Nr. 175. Donnerstag. tNachdrnck verboten) w Joseph Coitcij. Roman von John Law . Aus dem Englischen von I. Eassierer. Die kleine Frau fing an zu weinen, so daß Jos eiligst das Zimmer verließ. Er ging die Cambridgestraße hinunter auf das Bethnal Green Museum zu, und wahrend des Gehens studierte er eifrig die Schaufenster und las die hoch oben an den Häusern befindlichen Plakate. Sein Weg führte ihn auch an einem Fischladen vorbei, wo grade verschiedene Fischgerichte zubereitet wurden. Unwillkürlich griff er nach demSechspence-Stück, das das Eichkätzchen" ihm gegeben hatte, denn er hatte großen Hunger. Aber er ließ das Geld doch noch in der Tasche und ging weiter. Vor einem Fenster, in dem eine aus Gips ge- fertigte Gruppe, darstellend wie eine alte Frau ein sich sträubendes kleines Mädchen wäscht, ausgestellt war, blieb er stehen. Die Gruppe sollte eine Ankündigung für Pears Seife sein, und daneben waren Flaschen, Büchsen und Kartons ausgestellt. Auf einem Karton las er:Dieses Präparat ist ein sehr kräftigendes Nahrungsmittel für Kinder und es heilt unfehlbar sowohl Durchfall als auch alle anderen Beschiverden des Kindesalters." Fünf Minuten später war Jos wieder in der Stube des Dockarbeiters und hielt der kleinen Frau ein gelbes Päckchen entgegen. Da haben Sie etwas für das Kürd". sagte er zu ihr. Das Zeug soll gegen sein Leiden gut sein. Sagen Sie Ihrem Mann, ich werde um sechs Uhr abends wieder hier sein." Er ging durch die Cambridge Straße zurück geraden Weges nach dem Bethnal Green-Museum, in dessen Garten er eintrat und sich auf einer Bank niederließ. Im Schatten der Bäume würde es ihm hier recht gut gefallen haben, wenn er sich nur nicht so hungrig gefühlt hätte. Der Himmel war so schön blau, und die Blunien und der grüne Rasen er- innertcn ihn an das Land. Er stopfte seine Pfeife mit Tabak, den ihm der Hausvater am Abend vorher gegeben hatte und holte cm altes Zeitungsblatt aus der Tasche, das er einmal auf der Straße gefunden hatte. Die ersten Zeilen, die ihm in die Augen fielen, lauteten:Am 10. cr. starb John Datchett, Pfarrer zu Elmsworth, 56 Jahr alt."So ist also der Pfarrer auch schon tot", sagte er zu sich. Wenn ich auch den Brief abgesandt hätte, würde er ihn doch nicht mehr angetroffen haben." Und er mußte an den Abend denken, an dem er zum letztenmal inr Pfarrhaus war, um sich von: Pfarrer zu ver- abschieden. Es thut mir recht leid, daß Du von hier weg gehst", hatte dieser zu ihm gesagt, dann hatte er auf eine Reihe von Namen gezeigt, die eingerahmt über dem Kamin in seinem Studierzimmer hingen und dabei gesagt:Jos, da ist gerade noch Platz für mich, ich bin der sechzehnte Pfarrer dieser Gemeinde." So ist also der Pfarrer auch schon tot," wiederholte cr, als ob er es gar nicht fassen konnte.Sie sagten im Dorfe, daß sein Leiden viel schlimmer sei aks Rheumatismus ." Er nahm den Brief aus seiner Tasche, und als er ihn in Stücke zerriß, überkam ihm ein Gefühl der Einsamkeit. In seinem Geiste sah er sein Heimatsdorf vor sich, das stille Dorf, das so abgelegen von der Eisenbahn war und in dem noch so viele aufrichtige und originelle Leute lebten. In letzter Zeit war aber dort auch nicht alles nach Wunsch gegangen. Arbeiter fanden keine Beschäftigung, Güter keine Pächter, der Kaufmannsladcn machte zu, und auch nur ein Zimmermann wurde noch gebraucht. Die Leute hatten da- von gesprochen, daß die Landwirtschast nicht mehr rentiere, und von weit her waren Redner ins Dorf gekommen, die gar seltsame Lehren verkündeten. Er war hungrig. Die ersten Stufen des Hungers hatte er schon überstanden, jetzt aber fühlte er sich so schwach und matt, und es wurde ihm schwindlig. Als es im Garten von Bethnal Green zu heiß wurde, ging Jos nach dem Victoria- Park und legte sich dort ins Gras. Und jetzt fiel auch er aus Reih und Glied der großen Armee, die ihres Weges weiter marschiert, unbekümmert um 7. September. 