Mnlerhaltungsblatt des Horwärls Nr. 33. Mittwoch, den 15. Februar. 1399 (Nachdruck verboten) Dev lekzke Gsg vinrs Vevuvkheilken. Sj Von Victor Hugo . Aus dem Französischen von Paul Linsemann. XV. Unglücklicherweise war ich nicht krank. Am anderen Morgen muhte ich den Krankensaal wieder verlassen. Die Zelle nahm nnch wieder auf. Nicht krank! In der That. ich bin jung, gesuud und stark. DaZ Blut stockt noch nicht in meinen Adern, alle meine Glieder gehorchen meinen Launen, ich bin kräftig an jkörper und Geist, für ein langes Leben Wohl ausgerüstet; ja, all' das ist wahr. und dennoch habe ich eine Krankheit, die mir Menschenhand verursacht hat. Seitdem ich aus dem Krankensaal heraus bin, ist mir eine peinigende Idee gekommen, eine Idee, die mich verrückt machen könnte. Ich hätte vielleicht entfliehen können, wenn man mich dort gelassen hätte. Die Aerzte, die barmherzigen Schwestern, schienen Interesse an niir zu nehmen. So jung sterben und einen solchen Tod: Man hätte glauben können, daß sie nnch beklagten, so sehr waren sie um mein Bett geschäftig thättg. Pah I Neugier I Und dann die Leute, die heilen, heiien Euch Wohl von einem Fieber, aber nicht von einem Todesurtheil. Und dennoch würde ihnen dies so leicht sein l Sie brauchten nur eine Thür auflassen l Was würde ihnen das aus- machen? Jetzt giebt es keine Möglichkeit mehr! Meine Revision wird zurückgewiesen werden, weil alles in Ordnung ist; die Zeugen haben richttg ausgesagt, die Vertheidiger gehörig ver- theidigt, die Richter ordentlich gettchtet. Jchzählenichtmehr darauf, wenn nicht— Nein, Thorheit I Keine Hoffnung mehr! Die Revision ist ein Strick, der euch über den Abgrund hält, und den man jeden Augenblick knarren hört, bis er reißt. Es ist, als ob man den Kopf sechs Wochen lang unter der Guillottne zu liegen hat. Wenn ich begnadigt würde? Begnadigt! Und durch wen? und warum? und wie? Es ist unmöglich, daß man mich begnadigt! Es nmß ein Exempel statuirt werden, wie sie sagen. Ich habe nur noch drei Schritte zu machen: Bicötre, die Conciergerie und den Gröveplatz. XVI. Während der wenigen Stunden, die ich im Krankenhause zugebracht, habe ich mich an mein Fenster ins Sonnenlicht gesetzt, d. h. ich habe vom Sonnenlicht das bekommen, was durch das Gitter spärlich hindurchdrang. Ich saß dort, das müde Haupt in beide Hände vergraben, die es kaum stützen konnten. Meine Ellbogen auf die Kniee, die Füße auf dem Querholz zwischen den Stuhlbeinen; denn die Mattigkeit ist so groß, daß ich ganz zusammengefallen bin. als ob ich nicht mehr!knochen in den Gliedern noch Muskeln im Fleisch habe. Der erstickende Dunst des Gefängnisses belästigte mich mehr als je. Noch hallte in meinen Ohren der Lärm der Retten der Bagnosträflinge. Ich empfand einen großen Ekel vor Bicötre. Meiner Meinung nach hätte Gott etwas Mitleid mit mir haben und mir zum mindesten einen kleinen Vogel senden können, der dort, mir gegenüber, auf dem Dachfirst singen könnte. Aber fast im selben Augenblick vernahm ich unter meinem Fenster eine Stimme, nicht die eines Vogels, aber was mir noch lieber war, die reine, frische, weiche Stimme eines jungen Mädchens von fünfzehn Jahren. Ich erhob den Kopf, ich lauschte begierig dem Liede, das sie anstimmte. Es war eine langsamcZund schmachtende Weise, ein trauriges und klagendes Girren. Der halb offene, halb verborgene Sinn dieses Klage liedes, der Kampf des Räubers mit der Wache, der Dieb, der ihm begegnet und den er zu seiner Frau schickt mit der fürchterlichen Botschaft: Ich habe einen Menschen getödtet und bin verhaftet; die Frau, die nach Versailles mit einer Vitt- schnft eilt, und die Majestät, die in Zorn geräth und dem Verbrecher