Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 190. dau dy ddadDonnerstag, den 28. September. Donnerstag, den 28. September. ln mit dm 1899

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Visiting and

( Nachdruck verboten.)

Jofeph Conen.

Als sie zum Pfandleiher tam, war es bereits spät ge­worden. Ein Junge war gerade damit beschäftigt, von außen die Fensterladen zu schließen, und innen stand eine alte Frau, die auf dem Ladentische Ordnung machte.

,, Ein junger Mann mit einer silbernen Uhr," wiederholte Noman von John Law . Aus dem Englischen von J. Cassierer. Die alte Frau, nachdem das Eichtäbchen ihr Anliegen vor­ Ich werd's nicht vergessen," antwortete das Eichfäßchen. gebracht hatte, ein junger Mann, Namens Joseph Coney? Du kannst aber so gut sein, mir unterdessen meinen Korba, ja, liebes Kind, der war hier. Ich hab' ihm sieben aufzuheben. Ich will mich noch irgendwo ein bißchen hinlegen. Schillinge dafür gegeben. Er hat von hier weg gemacht, zurüc Wenn ich mir dann den Korb hole, um die Blumen zu aufs Land." Sträußchen zu binden, bring' ich Dir auch Dein Früh­ſtück mit."

Aus dem Gesicht des Eichkäßchens schwand alle Farbe. Sie zitterte und mußte sich an den Ladentisch festhalten.

Sie ging dann zu einem Plage, auf dem eine Menge Was hast Du denn, mein Kind?" fragte die alte Frau, alter Apfelsinenfisten aufgestapelt war, und aus diesen Kisten ihr ins Gesicht sehend, hat er Dir etwas gethan?" Du Er kann ja wieder zurück­bereitete sie sich ein Lager. Sie hatte schon oft hier geschlafen, siehst ja wie eine Leiche aus. aber heut floh sie der Schlaf; sie lag wach und mußte an kommen. Was giebt's denn?" Jos denken; sie wunderte sich, was wohl aus ihm geworden" Nichts", antwortete das Eichfäßchen und verließ den fein mochte. Um sie herum war ein Gesumme von Stimmen, Laden. Rasch rannte sie die Straßen hinunter, dem Ujer zu, und das Licht einer Gasflamme fiel ihr gerade ins Gesicht. und weiter, immer weiter nach dem Embankment. Erst als sie Mit einer Strohmatte hatte sie sich zugedeckt und den Kopf beim Obelisten angekommen war, blieb sie stehen. Mit hatte sie auf einer Siste liegen. Als es später wurde, faltete ihrem unergründlichen Lachen, das ihr sagen zu wollen schien: sie die Hände so heftig zusammen, daß die Nägel ins Fleisch Er ist fort, zurück aufs Land", sahen die Sphynre auf sie eindrangen, und sie rief: herab.

" Ich werde ihn wohl nie wiedersehen!" Gegen sechs Uhr verließ das Eichkäßchen sein Lager unter den Apfelsinenkisten und besorgte für das kleine Mädchen am Blumenstand Thee und Brot und Butter. Zum Geschäft war es noch zu früh, sie sehte sich daher auf einen Stein und band sich ihre Blumen zu kleinen Sträußchen zusammen.

Dann kam ihr ein Gedanke. Sie begab sich in den Schnapsladen, in den Jos am Tage vorher gegangen war. Sie stieß heftig die Thür auf und fragte den Wirt:" War vielleicht ein junger Mann mit verbundenem Auge hier ge­wesen, der gestern mittag von der Polizeiwache hierher ge tommen war?"

"

Ach, du lieber Himmel!" antwortete der Wirt. Glaubst Du wohl, ich kenne alle Herumtreiber, die zu mir kommen. Nein, ich erinnere mich eines solchen Kerls nicht. Es ist wohl Dein Schatz?"

"

Es war am Embankment, abgesehen von dem düfteren Licht, das ein paar Gaslaternen warfen, bereits finster; ein feiner Nebel lag über dem Strom und der Himmel war in Wolfen gehüllt. Ab und zu fuhr eine Equipage oder eine Droschke vorbei, deren Laternen in der Dunkelheit wie Glüh würmer leuchteten. Sonst war alles ganz finster.

