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palière über einen frischen Grabhügel zu leiten, mußte er zu seiner Enttäuschung sehen, wie andere die vom Notar zurückgelassenen Fußtapfen durch die ihrigen wieder ver­wischten.

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Glücklicherweise hielt ihn die Vorsehung nur sie konnte etwas Derartiges fertig bringen!- für den Verlust schadlos. Während er mit La Vaupalière nach Hause zurückkehrte, unterhielt er ihn mit gleichgültigen Dingen, studierte ihn aber dabei unaufhörlich, ob er an ihm nicht irgend ein Zeichen von Arsenikvergiftung wahrnehmen könnte: Triefen der Augen, Entzündung der Augenlieder, einen Ausschlag, Heiserkeit, Ab­blättern der Haut. Plötzlich gewahrte er mit Freude, die sein Herz stärker schlagen ließ, auf dem Rockfragen des Notars ein ausgefallenes Haar. Sofort war sein Entschluß gefaßt, sich dieses Haares zu bemächtigen und es mit der ihm von Jsidor gebrachten, noch in seinem Besitz befindlichen Locke zu vergleichen; dann mußte sich ja sofort herausstellen, ob die Locke wirklich von Courteheuse und nicht vielmehr von La Baupalière herrührte. Während er mit La Vaupalière plauderte, blich er plötzlich stehen, starrte auf den Rockfragen des Notars, erfaßte mit dem Daumen und Zeigefinger lebhaft das Haar und that, als ob er es fortwürfe, hielt es aber fest in der Hand und sagte lächelnd zu La Vaupalière, der ihn er­staunt anblickte:

Es war nur ein Haar!"

La Vaupalière war einen Augenblick betroffen; dem Apotheker entging dies nicht, aber er machte keine Bemerkung, sondern setzte seine Unterhaltung nur noch mit beschleunigterem Redeflusse fort und reichte ihm, als sie sich trennten, an­scheinend ganz herzlich die Hand:

Auf Wiedersehen, mein lieber Notar; bitte empfehlen Sie mich bestens Madame La Vaupalière!"

Als er nach Hause tam, winfte er seiner Frau, die an der Kasse saß, und sie folgte ihm in das Laboratorium.

" Sei so gut," sagte er ,,, und breite einen Bogen weißes Papier auf meinem Schreibtisch aus."

Als sie dies gethan hatte, legte er seine bis dahin krampf­haft geschlossene Hand auf das Papier und öffnete sie; allein das Haar fiel nicht auf das Blatt, sondern blieb auf seiner schwizenden Handfläche kleben; er mußte es mit den Fingern abnehmen..

Was ist denn das?" frug sie, verwundert über die Sorgfalt, mit der er diese Manipulationen ausführte.

Er blickte sie triumphierend an und sagte mit gedämpfter Stimme:

,, Ein Haar, wie Du siehst, ein einfaches Haar; wie dünn es aber auch sei, so ist es doch stark genug, um La Vaupalière unter die Guillotine zu bringen."

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Geh', Du redest Unsinn!"

Er erzählte ihr, wie er die Füße von La Vaupalière beobachtet und wie er das Haar von ihm abgenommen habe.

Das hast Du gewagt?"

10ch wage immer, was zu thun meine Pflicht ist." " Aber bist Du auch sicher, daß das Haar denen gleicht, die Dir sidor überbracht hatte?"

Das werden wir sehen, ich habe es gerade zu dem Zweck genommen, es dieser Prüfung zu unterziehen."

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Er ging an einen verschlossenen Schrank, auf welchem ge­schrieben stand: Dokumente", und öffnete ihn; er war voll bon nach Buchstaben geordneten Paketen; er nahm das mit C bezeichnete und zog ein Papier, auf dem der Name Courteheuse stand und in welches eine Haarlocke eingewickelt war, hervor.

Dann legte er neben zwei aus der Locke gezogene Haare das vom Ueberzieher La Vaupalières weggenommene; es war fein Unterschied in der Farbe, Stärke und Weichheit zwischen ihnen, sie waren genau dieselben.

Nun?" sagte Turlure.

" Kann das Haar von zwei Köpfen nicht einander ähn­lich sein? Courteheuse war ja auch blond."

Gewaltiger Frrtum!" rief er, unter allen Rassen, die die Welt bevölkern, giebt es nicht zwei Köpfe, die völlig gleiches Haar haben; und wenn selbst das bloße Auge sich täuschen läßt, das Mikroskop irrt sich nicht; es wird uns fagen, ob unsere Augen nicht Opfer des Irrtums- oder der Voreingenommenheit, wenn Du lieber willst- ge­wefen sind."