1899 die Nachzügler, deren General das lÜfussM faire ist, auf dessen Fahnen in großen Buchstaben geschrieben steht:Greife, wer kann" undHol' der Teufel die hintersten." Und die Hunde Hunger und Elend spüren ihn auf und rufen Trunk und Verbrechen zu ihrer Beute herbei, denn Trunk und Verbrechen folgen dicht den Spuren der Armee des Laissez faire. Es war schon sechs Uhr vorbei, als Jos sich die wackelige Treppe, die zur Stube des Dockarbeiters führte, hinauf schleppte. Niemand, der ihn jetzt sah, würde in ihm den netten, jungen Zimmermann wieder erkannt haben, der vor einem halben Jahr in einem feinen Anzüge mit zwei Koffern zu Mrs. Elwin gekommen war. Sein staubiger Rock, sein fettiger Hut, sein schmutziger Kragen und seine alten Stiefel gaben ihm das Aussehen eines Vagabunden. Er war in seiner Armut bereits so weit gekommen, daß es ihm nicht verlohnte, sich zu waschen oder zn bürsten. Im Geficht war cr ja sauber, und fein Haar war auch ge- schnitten, aber Wohl schon seit acht Tagen war er nicht rasiert. Alles, was der Pfandleiher nur nehmen mochte, hatte er versetzt; und obgleich sein Rasiermesser seines geringen Wertes wegen nicht zu versetzen ging, hatte er doch nicht mehr die Energie, sich zu rasieren. Sind Sie's?" hörte er, als er auf dem letzten Treppen- absatz war, den Dockarbeiter bereits rufen. Immer herein, alter Junge. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, daß Sie uns unsere Familienmusik zum Schweigen gebracht haben." Jos trat ein und ließ sich sprachlos auf einen Stuhl nieder. Was ist denn mit Ihnen geschehen?" fragte der Dock- arbeiter.Sie sehen ja ganz verhungert aus." Aber Jos hörte ihn nicht mehr. Frau, lauf rasch um die Ecke und hol' Schnaps," rief der Dockarbeiter seiner Frau zu.Er wird ja ohnmächtig und kann ja ganz ivegbleiben." Als Jos wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Bette liegen. Das Hemd ließ seine Brust frei und die Frau des Dockarbeiters rieb ihm die Füße, während dieser selbst ihm etwas Schnaps einzuflößen suchte. Langsam kehrte ihm das Bewußtsein zurück; er trank noch ein paar Schlucke Schnaps, und neues Leben schien in ihn einzuziehen. Ich kann mir's denken, was es ist," sagte er, indem cr sich ausrichtete und Mr. Chamberlains Bild anstarrte.Ich Hab' Hunger." «Aber wo haben Sie denn die Diarrhöc-Medizin her- bekommen, wenn Sie kein Geld hatten?" fragte die kleine Frau. Jos erzählte ihr von dem Sechspencestück, das ihm das Eichkätzchen" gegeben hatte. Du lieber Gott l" rief die Mutter und ließ dabei ihre Augen auf das Baby schweifen,wer hätte das gedacht I" Hätte es in Jos' Absicht gelegen, sich mit dem wider seinen Willen erhaltenen Geldstück gute Freunde zu erwerben, so hätte er dieses Geld ganz gewiß nicht besser anwenden können. Die Mutter sprach fortwährend nur von ihrem schlafenden Kinde, und der Vater konnte sich gar nicht genug thun, um seiner Dankbarkest für das Zeug, das, wie cr sagte, die Familienmusik zum Schweigen gebracht hatte, Ausdruck zu geben. Sobald Jos nur im stände war, etivas zn sich nehmen zu können, legten sie ihm seinen Teller mit gebratenem Fisch voll und sie nötigten ihn, noch mehr von dem Schnaps zu trinken, der ihm neues Leben gegeben hatte. Morgen früh pünktlich um halb sieben können Sie mich auf dem Fenchurchstraßen-Bahnhof treffen," sagte der Dock- arbeiter zu ihm.Ich glaube, Sie werden dort schon an- gestellt werden, wenn Sie mit mir kommen." Später forderte er Jos auf, mit ihm aufeinen kleinen Bummel", wie er es nannte, zu gehen. Durch mehrere Neben- straßen, quer über die Commercialstraße führte sie ihr Weg nach einem Tanzlokale, das nicht weit von dem tag, in dem dieLustigen Matrosen", das Lieblingsstück aller Teerjacken und Fremden, ausgeführt wurden. An dem Büffett vorbei gingen sie nach einem in der oberen Etage gelegenen Zimmer, in der sich verschiedene Männer und Mädchen im Tanze drehten. In der einen Ecke des Zimmers saßen zwei oder drei Musikanten, die den letzten