Wnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 102. Donnerstag, den 26. Mai. 1898 (Nachdruck verboten.) «1 Die Jukunftsivohen. Von Georg Hermann . 23. Mai. Auch am zweiten Tage kam er nicht. Und weil die Zukunstsfrohen weder über Krankenkassen noch Altersrente verfügen, noch weniger Pensionen oder Reservefonds besitzen, ja, weil sie nicht einmal für die Zeit ihres Fehlens Entgelt erhalten, so hat sich bei ihnen der Brauch herausgebildet, daß sie sich gegenseitig unterstützen, für den Kameraden, der durch Krankheit in Roth gerathen ist, sammeln. Herr Hoffburg nutzt dieses System nach Kräften aus. Im Lause' weniger Monate ist er ungefähr zwei- bis dreifacher Zwillingsvater geworden— seine Familienverhältnisse scheinen etwas verworren zu sein, und jedesmal hat man lächelnd für ihn gesammelt. Auch für Lintrow sammelte man am zweiten Tage. Klüwer und Lorenz hatten es angeregt. Der Sekretär, welcher die Liste zuerst bekam, versah sie mit der Bemerkung:„Der L. hat zwar erst einen Tag gefehlt, aber er schleppte sich nur mühsam her. und es wäre ihm unbedingt geholfen, wenn man ihn in die Lage versetzen würde, sich einige Zeit zu ruhen."— und subskribirte eine Mark. Ausser Hubert und Hoffburg betheiligten sich Wohl alle an der Spende. Der Doktor zeichnete sünszig Pfennig, der Pastor gab fünsundzwanzig Pfennig und seinen Segen, das machte zusammen fünfundsiebzig Pfennig. Es kamen im ganzen ungefähr vierzehn Mark heraus. Mir fiel das Amt zu, das Geld zu überbringen und Lintrow vor allem gute Besserung zu wünschen... Am Nachmittag, es war ein freudiger, sonniger Nach- mittag, begab ich mich zu ihm. Er wohnte draußen in einem jener grauen, sünsstöckigen Häuser, mit zwei Vorder- und vier Hintcraufgängen, wo es mehr Parteien als Fenster giebt und fünfmal mehr Kinder als Parteien. Sein Zimmer lag im Rückgebäude. Auf dem Hofe standen Rollwagen, Tonnen, Sägeblöcke. Unter einem Schutzdach von Theerpappe betrieb ein Stellmacher sein Handwerk. Zwischen Faßdauben, Latten, alten Weinkörben schnüffelten langohrige Kaninchen umher. Ein melancholischer Schimmel, den der Kutscher mit seiner Jacke zugedeckt hatte, zupfte an einer Hand- voll Heu. Kinder sonnten sich in Reihen auf den Treppen; Kinder wippten sich an einem Eisengitter; Kinder krochen unter und auf dem Wagen umher; Kinder sahen mit offenen Mündern und großen Augen demStellmacher zu; Kinder spielten Murmeln; Kinder schlugen Ball; Kinderzählten ab:„Ecne, meene, ming, mang, kling, klang, rose, zose, packe Dich, Eier, Weiher, weg— weg!" Kinder— so viel als ob sie die Sonne ausgebrütet hätte, von zwei bis zwölf Jahren, vom hellsten Hellblond bis zum tiefsten Zigeunerbraun. Mit Stubbsnasen und Sellerie- zöpfchen, mit Watschelbcinen und Quarrschnuten, in kurzen und langen Hosen, mit bloßen Füßen, Pantienen, Pantoffeln, Halbschuhen— sogar mit Stiefeln. Lintrow wohnte hoch oben unter dem Dach. Ich dachte, er hätte als alleinstehender Junggeselle ein möblirtes Zimmer ab- gemiethet und war erstaunt, als ich ein blankes Messingschild mit seinem Namen gewahrte. Auf mein Klopfen öffnete mir ein Mädchen. Sie mochte acht— neunundzwanzig Jahr sein, trug ein blaues, einfaches Kleid, war groß, blaß, von ernster, aber schon verjährter Schönheit. Sie bat mich, einzutreten, ich möchte aber entschuldigen, Herr Lintrow liege leider im Bett, sie hoffe, ich würde es nicht so genau nehmen. „Ernst, ein Herr aus dem Bureau, der Dich besuchen will." Im Zimmer war alles von peinlich sauberer Aermlich- keit; an den Fenstern prangten Vergißmeinnichttöpfe. Auf dem Tisch, auf einem Kantentuch stand eine Wasserkaraffe mit Gläsern. Die Sonne fluthete in breiten Strömen herein und legte sich in goldigen Quadraten auf die Dielen. Die scharfgeschliffenen Gläser warfen tanzende Lichtfunkcn an die Decke, und von der Karaffe huschten Kreise und Ovale an den Wänden entlang. Lintrow lag da, matt und lächelnd. Bis an die Brust war er zugepackt, die Arme ruhten auf der Decke. Sein