Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 17.

17]

Dienstag, den 25. Januar.

1898.

Sommer ins Land gegangen sind, werden sie ihn hinaustragen XIII.

( Nachdruck verboten.) und an Eva's Seite betten.

Alltagsleufe.

Roman von Wilhelm Meyer- Förster  . Denten Sie, Herr Abraham, eben habe ich meinen Bruder gesehen. Er hat sich verlobt mit einem sehr feinen Mädchen."

Abraham   schaute nur kurz auf und antwortete nicht. Um so mehr interessirte sich der Justizrath beim Mittag effen für diese Thatsache. Anna möchte ihren Bruder doch einmal einladen, er wäre höchst neugierig, ihn kennen zu Lernen.

Abraham   zog sich zu seiner Arbeit zurück, und die beiden blieben allein. Anna holte den Kaffee, und der Anwalt steckte fich eine Bigarre an. Er verfolgte jede ihrer biegsamen Bewegungen, wie sie die Maschine in Ordnung brachte, die Spiritusflamme anzündete, Taffen vom Büffet nahm und gleich einer Hausfrau schaltete. Als sie nahe an ihm vorbei tam, ergriff er fast wider Willen ihre Hand, die in der an­genehmen Ruhezeit immer weißer und weicher geworden war, und hielt sie fest.

" Sie sind für mich ein großer Troft, Anna, Sie müssen immer bei mir bleiben, das müssen Sie mir versprechen." Sie lächelte etwas verlegen, da stand er auf und küßte fie. Verschwunden waren Trauer und ruhiges Nachdenken, das hübsche Mädchen hatte über Erinnerung und gute Vorsäge gefiegt.

Hier wurde seine Stimme etwas gerührt. Abraham   starrte geradeaus, irgendwohin, und ant wortete nicht.

Mehr einer Todten als Lebenden vergleichbar langte die Tante in Nizza   au. Sie hatte sich zweimal auf das fürchter lichste erkältet, fonnte mit dem rechten Bein wegen eines heftigen Rheumas nicht auftreten und sprach ganz dumpf und röchelnd. Die Freundschaft mit Jettchen war längst wieder in die Brüche gegangen, und niemand anders war an allem schuld, als dieses vertrackte und niederträchtige Mädchen, das, während die Tante zwei Stunden hinter Basel   endlich eingeschlafen war, das Fenster entgegen strengstem Verbot geöffnet und hinaus geschaut hatte. In einem Tunnel wachte die arme Tante auf, erschrak über die Finsterniß und fühlte, wie ein eisiger Luft­zug ihr direkt auf den Kopf blies. Sie war so verschlafen, durchfältet und erschreckt, daß sie erst gar kein Wort fand; als es aber gleich darauf hell wurde, sah sie, wie Jettchen, ihr den Rücken wendend, am offenen Fenster lehute und Aepfel  . Glücklicherweise waren beide allein im Roupee und die Tante hatte Gelegenheit, einen Wuthschwall über das gewissenlose Geschöpf zu schmettern. Man wird es nicht für möglich halten, aber Jettchen hatte die Reckheit, sich das zu verbitten. Jawohl, zu verbitten.

