Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 229.

87)

Donnerstag, den 24 November.

( Nachdruck verboten.)

Neu- Karthago .

Roman von Georges Eethoud.

Als der Schiffsrumpf hinter der Biegung verschwunden ist, heftet sich Laurent's Blick auf den Schornstein, der wie ein wandernder Kirchthurm über den Wogen dahinstrebt, bald ist nur noch die schwarze Rauchsäule sichtbar, die immer dünner und farbloser wird, bis sie mit dem Nebel zusammenfließt.

Als der falte, niederrieselnde Sprühregen Laurent aus feinen Träumen aufschreckt, bemerkt er erst, daß er nicht allein ist. Der Pfarrer von Willeghem steht neben ihm und folgt wie er der in der Ferne verschwindenden Gina". Zwei dicke Thränen bahnen sich langsam über seine gefurchten Wangen einen Weg. Schweren Herzens schreitet Laurent wieder zur Stadt zurück. Das lärmende Getöse von Hacken und Schaufeln mischt sich mit dem Rasseln der Krahnketten, dem Gepolter der in die Schiffe verladenen Güter und dem Pochen der Kalfaterer zu einem betäubenden Lärm.

Um die Hafenanlagen zu erweitern, hat man sich zur Niederlegung der alten Stadtviertel entschlossen und ist just mitten in der Arbeit. Schutt und Mauertrümmer versperren überall den Weg, klaffen de, der Giebel beraubte Häuschen zeigen ihre blutigen Mauerstümpfe, an denen wie Fleisch- und Hautfegen die zerrissenen Tapeten herumhängen.

1898

glocke in die Ohren. Da haben mir meine erregten Sinne einen bösen Streich gesptelt! suchte er sich zu trösten. Aber nein, er erinnerte sich zu genau der Stimme und des ausländischen Accents des Agenten, und als er die Augen erhob, sah er dort hinten bei den Docks den Mann in leib. haftiger Gestalt in der ihm eigenen Art dahintänzeln.

Laurent raffte sich auf und schleppte sich niühsam nach dem Quai Sainte- Adelgonde, wo sich die Bureaus der Firma Béjard, Saint- Fardier u. Komp. befanden. Als er auf den ,, Bummlermarkt" einbog, sah er mit lebhafter Verwunderung, daß alle die sorglofen Tagediebe den gewohnten Standort verlassen hatten. Jan Vingerhout war eben auch bei diesen Bummlern bekannt und beliebt und man wußte ja, daß er sich an Bord der Unglücks- Gina eingeschifft hatte. Die bestürzten Mienen dieser nicht eben weichherzigen Gesellen, die hinter der die Auswanderungsagentur belagernden Menge den Quai entlang standen, bereiteten Laurent auf das Schlimmste vor. Gleichwohl blieb ihm im tiefsten Herzens. grunde ein flein wenig Hoffnung. Es wäre wahrlich nicht das erste Mal gewesen, daß ein Schiff, daß man schon als verloren betrauert hatte, wohlbehalten im Bestimmungshafen eingelaufen war.

Paridael bahnte sich einen Weg durch die Schaar der Landleute, Matrosen und fassungslosen Frauen, die gemeinsame Angst und Sorge hergeführt hatten. Ein düsteres Schweigen brütete über der Menge, das nur zuweilen durch ein rasch unterdrücktes Schluchzen unterbrochen wurde.

Laurent hatte sich zu dem Schalterfenster des Bureaus vorgedrängt.

Die Breschen, die hier und da in den Komplex der alten, vor der spanischen Herrschaft erbauten Häuser, die sich wie fröstelnde Greifinnen eng aneinanderschmiegten, geschlagen find, öffnen einen Durchblick auf noch ältere Bauwerke und Ist es wahr, mein Herr, was man in der Stadt er. enthüllen Spuren wunderlicher tausendjähriger Thürmchen und romanische oder römische Burgtrümmer aus dem Kind­heitsalter der Stadt.

zählt.."

Er stotterte Silbe für Silbe heraus und bemühte sich, im Tone eine zweifelnde Hoffnung zum Ausdruck zu bringen. Ja gewiß! Wie oft soll man's Euch denn noch wieder­holen!... Da sind eben ein Baar Hungerleider weniger in der Welt. Und jetzt lassen Sie uns gefälligst ungeschoren!"