Nachthemd war vielfach gestopft und geflickt, aber blendend weiß, blendend weiß wie Laken und Bettzeug. Er drückte mir die Hand. „Nun, wie geht's Ihnen, Herr Lintrow?" „Danke, so... so..." „Wir denken, daß Ernst morgen wieder inS Bureau gehen kann. Er fühlt sich heute schon viel besser wie gestern; gestern war es ja nicht gut." Erst jetzt fand ich Gelegenheit, das Mädchen genau an- zusehen. Ihre Figur schien fast übcrschlank, ihr Gesicht hatte den Zug müder Trauer, aber auch die blasse, herbe Lieblich- keit der Madonnen Boticellis. Die hellen Augen waren dunkel umzogen, über der hohen, reinen Stirn lag daS aschblonde Haar anspruchslos gescheitelt. Ihre Hände erschienen lang und schmal, nicht fleischig, nicht mager, aber ohne jede ficht- bare Aedcrung. Die schlanken Finger spitz und beweglich, keine Verdickung an den Gelenken störte den Fluß der Linien. Auch etwas Anderes bemerkte ich an ihr, was mir vorher entgangen, daß sie in anderen Umständen war. „?hln, Mäuschen, mußt Du nicht jetzt Stunde geben?" „Nein, ich habe abgeschrieben." „Weshalb denn, Maust „Ich möchte bei Dir bleiben." „Ja, da hast Du recht. Kind." Er griff nach ihrer Hand; sie setzte sich zu ihm ans die Bettkante strich ihm über die Stirn und küßte ihn. „Hast Du denn für den.Herrn nichts'i Mach ihm eine Tasse Kaffee. Ja, ja, die werden Sic schon annehmen." Das Mädchen ging hinaus. „Ich soll Sie von allen bestens grüßen, besonders von Herrn Lorenz und Herrn Klüwer, und hier schicken sie Ihnen eine Kleinigkeit, damit Sie sich eilt wenig bester pflegen können." r:„Danke, danke! Aber wissen Sie, die Herren sollten doch froh sein, wenn sie allein nichts haben, und nicht von ihren paar Pfennigen noch fremde hungrige Miiiilcr stopfen. Ja, ja, es haben ja alle es sehr gut mit mir gemeint, aber es ist'an sich unsinnig; wenn ich selbst nichts habe, dann muß eben die Gutmüthigkeit aufhöre», dann kann ich nichts mehr an andere abgeben." „Aber, Herr Lintrow, regen Sie sich doch nicht auf!" „Nein! Das kann mich entsetzlich ärgern! Ich muß die Leute berauben, die selbst nichts haben! Wenn ich sie nicht zu beleidigen fürchtete, ich möchte am liebsten das Geld nicht annehmen, so nöthig ich auch jeden Pfennig brauchen kann, nicht mehr für mich, aber..." er wurde plötzlich weich, und zwei dicke Thränen liefen ihm über das magere Gesicht. Mit der Hand winkte er mir, mich zu ihm herabzubengen, und sagte ganz leise, indem er scheu nach der Thür sah:„Uin Himmelswillen, sagen dem armen Mädchen nicht, daß es mit mir zu Ende geht." „Herr Lintrow, wie können Sie so etwas reden!" „Ja.. morgen Abend sterbe ich, ich lvciß es. Sie glaubt immer noch, daß ich wieder gesund werde.. Ach, ich möchte sie ja so gern ehrlich machen, sie hat eS verdienr, tausendmal eher wie jede andere, ich hätte mich ja schon längst erschossen, wenn ich sie nicht gehabt hätte. Wir beide haben nichts daraus gegeben, wir haben das Jahr zusamylen- gelebt, glücklicher>vie Mann und Frau je zusammen leben, »nd jetzt thnt es mir doch leid, daß wir es verabsäumt haben. Es hätte ihr vielleicht vor der Welt einen andern Anstrich geben können, und das Kind hätte meinen Namen getragen. Wenn ich bedenke, es soll ein Geschöpf in die Welt gesetzt Werden, das ebenso elend wird wie ich... wissen Sie, das peinigt mich seit Tagen, ich kann keine Sc- künde schlafen, so peinigt es mich..." Ich war nicht fähig, auch nur ein Wort zu erwidern. Das Mädchen trat herein und brachte den Kaffee. „Ja, das ist wirklich sehr freundlich, und ich sage allen meinen besten Dank. Denke Dir nur, Maust, die Herren haben uns ein Geldgeschenk von vierzehn Mark gemacht." „Gott sei Dank I Schatz, Wie wär's? Willst Du nicht auch eine Tasse Kaffee?" „Nein, Maust, gicb mir einen Schluck Wasser." Er trank und sah mich dabei lächelnd an. „Sic wundern sich wohl? Das ist nur meine Ncnommir-
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15 (26.5.1898) 102
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