit sie beichte, doch sie Wies ihn zurück. Sie hatte sich nie viel um Religion gekümmert und wollte lieber die ihr noch verbuchende Zett zum Briefschreiben benützen. Sie schrieb an ihren Vater und an ihre Mutter, an ihre Geschwister und an ihren Anwatt, dem sie nochmals für seine warmherzige Verteidigung dankte. Sie überlegte, ob sie auch an Henry , schiechen solle, an den sie in letzter Zett wieder häufiger gedacht hatte. Aber was sollte sie ihm schrechen? Sich mit ihm über ihrer beider Tun unterhalten? Es schien ihr lächerlich,— darum ließ sie es blechen. Mochte er sie im Gedächtnis behatten, so wie« sie vor Jahren gekannt hatte. Noch vor Morgengrauen erfuhr sie, daß Ihr Gesuch vom Gerichtshof befürwortet worden war, daß aber Wochen vergehen könnten, ehe eine endgültige Entscheidung falle. Noch ein zweites Gnadengesuch hatte man mit Unterstützung der Richter weitergeleitet: das des Verräters Lampert.— Me andern Todesurteile blicken bestehen und wurden am Morgen vollstreckt. Sicken Mann, darunter auch Roels, büßten ihre Tat mit dem Tode. Nach vielen Wochen des Wartens kam endlich die Entscheidung. Sowohl Lampert als auch Hermine hatte man begnadigt. Lampert wurde bald darauf ganz in Freihett gesetzt, da er in deutsche Dienste getreten war, und Hermine, deren Todesurteil man in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt hatte, wurde in das Zuchthaus zu Siegburg im Rheinland überführt. Sie wurde mtt Näharbeiten und^itzenklöppeln beschäftigt. Die Behandlung war im allgemeinen gut und freundlich, der Dienst aber streng diszipliniert. Dennoch bewiesen die Aufseher und Wärter menschliches Verständnis für die schwierige Lage der politischen Gefangenen und besonder- für die Motive ihrer Handlungsweise. Hermine war mtt einer großen Zahl Französinnen und Belgierinnen in Einzelzellen interniert. Zuweilen führte man sie unter Bewachung zur Erledigung kleiner Einkäufe in di« Stadt. Trotz diesem verhäüniSmätzig angenehmen Dasein faßte Hermine sehr bald eine Gefangenenpsychose. Unaufhörlich mutzte sie an ihr Schicksal Lenken, im Atter von zweiundzwanzig Jahren ihr Leben hinter Kerkermauern verbringen zu solle». Manchmal wünschte sie, nicht begnadigt worden zu lein. Der Krieg ging weiter, di« SiegeSaussick- ten der Ententemächte schwanden nach den deutschen Berichten mehr und mehr. Ihr graute vor ihrer Zukunft und sie überlegte, wie sie sie ander- gestalten könne. Mit der Zett erwacht« ihr Lebensmut von neuem, aber dieses ZuchthauSda» lein dünkte ihr kaum lebenswert. So wagte sie eine- Tages einen Fluchtversuch in der Hoffnung- über die nicht allzuferne holländische Grenze entkommen zu können. Schon nach wenigen Stunden wurde sie aufgegriffen, und um ihr einen ähnlichen versuch zu ersHveren, transportierte man sie tief« in das Reich hinein. Man brachte sie in dar Zuchthaus zu Delitzsch in Sachsen. Hier crst lernte sie kennen, was Zuchthausstrafe bedeutete. Während in Siejchurg die Häftlinge in Einzelzellen untergckracht waren» lebten sie hier in großen Sälen miteinander . In Siegburg waren ihre Leidensgenossinnen Landsleute gewesen. Französinnen oder Belgierinnen', die die gleick« Sprache sprachen wie sie selbst. Manche von ihnen waren gut bürgerlicher Herkunft, Töchter von Offizieren und Beamten, einem Kulturkreis angehörig, zu dem auch sie zählt«, wenn auch dar gesellschaftliche Milieu ein anderes gewesen war.— (Fortsetzung folgt)
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18 (1.9.1938) 205
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