Nnterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 57. Sonntag, den 21. März. 1897. (Nachvrucl verboten.) Erinnerungen 9] eines Noinmunekümpfevs. Von Henry Brissac. Wir kamen nachts in Versailles an. Man wußte offenbar nicht, was man mit uns anfangen sollte; mein Brigadier führte mich nach einem Gefängnisse, aber man wies mich hier zurück. Wir irrten lange in den verödeten Srraßen umher, um ein anderes Gefängniß zn finden. Schließlich begab sich der Brigadier allein auf die Suche. Triumphirend kehrte er mit der Nachricht zurück, daß mein Gefährte nach dem Bauhos käme und ich, da Mr. Marceron sich weigerte, mich mifzu- nehmen, nach dem Korrektionshause. Ter Schreiber erfüllte die gebräuchlichen Formalitäten und fragte, welcher Konsession ich angehörte. „Keiner/ erwiderte ich. „Aber ivas soll ich denn niederschreiben?" „Schreiben Sie Freidenker." „Aber das ist keine Religion, nicht wahr?" „Dann schreiben Sie Buddhist." Ein Wärter mit einer Leuchte führte mich in ein übel- riechendes Zimmer und entfernte sich schleunigst. Es war, so viel ich in der tiefen Finsterniß bei einem von irgendwo ein- fallenden matten Strahl Lichtes sehen konnte, eine Art Lager- Platz, wo ein Haufen Matratzen lag. Ich tappte mich zurecht, überwand meinen Ekel und streckte mich auf eiue derselben hin. Bei Tage sah ich den geradezu entsetzlichen Schmutz meines Gefängnisses. Ich rief einen Wärter und beklagte mich. „Ihr Aufenthalt hier ist nur ein provisorischer," er- klärte er. „Der Schmutz hier scheint das nicht zu sein," versetzte ich darauf. „Wir sind mit Gefangenen überfüllt." „Muß deswegen dies Zimmer mit Unrath überfüllt sein?" „Sie kommen ja schon diesen Abend fort." „Aber ich verlange, daß dieser Unrath vor mir weg- kommt." Ter Wärter schloß barsch die Klappe und brummte. Aber trotz seines Versprechens verging eine zweite Nacht, bevor ich wieder frei aufathmen durfte. Ich hatte im Korrektions- Hause Bekannte aus meiner bisherigen Gefangenschaft getroffen. Zwei niedrige Säle vereinten uns während des Tages. Ich habe Opfer des Bürgerkrieges gekannt, die lauge nach seiner Beendigung zum Tode verurtheilt und erschossen worden sind. Monarchisten und Klerikale, die eigentlich mehr Soldaten waren, maßten sich das Richteramt au und gaben kaltblütig die Befehle zur Hinrichtung. Zweifelsohne berufen sie sich auf ihr Gewissen, in dem sie ihre Rechtfertigung finden, aber ihr Gewissen war nur das Werkzeug ihres Hasses und Rache- durstcs, den sie gelöscht haben. Ihr Werk war nur eine Reihe von Morden, n 1 einem juridischen Flittern drapirt. Ihre Gefangenen sind' einfach hingeschlachtet worden, mcht getödtet worden durch die regelrechte Justiz zivilisirter Völker, sondern durch Ausuahmsgerichte, von denen es keine Be- rufung gab. Ich schloß Freundschaft mit Elisee Reclus , dem berühmten Geographen, der überdies ein großes Herz besitzt; und mit dem Doktor Edmund Goupil, dessen glänzende Fähigkeiten noch durch fließende Beredsamkeit gehoben werden. Beide errichteten Uuterrichtskurse für wackere Arbeiter. Im Sprechzimnier, in dem sich die Frauen zu Besuch ein- fanden, spielten sich herzzerreißende Szenen ab.. Ach wie so manche sollte dort die letzten Seufzer, das letzte Schluchzen ihres Mannes vernehmen, denn sie erfuhr, daß die nächste Morgenröthe seinen durchlöcherten Leib beleuchten würde. Auch Mr. Fallet, der Almosenier des Gefängnisses, hielt Vorlesungen— über Politik und die Unfehlbarkeit des Papstes. Die Gefangenen waren gezwungen, die Messe zu hören. Das Publikum sang Chor, für die mangelnde Kunst mußte der religiöse Eifer entschädigen. Wir, das heißt das Nichtarbeiter-Publikum, hatten die Freiheit, zuzuhören oder nicht. Wir zogen immer das letztere vor. Einmal aber wohnten wir einer Predigt bei, und was ich profilirte, war folgendes. Mr. Fallet sprach:„Der Werth einer Meinung ist nach der Sittlichkeit ihrer Anhänger zu messen. Man spricht von der Republik . Nun frage