Unterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 59. Mittwoch, den 24. März. 1897. «Nachdruck verboten.) Erinnerungen eines Monrutunekümpfers. Von Henry Brissac. Wir entdeckten glücklicherweise bald, daß sie keine feind­liche Haltung gegen uns beobachteten. Sie geruhten, uns auf dem Fuße völliger Gleichheit zu behandeln. Einige, die anderer Gesinnung waren, gab's zwar. Die Einen ließen uns die Herablassung merken, die sie einer ganz besonderen Art von Zwangssträflingen schuldig zn sein glaubten. Sie standen mürrisch beiseite, denn Leute, sagten sie, die weder Diebe noch Mörder sind, sind trotz alledem nur versteckte Feinde. Ich war begierig, einiges über die Perbrechen zu er- fahren, die einige von mciuen neuen Kameraden begangen hatten. Ich habe folgendes in Erfahrung gebracht. Ich Hab' glatt gearbeitet," sagte der Erste. Das heißt?" Der Mann zuckte verächtlich mit den Achseln.Ich pflanze mich vor'nen Biedermeier hin und sage: Her mit Deinem Taschenperpendikel und Deinen Batzen! Ist er nun ein Echnurrpeter, so zieh' ich'n blos bis auf'n Paletot aus; ist er aber'» Krakehler, so kühl' ich'n mit meinem Taschen­schnitzer ab." Ich nehm' sie immer mit Vater Franzen vor," sagte ein anderer,'s ist Nacht. Es geht einer in'm einsamen Viertel. Zwei wenigstens schleichen ihm nach. Einer wirst ihm einen Riemen um den Hals, dreht sich um und hält das Opfer, das er drosselt, auf seinem Rücken fest; der andere niacht sich gleich über ihu her und dnrchstöbert seine Taschen. Manchmal bleibt einer todt dabei, manchmal kommt er wieder zu sich. Das hängt von den Umständeii ab, von der Lanne, von der Ein­gebung des Augenblicks." I«h Hab' mit Betrunkenen gearbeitet," erzählte ein dritter. Manchmal setzt es Monatsgeld, manchmal säckelst Du nicht einen lumpigen Franks heraus. Skandal! Dann räch' ich mich wenigstens und hinterlasf' dem Gauch ein geschwollenes Maul!" Ich Hab' mich mit dem Aufknacken(Einbruch) abgegeben," sagte ein Dritter.Bin da eines Tags in Kondition(d. h. stehle irgendwo), denke,'s ist keine Katze zu Haus. Da, was seh' ich? Liegt ein alter Mann im Bett und duselt. Ich zieh' meine Pan- tinen aus, halt' die Puste an, schlenkere mich heran und pack' den Alten bei seinen, Blasrohr(Kehle). Ter macht seine Lichter(Augen) ans, und was denkst Du, wie er mich angekiekr hat?! Oeffne Deine Löffel(Ohren), sag' ich ihm; wenn Du nur muckst, schlag' ich Dich todt! Armer Alter! konnte ja kaum seinen Laden(Mund) vor Schreck aufbringen, war halbtodt. Dann geh' ich zum Schreibtisch und mach' das Geldfach auf. Da seh' ich drei Bankbillete, dreitausend Franken, ohne eine Rolle Fiinf.Frankstücke und Z>v«i-Frankstücke zu zählen. Ich schiebe die ganzeAsche" in die Tasche und lass' die goldene Uhr mitwandern, die, wie ich mich noch erinnere, auf sechs Uhr zehn Minuten zeigte. Bevor ich auskratzte(flüchtete), Hab' ich noch dem Allen einen Merks gegeben. Aber in der Nacht hat mich die Blindschleiche"(Polizei) in einem Bordell geschnappt Ah! noch ein Schlag Siehst Du, nur die Tobten päppeln nichts aus." Und zu wieviel bist Du trotz Deiner gütigen Nachsicht verurtheilt worden?"" fragte ich. Zu zwanzig Jahren. Nun ja!" Ich Hab' junges Weiberfleisch gezogen""(öffentliche Dirnen gehalten), sagte der Fünfte.Ohne zu prahlen aber ich war ein Pckseiner! Die Haare waren mir nicht versäbelt und einen Gewichsten(Bart) halt' ich unter der Nase! Dominosteine vollzählig(alle Zähne im Mund), und die Weiber waren auf mich! Aber einmal nachts hatt' ich stark illuminirt und ließ das Geld rollen(d.h. spielte) und da war meine Frau wichsig. Meiner Six, da Hab' ich ihr ein Fenster im Dachstübchen zerbrochen und da haben sie mich als fixen Schläger ins Bagno geschickt."" Lapierre, der Kommandant derLoire ", der alle vier Bagnos inspizirte, sagte mir, als wir in Sicht von Dakar ") ') Hafenstadt im sranzösifchen Senegambien. waren, zu meinem größten Erstaunen, daß ich Räuber- Hauptmann werden wolle und daß er mich ohne Gnade