mit dem Tanze in der Luft droht; und das alles nach der süßesten Melodie gesungen und mit der lieblichsten Stimme, die jemals mein Ohr vernommen I... Ich war wie gelähmt. Es war widerlich, daß dieser gräßliche Text von jugend- lichen, keuschen Lippen gesungen wurde. Man hätte ihn mit deni Schleim einer Schnecke auf einer Rose vergleichen können. Ich kann nicht wiedergeben, was ich empfand: ich war zugleich verletzt und angenehm berührt. Der Jargon der Vcrbrccherhöhlcn und des Bagnos, diese ekle und wahrhast blutbefleckte Sprache, von der Stimme eines jungen Mädchens wiedergegeben, die so lieblich von der Kinderstimme zur Frauen- stimme übergeht. All diese häßlichen und unförmigen Worte graziös gesungen und getrillert! Ach, ein Gcfängniß ist doch etwas Abscheuliches! Ein giftiger Krankhcitsstoff ruht dort, der alles befleckt. Alles wird darin besudelt, selbst der Gesang eines Mädchens von fünfzehn Jahren I Ihr findet dort einen Vogel, und er hat Koth auf dem Flügel; ihr pflückt dort eine Blume, ihr riecht daran— sie stinkt. xvn. O, wenn ich fliehen könnte, wie wollte ich durch die Felder laufen I Nein, laufen dürfte ich nicht I Das würde man bemerken und Verdacht schöpfen. Im Gegentheil, langsam gehen, den Kopf hoch und singen. Versuchen, einen alten, blau-roth ge- streiften Kittel zu bekommen. Das würde gut verkleiden. Alle Gemüsegärtner der Umgegend tragen einen solchen. Ich weiß bei Ärcueil ein Dickicht bei einem Sunrpfe, wohin ich alle Donnerstage mit meinen Freunden ging, als ich noch auf der Schule war, um Frösche zu fangen. Port würde ich mich bis zum Abend verbergen. Wenn die Nacht hereinbricht, würde ich meinen Weg fort- setzen. Nach Vincennes zu. Nein— der Fluß würde mich daran verhindern. Ich würde nach Arpajon gehen.— Noch besser, den Weg auf St. Germain zu einzuschlagen und nach Havre zu gehen. Von dort könnte ich mich nach England einschiffen.— Ich komme in Longjumeau am Ein Gendarm geht vorüber, er frägt nach meinem Paß... Ich bin ver- loren! Ach! Unglücklicher Träumer! Durchbrich, doch zuerst die feste Mauer von drei Fuß Dicke, die dich umschließt I,.. Der Tod steht vor mir! Wenn ich noch daran denke, wie ich als kleiner Junge hierher nach Bicötre kain, um den großen Brunnen und die Tollhäusler zu sehen! XVHl. Während ich alles das niederschreibe, wird das Lampen- licht ganz fahl; der Tag ist angebrochen, die Uhr der Kapelle hat sechs geschlagen. Was soll das heißen? Der wachthabende Schließer ist soeben in meine Zelle eingetreten, er hat seine Mütze ab- genommen, mich gegrüßt, sich entschuldigt, daß er mich stört und mich mjt möglichst sanfter Stimme, soweit er es konnte. gefragt: was ich zum Frühstück wünsche?... Ein Schauder hat mich ergriffen.— Also heute soll eS schon sein? Ja heute l Der Gefängnißdirektor hat in höchst eigener Person mir einen Besuch gemacht. Er hat mich gefragt, womit er mir etwas Angenehmes oder Nützliches erweisen könne; er hat die Hoffnung ausgesprochen, daß ich nicht nöthig gehabt habe, mich über ihn oder einen seiner Untergebenen zu beklagen; er hat sich mit Theilnahme nach meiner Gesundheit erkundigt und wie ich die Nacht zugebracht hätte; und als er mich ver- ließ, hat er mich„Herr" tttulirt. Heute also! XX, Der Direktor glaubt nicht, daß ich mich über ihn und seine Untergebenen zu beklagen habe. Er hat recht. Das würde häßlich von mir sein, wenn ich mich beklagen wollte; sie haben ihres Amtes gewaltet, sie haben mich gut bewacht; und dann sind sie von Anfang bis zuletzt höflich gewesen. Muß ich nicht zufneden sein?-
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16 (15.2.1899) 33
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