ich Euch, meine Brüder: Habt Ihr schon einen ehrbaren Republikaner gesehen? Ich wenigstens habe noch keinen gefunden. Wenn unter denen, die mir zuhören"— und er schleuderte seine Donnerworte nach der Stelle, wo wir saßen—„ein Einziger ist, der bei sich das leugnet, was ich sage, so erhebe er sich und wage es zu gestehen!" Alles verharrte in Schweigen, und Mr. Fallet triumphirte. Eines Sonntags hieß mich ein Wärter, ihm folgen. Als- bald umringten mich drei Gendarmen und führten mich fort. Ich hatte ein Verhör zu bestehen, das— eine Art Pantomime war. Bei meinem Eintritt erhoben sich vier mir unbekannte Personen und besahen mich forschend und prüfend. Ich be- trachtete sie meinerseits mit nicht minder neugierigen Augen. Nach einigen Minuten machten sie Geberden, die offenbar zu bedeuten hatten:„Der ist es nicht!" Der Jnstruktionsrichter und Aukläger-Hauptmann sagte dann lächelnd zu mir:„Sie können sich zurückziehen." Was wollten diese vier stummen Personen von und mit mir? Vom Korrektionshause kam ich in eine Zelle des„Gerichts- Hauses".') Ich bewohnte Nr. 8, wo vordem Rossel untergebracht war. Da die Zelle zu ebener Erde war, fo hörte ich die dumpfen Geräusche auf dem Flurgang, wenn Besucher kamen. Und wenn manchmal ein Wärter versäumte, meine Klappe zu schließen, so konnte ich auf einen flüchtigen Augenblick das Gesicht eines Gefangenen oder das Bajonmt einer Schildwache draußen im Sonnenlichte funkeln sehen. Solche Einzelheiten griff ich alle begierig auf; sie hoben gleichsam eine Ecke des Vorhangs, der zwischen der Welt und mir gezogen war. Und ich empfand geradezu eine Enttäuschung, als mich mein Wärter benach- richtigte, ich müsse die Zelle verlassen. „Und wo komme ich denn hin?" fragte ich. „In den zweiten Stock." „Warum dieser Wechsel?" „Weiß ich nicht!" Offenbar wußte er's; aber unter dem Reglement stehend, hielt er sich nicht verpflichtet, es zu sagen. Meine nächste Zelle war noch enger. Am nächsten Morgen wiederholte ich meine Frage an einen anderen Wärter, der natürlich ebenfalls feine Unwissenheit vorschützte. Ich verlangte sodann, den Brigadier zu sprechen. „Er wird Ihnen dieselbe Antwort geben," sagte der Mensch lachend. „Ich will ihn nach etwas anderem fragen." „Ach so! das ist eine andere Sache." Als der Brigadier kam, sagte ich zu ihm: „Ich frage nicht danach, warum man mir meine Zelle genommen hat. Ich frage blos, ob ich wieder dahin zurück- kommen kann?" „Nichts einfacher als das, wenn Sie wollen." Er gab die betreffende Weisung und war selbst zugegen als ich umsiedelte. Das Bett war frisch gemacht; auf dem Tische bemerkte ich einen großen frischen Tintenfleck. Meine Vermuthungen bestätigten sich später. kJn der Nacht war ein Henkerkarren gekommen und hatte drei zum Tode Verurtheilte abgeholt. Darum war ich in der Nacht durch ein plötzliche» schweres Rollen aufgeweckt worden, hatte ich knarrenden Thüren auf- und schließen gehört! Sie wurden nach Satory ge- bracht unv dort erschossen. Ich kannte sie; sie hießen Aubry, Dalivoust und Saint-Omer. Der eine von ihnen hatte diese Nacht in meiner früheren Zelle zugebracht und aus dem Tische Tinte vergossen. Meine Zelle widerhallte häufig von klatschenden Schlägen; meine Nachbarn übten sich in der eigenthümlichen Sprache, die bei den Gefangenen üblich ist: Ein Schlag bedeutet A, zwei Schläge B u. f. w. Ein Regierungskommissär theilte mir alsbald mit, daß ich vor einer Behörde, die halb Kriegs-, halb Justizrath war, zu erscheinen habe. Ich hatte kaum Zeit, mich vorher mit meinem Advokaten zu berathen. Ich verbreite mich nicht über meinen Prozeß, der ja gleichfalls öffentlich bekannt geworden ist. Ein Husaren- Oberstlieutenant war Präsident; seine *) Gebäude beim Assisengerichtshofe, worin alle Verhafteten, die vor diesem in einer Gerichtsverhandlung zu erscheinen habe», einstweilen Aufenthalt nehme» müssen.
Ausgabe
14 (21.3.1897) 57
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