er- schießen lassen würde. Das letztere kam mir bei einem Sub- jekte wie er nur zu natürlich vor, aber daß er mich als Räuberhauptmann anklagen wollte, schien mir seiner Ein- bildungskraft nicht eben Ehre zu machen. Ohne die eines Ponson du Terrail") auch nur annähernd zu erreicheu, hätte er besseres erfinden können. Ich lebte so einsam als möglich; ich trat aus meiner Jsolirtheit nur hervor, um schauerliche Sittenstudien zu machen. Ich vermied alle und jede Vertraulichkeit mit dem Verbrccher-Auswurf, der mich mit Schauder erfüllte. Meine ganzen Allüren setzten zwischen diesen Unglücklichen und mir eine unüberste.igliche Grenze. Wie hätte ich da die Rolle eines Eaitonche**) spielen können? Ich glaube, die Kundigen würden sich vor Lachen gekrümmt haben, wenn ich so an- spruchsvoll hätte auftreten wollen! Ucberdies, wo war irgend daS geringste greifbare Verbrechen, das mir zur Last siel? Hauptmann einer imaginären Räuberbande, die keine Verbrechen begeht dieses Verbrechen ist im Code Napoleon nicht vor- gesehen! Die Nacht brachte ich, da ich auf das luftige Bett der Hängematte verzichtete, auf der überschwemmten Schiffsdiele zu. Meine Bettdecke war wochenlang feucht oder durchnäßt, denn das Meer drang häufig genug durch die Ritzen der Stück- pforte, in der ich lag, und ausgebeffert wurden sie niemals. Die sich an der Decke über mir schaukelnden Hängematten verursachten ein gewisses rhythmisches Knirschen, während die Nachtrunden melancholisch hinter den Gitterbarrieren auf und ab gingen, und der Schein ihrer Laternen bald auftauchte, bald verschwand. Aus heftiger Versolgungssncht des Kapitäns Lapierre und des ersten Sträflingswärters, Petit, oder infolge eines Fieber- aufalls, der über sie kam, wurden Leibesvisitationen vorge- nommen. Vorwand liefertenWaffen" undaufrührerische Schriften", nach denen gefahndet wurde. Alles mußte aus Deck. Dann mußte man sich hiuknieen und die durcheinander ge- worfenen Sachen wieder zusammenklauben, um sie wieder in die Säcke zu packen, während wüthende Beinamen um unsere Köpfe wetterten. Oft mußten wir uns aus Deck setzen, das von einem eisigen Nordwind gepeitscht wurde, und die Wärter durchsuchten unsere Kleider. Seit etwa drei Monaten wurden wir in diesem schwimmenden Bagno hin- und hergcschleudert. Das aus- gestandene Elend hatte die Fälle von Skorbut und Ruhr sehr vermehrt. Der lächerlicherweiseKrankenzimmer" genannte Raum öffnete sich nur einigen Passagieren. Man war genöthigt, in jedem der sechs Bagnos ein Spital einzurichten. Die Hängematten der Leidenden und derjenigen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, mußten ausgespannt werden von G50 Sträflingen hatte der Too schon 44 dahingerafft. Sechzig legten sich. Nach einigen Monaten waren nur noch 420 am Leben; einige Jahre später nur noch etwa 300. Nur noch acht Tage, und wir mußten uns ausschiffen. Ich dachte nicht mehr an die Drohungen Lapierre's, die mir durch ihre Ucbertriebeuheit lächerlich erschienen. Da trat er in unfern Käfig, sein Begleiter Petit folgte ihm. Er ließ mich vor sich rufen und sprach langsam die folgenden Worte: Sie hätten viel Gutes stiften können und Sie haben Böses zu begehen getrachtet Sie werden es zn bereuen haben." Ich?! Ich hätte Böses zu thun getrachtet?!" rief ich. Genug!" Führt diesen Mensche» in den Karzer und legt ihn in Eisen!" Wir wechselten kein weiteres Wort. Er kehrte mir den Rücken und ging nach der Thür. Als ich beim Ober- arzte vorüberkam, fragte er mich leise:Was soll das heißen?" Ich weiß es nicht," antwortete ich ebenso. Ter Kammerunteroffizier befahl mir, hinabzusteigen. Am Grunde des Kiels wurde eine Thür geöffnet und mir geheißen, ") Romanschriftsteller(1S29 1871), unerreichter, sprichwörtlich gewordener Bielfchreiber, schrieb in zwei Jahren allein 83 Roman- bände und übertrifft an Oberflächlichkeil und flüchtig gesudeller Dar- stellung alles Dagewesene. ") Berüchtigter Gauner und Dieb, wurde 1721 ergriffen und aufs Rad geflochten.