Die Tante war ganz entgeistert. Sie wollte fich zu einer That aufraffen, da plötzlich wurde es wieder stocksinster. Tunnels waren ihr ein Greuel. Sie hatte Angst in diesen Dingern und konnte darin nicht athmen. In Berlin   und der Mark Brandenburg giebt es diese Löcher nicht, sie sind eine Am Abend ließ der Justizrath Abraham zu fich rufen. Erfindung fremder Länder. Speziell dieser Tunnel nahm tein Ich habe Dir eine Mittheilung zu machen," sagte er, Ende. Er währte nach Ansicht der alten Dame ein bis zwei die vielleicht nicht allzu überraschend für Dich sein wird: ich Stunden und sie war nahe am Ersticken. Als es endlich licht beabsichtige mich demnächst von neuem zu verheirathen, und wurde, stand Jettchen wieder wohlgemuth am Fenster und zwar mit Fräulein Anna." sa das moofing plöglich an zu schreien. Die Tante stürzte hinzu und alle Abraham zuckte mit feiner Wimper. Haare begannen ihr zu Berge zu steigen. Man sauste an In meinem Hause ist eine Frau nöthig," fuhr der An- einem Abgrunde von unermeßlicher Tiefe vorbei, fuhr die walt fort, und das um so mehr, als ja auch Du in zwei Lokomotive einen Schritt zu weit nach rechts, so lag man Jahren mich verlässeft. Du gehst dann auf die Universität, unten! In dem Schlund branste ein Fluß und wohin man und von der Zeit an ist Dein Hierherkommen immer nur fah, waren riesige, fürchterliche Berge. Dabei unternahm es ein kurzes. Ich habe durch die schweren Schläge, die mich Jettchen, sich weit aus dem Fenster zu lehnen und Aepfel in betroffen haben, die Spannkraft verloren, um noch das Leben den Abgrund zu werfen! Die Tante schloß die Augen und und Treiben der großen Welt mitzumachen. Ich bedarf der fühlte, wie sich alles um sie drehte. So ging das stunden­Ruhe, habe ein stilles Heim nöthig und muß jemand haben, lang, und Jettchen rief bei jedem neuen Abgrund die Tante der später in meinem Alter um mich sein wird." ans Fenster. Diese wollte nicht kommen, aber sie mußte. Sie war wie hypnotisirt. Sie versuchte die Augen fest zu schließen, aber es ging nicht. Sie mußte, wie von höherer Gewalt getrieben, hinausblicken und das Grausige ansehen. Dann wieder tamen Tunnels, und die unglückliche Zante über legte, ob sie die Nothbremse ziehen und aussteigen solle. Aber was dann? Sie wäre einsam und allein an diesen Felsens wänden verloren gewesen. Gegen Abend wurde die Landschaft friedlicher und Jettchen bekam von den zahllosen Aepfeln Leibweh. Sie stöhnte und wimmerte mit einer Zubringlichkeit, die in Hinsicht auf den Zustand der Tante skandalös war. So oft die alte Dame einschlief, wurde sie durch langgezogene Jammertöne neu geweckt, und sie, die kranke, erfältete, rheumatische Frau mußte aufstehen und oben aus dem Handkoffer für dieses abscheuliche Geschöpf Kognat holen. Ja, der beruhigte Jettchen, sie fühlte, wie ihr das gut that. Das macht einem den Magen warm." Nun schlief die Tante ein. Sie träumte von allerlei Schrecklichem, von Kirch­thürmen, dunklen Verließen und daß sie in ihrem Schlaf­zimmer in der Jägerstraße zu Berlin   liege und ein Einbrecher eingestiegen sei. Sie wollte schreien, konnte aber nicht. Endlich riß sie die Augen auf. Der Zug sauste, draußen heulte ein wahrer Sturm, eine kleine Lampe an der Decke warf ein fahles Licht nieder. Drüben auf der Bank lag Jettchen wie eine Todte. Entsett fuhr die Tante auf.

Der Justizrath hatte indessen auf diese Szene sich ges nügend vorbereitet, um durch Abraham's unhöfliches Benehmen sich nicht irritiren zu lassen. Er stand auf, ging an die Thür und rief Anna herein.

" Ich habe meinem Sohne, liebe Anna, mitgetheilt, daß wir uns heirathen werden, und Abraham wünscht Dir seine Glückwünsche darzubringen."

Abraham   stand auf und reichte dem Mädchen seine eis­kalte Hand, dann ebenso seinem Vater. Ueber beide aber sah er fort, als ob er in ein fernes Land schaue.

Der Juftizrath endete die peinliche, aber nothwendige Szene durch eine lange, praktische Unterhaltung mit Anna; wann und wo die Hochzeit stattfinden solle und so weiter. Abraham  wurde in die Rede bisweilen hineingezogen und mußte antworten. Immer aber geschah das nur kurz und einsilbig. Als er fich endlich entschuldigte, er müsse noch eine griechische Arbeit beenden, athmeten die beiden Zurückbleibenden auf, und Aennchen deckte den Tisch für das Abendbrot.

Abraham   nahm das griechische Lexikon und übersetzte die Aufgabe aus dem Thukydides  . Immer wieder wollten sich fremde Gedanken dazwischen drängen: Eva, der Vater, die Fremde, aber er zwang sie nieder und arbeitete. Er hatte Teine Freunde, kein Elternhaus, niemanden,- nun hieß es: vorwärts auf einsamem Wege, groß werden! So groß, daß er hoch herab auf dieses elende Weltgetriebe werde schauen können. Tage und Nächte arbeitete er mit eiserner Konsequenz. Der schwache, verachtete Abraham Simon wollte emporwachsen und erstarken und mit Simson's Kraft die Säulen der jämmer­lichsten Weltordnung niederreißen.

Der Geist erstarkte und der Körper zerfiel. Wenn drei

"

Jettchen!"

-

Aber das Mädchen, freidebleich und schwer athmend, schlief bombenfeft. Die Tante rüttelte, richtete sie auf mit ihren schwachen Kräften! alles vergebens. Jettchen fiel immer wieder um, wie ein Baum. Jeht entdeckte die Tante die Rognakflasche, diese war bedenklich leer geworden.

Es war Mitternacht, der Sturm heulte immer gräß licher, wahrscheinlich fuhr man über Abgründe und direkt in den Tod.