Hlntcrhaltnngsblatt des vorwärts Nr. 187. Sonntag, den 24. Septeinbcr. 1899 Machdruck verboten.) � Fopeph Co»,etx. Roman von John Law . Aus dem Englischen von I. Cassierer. „Das muß ein Irrtum sein," sagte er zu sich. Aber hatte sie ihm nicht deutlich genug erklärt:„Ich will Dich nicht heiraten, Joseph Coney; ich heirate einen gottesfürchtigcn jungen Mann mit einem geregelten Einkommen." Abermals lachte er und stampfte hefsig mit dem Fuße auf. Er hätte eigentlich wissen können, daß sie ihn so hinter- gehen würde. Warum ließ er sie auch so ganz allein ihren Weg gehen. Er hätte ganz gut wissen können, daß ihre Mutter ihn nicht leiden mochte, und daß auf ein solch hübsches Mädchen wohl ein halb Dutzend Männer warten niußten. Warum hatte er diesen Briefen getraut? Hätte er sie damals, als er seinen Anzug vom Pfandleiher geholt hatte, besucht, dann wäre es doch wohl anders gekommen? Die Vorübergehenden beachteten ihn nicht. Wenn man stehen bleiben wollte, um über das blasse Gesicht oder den starren Blick irgend jemandes, der einer Bildsäule gleich unbeweglich auf der Straße steht, sich Vermutungen hin- zugeben, dann würde man nicht die Zeit finden, sich um sein eigenes Geschäft zu kümmern. Dicht neben ihm spielte ein Leierkasten. In der Ferne ließ sich Trommelschlag vernehmen; er aber hörte ihn nicht. In seinen Gedanken versunken stand er da, während Hunderte von Leuten an ihm vorüber gingen. Hatte er Polly nicht so viel Vertrauen geschenkt, sagte er sich, wäre alles ganz anders gekommen. Aber sie schien ihm eben nicht so wie andere Weiber zu sein. In seinen Gedanken hatte er sie stets mit Erinnerungen aus seiner Heimat ver- bunden, insbesondere mit seiner Mutter, seiner einzigen Ver- ivaudten, die bereits sechs Fuß unter der Erde lag. Und jetzt hatte sie ihn hintergangen, weil er— arbeitslos war, sie hatte ihn verlassen für einen Mann, der sein geregeltes Ein- kommen hatte. Er betrachtete sich seinen zerrissenen Anzug und seine alten durchlöcherten Stiefel. Polly hatte sich vor ihm ge- ekelt und war vor ihm bis an den äußersten Rand des Trottoirs zurückgewichen. Nun wohl, er sah ja wie ein Land- streichcr aus, daran war gar kein Zweifel: aber es war doch nicht seine Schuld. Seitdem er damals in einem guten Anzüge mit zwei Koffern zu Mrs. Ellvin gekommen war, hatte er sich unablässig bemüht, Arbeit in feinem Gewerbe zu finden. Wenn aber sogar Zinimcrmeister wie Reeson ins Arbeitshap' gehen mußten, was blieb ihm dann übrig? War er doch nur ein Dorf-Handwerkcr. Auf einmal war es ihm, als ob er Polly in ihrem Zimmer in dem er sie zum erstenmal gesebcn hatte, über ihre Arbeit gebeugt sitzen sähe. Dort hatten sie manch glücklichen Tag zusammen verbracht, und von dem kleinen Hause, daß sie in Hackney mieten wollten und in das täglich der Schlächter- bursche kommen sollte, geplaudert. Jetzt würde er sie nie mehr wiedersehen: sie hatte ihn betrogen: jetzt sitzt gewiß jener William Ford bei ihr; jetzt wird sie dieser Kerl küssen; dieser Kerl— Er ging weiter und schlug den Weg nach der Wohnung des„Klassenleiters" ein; er hatte nicht übel Lust, dem gottes- fürchtigen jungen Mann das Genick zu brechen, um»venigstens etwas zu thun. Aber sein Körper war zu sehr geschwächt, und er selbst fühlte sich auch zu unwohl, als daß solch leidenschaftlicher Eifer bei ihm festen Fuß faffen konnte. Er blieb wieder stehen, lachte und munilelte vor sich hin:„Die kleine Schlange". Dann sah er sich nach einer„Destille" um, denn er fühlte, daß er etwas„Geistiges" zu sich nehmen müsse. Er wußte, daß der Schnaps seinen Körper neu beleben und sein Bewußtsein ertöten würde.„Und schließlich," sagte er sich, „bin ich ja doch am meisten zu tadeln. Warum Hab' ich der kleinen Schlange so sehr vertraut?" Mit diesen Worten, die er vor sich hin sprach, stieß er die Thür eines Schnapsladeus ans und trat auf den Schenk- tisch zu, an dm wohl ein halb Dutzend Männer und Frauen stehen mochten.„Sie wünschen mein Herr?" fragte das Büffettsräulein. Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sie aber ganz vordutzt wieder heraus und verließ das Lokal. Hinter sich hörte er die Sticheleien der Männer und das Gelachter der Frauen. Draußen auf der Straße hüllte ihn die feuchte Lust förmlich wie eine Decke ein. und mühsam schleppte er sich bis an den nächsten Laternenpfahl. In seiner nächsten Nähe be- fand sich eine Schaubude, vor der Männer standen, die mit bloßen Schwertern hantierten, um das Publikum zur Besichtigung des„Armes, der kein Fleisch hatte und nur aus Knochen bestand" anzulocken,„etwas, das jede Mutter sehen müßte". In heutioer Zeit rentiert es besser, als Mißgeburt auf die Welt zu kommen wie als ein Mann, der außer seinen gesunden Gliedern nichts weiter besitzt. Die Mißgeburt braucht lj:.r still zu stehen und sich angaffen zu lassen, und kann dabei leicht 5 Pfund den Abend verdienen, während der Mann mit den gesunden Gliedern nur Ware auf den Arbeitsmarkt ist, die keinen Absatz findet. Der Junge mit dem„Knochenarm" zeigte sich auch außerhalb der Bude; er war ä la Buffalo Bill gekleidet und balancierte einen Spieß auf seinem Kinn. Er ging dann wieder in die Bude hinein, um dort noch andere Heldenthaten zu voll- bringen, und das Volk strömte in Scharen herein, um das zu sehen,„>vas jede Mutter sehen müßte". Jos ging an der Schaubude vorüber, ohne hinein zu sehen. Männer und Frauen rannten ihn an, aber er be- achtete es nicht. Er bemerkte weder die alten Weiber, die Fische und Schwcinsfüße verkauften, noch die alten Männer, die Schnürsenkel und Kragenknöpfe ausriefen; ebenso wenig die Verkaufsstände, auf denen billige Waren und allerlei Kram feilgehalten wurden, auch nicht die Zeitungsjungen und die Straßenrciniger. Er fiihlte sich krank und ganz hoffnungs- los. Polly war noch das letzte Glied gewesen, das ihn mit seiner Vergangenheit verband, einer Vergangenheit, die von der Gegenwart, in der er sich-befand, so verschieden ist wie das Licht von der Finstemis. Und jetzt hatte sie ihn hintergangen. Es war zu spät, um noch- mals von neuem anzufangen, und er hatte nicht mehr Kraft genug, um den Kampf gegen„sein Unglückliches Schicksal"(er schrieb„unglückliches" mit einem großen„U") wiederholt auf- nehmen zu können. Immer und immer hatte er sich wieder- holt„Wenn nur Gott der Allmächtige mir Arbeit geben will, dann will ich gar nichts weiter von ihm erbitten"— und nichts war dabei herausgekommen. Das Unglück hatte ihn in den Schnapsladen getrieben. wie es ja täglich Leute dahin führt, die„außer Arbeit" sind, „für deren Dienste man keine Verwendung hat". Er lechzte förmlich nach Schnaps. Seit jenem Tage, an dem die Frau des Dockarbeiters ihm für drei Pence Schnaps geholt hatte, hatte sich seiner ein unwiderstehliches Verlangen nach geistigen Getränken bemächtigt. Wie der Dockarbeiter meinte:„Er hatte sich, so sehr dem„Suff" ergeben, als ob er ihn von Vater oder Mutter geerbt hätte. Er setzte seinen Weg fort und wurde plötzlich von der Frau des Dockarbeiters angesprochen: „Ah, sieh da, Mr. Coney, warum haben Sie sich denn so lange nicht sehen lassen? Was haben Sie denn mit Ihrem Auge gemacht?" „Wie geht's Ihrem Kinde?" fragte Jos. „Danke, recht gut. Bitte, kommen Sie doch mit und bleiben Sie zum Abendbrot bei uns. Mein Mann wird sich sehr freuen, Sie zu sehen. Kommen Sie doch, Mr. Coney." Jos schüttelte den Kopfund ging weiter. Vor einem Zimmer in dein ein großes Bett stand, blieb er stehen. Auf dem Bette lagen sechs Männer und daneben stand ein altes chinesisches Weib, das Pfeifen mit Opium füllte. Jos hätte auch ganz gern einmal dieses Betäubungsmittel versucht, er hatte aber kein Geld mehr, um sich eine Pfeife voll zu kaufen, und so blieb er denn vor dem zerbrochenen Fenster nicht länger stehen und ging weiter. Er kam jetzt in ein Güßchen, das so schmal war, daß man nur noch gerade hindurch gehen konnte. Das Gäßchen führte in einen Hof, auf dessen einer Seite mehrere verfallene Häuser standen und dessen andere Seite eine andere Wand begrenzte. Leute, die von ihrem Wirte exmittiert worden waren, schliefen hier unter einem Zelte. lieber die Mauer konnte man in den jenseits derselben fließenden Kanal sehen, und während Jos hineinsah, brachten
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16 (24.9.1899) 187
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