Das stolze Karthago stieß nicht nur den lleberfluß seiner Bevölkerung von sich und verbannte fein Proletariat, es zerstörte auch, damit noch nicht zufrieden, seine armseligen Heimstätten. Es benahm sich wie ein aufgeblähter Empor Nur ein Saint Jardier war im stande, sich unter diesen fömmling, der einen alten Herrschaftssik von Grund aus um- Umständen in solch ungeheuerlicher Weise auszudrücken. baut und ihm ein neues, elegantes und aufdringliches Aeußere Laurent stürzte wie ein Rasender auf den Verschlag, in den giebt, ohne auf die alten Reliquien und die Spuren ciner das Schalterfenster eingelassen war; die schwache Holzwand ruhmreichen Vergangenheit die geringste Rücksicht zu nehmen. fiel unter der Wucht des Anpralls nach innen, Paridael flog Die Nachricht von dem Vandalismus, dessen sich die reichen wie eine blindwüthige Bestie hinterher und kriegte den Mann, Schwachköpfe au seiner Vaterstadt schuldig machten, hatte der ihm so freundlichen Bescheid gegeben hatte und der niemand Laurent so verstimmt, daß er sich geflissentlich von dem Schau- anders als Better Guillaume's ehemaliger Sozius war, mit platz des Zerstörungswertes ferngehalten hatte. Und heute festem Griff zu packen. Ohne die Dazwischenkunft der jungen wollte es der Zufall. daß er gerade in der Stunde, in der seine Leute. die den Ueberfallenen den Händen seines Angreifers Freunde von ihm gegangen waren, unfreiwilliger Zeuge der entwanden, wäre es dem Pascha" übel ergangen. Laurent Demolirarbeit werden werden mußte. Der Gegensatz zwischen hatte ihn schon halb erdrosselt und hielt in jeder seiner ge­dem geschäftigen Treiben des Hafens und den Trümmern, ballten Hände eines der graumelirten Bartkotelettes des die sich an den Quais häufen, ist nicht dazu angethan, seine Seelenverkäufers. Während mehrere der Angestellten den wüthenden

Stimmung zu verbessern..

Laurent irrt weiter durch die von der Zerstörungswuth Paridael überwältigten, führten ihre Kollegen den miß­pietätloser Progen bedrohten Straßen. Unter ihren geriffelten handelten, vor Furcht halbtodten Saint- Fardier, der unaufhörlich Mauerkronen nehmen die trauernden Façaden menschlichen jammerte und nach der Polizei rief, in Béjard's Privat­Ausdruck an, wie das schmerzverzerrte Antlitz eines Sterbenden fomptoir. Die gefühlsrohe Bemerkung des Pafcha war auch schaut ihr verwittertes Steingesicht, die meergrünen Scheiben den draußen Stehenden zu Ohren gekommen. Wehe dem der vieltheiligen Fenster weinen wie Augen von Blinden , und aus der mißtönenden Musik, die aus irgend einer Spelunke von fernher herüberflingt, schluchzt ein legtes Echo des Wo kann es schöner sein?" der Willeghemer Dorfkapelle.

XXII.

Vier Wochen nach der Abfahrt der Auswanderer be­gegnete Paridael eines Morgens einem bekannten Agenten, der in geschäftiger Eile athemlos dahinranute und ihm im Vorbeigehen zurief Die Gina" ist mit Mann und Maus angesichts der brasilianischen Küste untergegangen. Die Nach richt ist im Bureau Veritas ausgehängt!"

Polizisten, der es gewagt hätte, Laurent, den die Menge als Helden feierte. zu verhaften! Die Aufgeregten bezeigten nicht übel Lust, das edle Freundespaar aus seiner Zufluchts­stätte auszutreiben, um ihnen die verdiente Züchtigung an­gedeihen zu lassen. Deshalb hielt es Béjard in Rücksicht auf das Gejohle und Toben der Menge auch für angezeigt, Laurent schleunigst hinausbefördern zu lassen, um dann, nach­dem das geschehen, die Thüren zu schließen und das Personal für den Rest des Tages zu entlassen. Er selbst schob den rathlosen Saint- Fardier durch eine Hinterthür auf ein menschen­leeres Gäßchen, von wo aus beide, vorsichtig nach allen Seiten Umschau haltend. ihre in der Neustadt gelegenen Hotels auf Umwegen zu erreichen fuchten.

Der Agent trabte. ohne sich umzusehen, weiter. In seiner Sorge, die Unglücksbotschaft weiter zu verbreiten, wurde er ,, Den Schlingel langen wir uns schon noch!" sagte sich des Eindrucks gar nicht bewußt, den die Nachricht auf Béjard unterwegs zu Saint- Fardier, der seine blutigen Paridael hervorgebracht hatte. Laurent torfelte wie ein Be- Wangen mit dem Taschentuch betupfte. Im Augenblick darf trunkener, schloß die Augen und mußte sich, da ihm die Beine man garnicht daran denken, ihn festnehmen zu lassen, ja den Dienst zu versagen drohten, auf der Schwelle der nächst dieses Vergnügen werden wir uns auch noch für die nächste gelegenen Thür niederlassen. Die verhängnißvollen Worte, Beit versagen müssen, denn man hat schon reichlich genug über die er eben gehört, flangen ihm wie der Ton der Todten- das kleine Malheur geredet, und es ist durchaus nicht wünschens­