Lange und kleinliche Untersuchungen, die nunmehr Turlure ,, in streng wissenschaftlichem Geiste" unternahm, erzielten das Resultat, daß das Haar von dem Ueberzieher und die im

Papier aufbewahrt gewefenen genau die gleichen Eigenschaften hatte und folglich von demselben Kopfe herrührten. Was sagst Du nun dazu? frug er seine Frau. Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort:

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ΤΩ " Ich kann doch nicht zur Wiederausgrabung von Courte Heufe schreiten, um Dir zu beweisen, daß sein Haar ganz anders als dieses hier ist; und das ist wirklich jammerschade, daß ich nicht heute noch eine Straße quer durch den Friedhof legen lassen kann; aber diese Wiederausgrabung wird vom Gericht vorgenommen werden; und Du wirst dann sehen, daß ich recht habe." " Ich behaupte nicht, daß Du, was die Vergangenheit be­trifft, unrecht habest; es scheint mir im Gegenteil sogar, daß Du Recht hast..." Das ist so flar wie der Tag!"

für

Aber daraus folgt noch nicht, daß Dein Verdacht auch die Gegenwart begründet sei."

Darüber sind wir einig, ich habe Dir gesagt, daß ich mein Urteil über diesen Bunft noch aufschieben werde, und ich schiebe es in der That auf. Aber was aus der ersten Ver­giftung folgt, ist die Entstehung einer solchen Lage für die beiden Schuldigen, daß sie sich bei ihrem gegenwärtigen Uebelbefinden, das vielleicht ein ganz natürliches ist, gegen­feitig fofort der Urheberschaft anklagen und sich damit selbst denunzieren."

Das ist ein Zufall."

" Ist es wirklich nur ein Zufall? Unter allen Umständen ist es absichtlich geschehen. Geschickt würde jetzt sein, von der ermittelten Thatsache aus weiter zu gehen, um sie dahin zu bringen, sich auch geflissentlich zu denunzieren, damit sie sich selbst anklagen und so die Wahrheit an den Tag bringen."

" Du schwebst auf den Flügeln der Einbildung dahin; aber bist Du auch sicher, daß Dein Ausgangspunkt verläßlich ist? Du nimmist doch an, daß sich jeder von beiden des anderen erledigen möchte, nicht wahr?"

" Ich sage nicht, daß sie das wirklich wollen, sondern nur, daß sie sich gegenseitig beargwöhnen, es zu wollen, was ganz und gar nicht dasselbe ist."

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Wenn es so ist, warum lassen sie sich nicht einfach scheiden?" ( Fortsetzung folgt.)

Honoré de Balzar.

t8u seinem hundertsten Geburtstag. Balzac , dessen hundertster Geburtstag in diesen Tagen in Paris gefeiert wird, ist bekannt als der Anbahner und Vorläufer der modernen naturalistischen" Dichtung, die in Zola ihren wirksamsten Bertreter gefunden hat. Er hat mehr als hundert erzählende und dramatische Werke hinterlassen.*)

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Balzacs Kunst und Art ist treffend von Julius Hart in seiner Geschichte der Weltlitteratur gekennzeichnet: Er schildert mit hartem Griffel und in groß angelegtem Bildercyklus nach allen Seiten hin des Kapitalismus, des Tanzes um das goldene Kalb, ergriffen von die Bourgeoisie der Zeit des Juli- Königtums, beherrscht vom Geiste dem Verlangen allein nach den materiellen Gütern des Lebens. Es ist eine Beriode praktisch- nüchterner Lebensauffassung, die sich in seinen Romanen und in seiner Kunst kristallisiert, und dies Nüchterne und Hart- Verständige schlägt breit durch alles Phantastische hindurch, welch letzteres zum Teil noch auf letzte romantische Elemente hin deutet."

führt sein. Geboren am 20. Mai 1799 in Tours , machte Balzac Ein par furze Daten aus seiner Biographie mögen hier ange­feine Schule in Bendôme und Paris , war furze Zeit Advokaten schreiber, wandte sich aber bald für immer der Schriftstellerei zut. Von äußeren Erlebnissen ist bei diesem ausschließlich der Arbeit gewidmeten Leben fast nichts zu berichten. Balzac starb in Paris am 19. Auguſt 1850.

Bekanntlich hat Zola in seinem Romanchilus Rougon- Maquart die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich in ver etwa 20 Romanen geschrieben, die ein genealogisches Riesenepos schiedenen aufeinanderfolgenden Generationen in einer Reihe von bilden. In Deutschland ist diese genealogische Verbindung mehrerer großer Erzählungen aus Gustav Freytags" Ahnen" bekannt. Auch hierfür hat Balzac das Vorbild gegeben, wenn er auch seinen Plan nicht ausgeführt und die genealogische Verknüpfung nicht zum festen Faden seiner Epenfolge gemacht hat. Indeffen war sein Plan noch weit umfassender. Er trat in Walter Scotts Spuren, wollte in

*) Jn Reclams Universal- Bibliothek find eine Reihe seiner Sachen billig zu haben, darunter die hochbedeutenden: Die Chouans ( Nr. 1426-29): Das Chagrinleder( Nr. 2441-43); Die Frau von dreißig Jahren( Nr. 1963-64); Water Goriot( Nr. 2268-70) und das Lustspiel Mercadet( Nr. 631).