Das Eichfäßchen ging hinter das eiserne Gitter und legte sich auf den Stufen nieder, die zum Flusse hinunterführen.

Sie fühlte sich von aller Welt verlassen. Und dabei schlug ihr Herz so heftig, daß jeder Windstoß ihr wehe that. Die Sonne ihres Lebens war untergegangen und würde ihr nun nie wieder mehr leuchten. Jos war fortgegangen, zurüd aufs Land. Ihr Gesichtskreis war sehr beschränkt. In der Penne geboren und von ihrer Mutter verlassen, war sie unter fremden Leuten aufgewachsen. Die Leute waren immer gut zu ihr gewesen, denn auch sie war jeder Zeit dienstwillig und hilfs­Ohne ein Wort zu entgegnen, entfernte sich das Eich bereit und ihre großen Augen hatten ihr Sympathien erivedt. fäßchen. An der Ecke des Trafalgar Squares stand sie den Aber noch niemand hatte ihr Herz gewonnen, außer Jos und ganzen Vormittag und verkaufte ihre Blumen. Um ihre der Kleine Italienerjunge, der weg gelaufen war und ihr nichts großen Augen hatten sich schwarze Nänder gezogen, und die als eine Stifte mit einem toten Meerschweinchen zurückgelassen Pupillen schienen mit der Fris zusammenzustoßen. hatte. Was sie für Jos empfand, läßt sich nicht sagen, denn um das zu verstehen, müßte man sich selbst so verlassen ge­fühlt haben.

Ihre kleinen kalten Hände zitterten so start, daß ihr die Geldstücke entfielen und sie sich immer und immer wieder danach bücken mußte. Obwohl sie den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen hatte, fühlte sie sich doch nicht hungrig.

Es war bereits fünf Uhr geworden, als die letzte Blume aus ihrem Korbe den Weg in das Knopfloch eines Herrn, der aus dem Geschäft nach Hause ging, gefunden hatte. Dann ging auch fie nach threr Venite.

" War Jos da?" fragte sie haftig.

Der Hausvater schüttelte den Kopf und meinte: fann mir nicht denken, was mit Jos los ist".

Die Stunden verrannen, und noch immer lag sie auf den Steinstufen, den Körper nach dem Strom zu und den Kopf mit ihren Händen bedeckt. Niemand war zu sehen, und wenn der Schuhmann vorbei ging, so unterließ er es, auf die steinerne Treppe zu achten, denn er ahnte nicht, daß da in seiner Verzweiflung ein einsames und verlassenes" Menschenkind lag.

Sie ging noch weiter zum Flusse hinunter, so weit, daß Sch sie sein eisiges Naß bereits fühlen, wenn auch noch nicht sehen konnte. Der Tod bedeutet Frieden; der Tod ist das Ende aller Dinge. Wenn sie sterben würde, dann müßte ja auch jener furchtbare Schmerz aufhören, sie würde Josef Coney ganz und gar vergessen. Sie hatte nichts, das fie ans Leben fesselte. Die Zukunft würde ebenso sein wie die Vergangenheit, ebenso einsam und traurig. Jos war fort, er hatte sie sehr, sehr einsam zurückgelassen.

Sie lief nach den London - Docks. Aber auch hier mußte sie von den Leuten, die vor den Thoren der Docks standen, erfahren, daß sie schon wochenlang nichts von ihm gefehen hatten. Wo fonnte er denn noch sein? Wie war es ihm möglich, ohne Pfennig Geld leben zu können?

Schließlich fiel ihr der Pfandleiher ein. Jos hatte oft davon gesprochen, daß er die Uhr seiner Mutter holen wollte, um fie zu verkaufen, aber da sie merkte, daß er immer zauderte, diese Absicht auszuführen, hatte sie es ihm immer noch er­möglicht, fein Andenken zu behalten. Aber jetzt wurde es ihr zur Gewißheit, daß er die ihr verkauft hatte, denn wie hätte er sich sonst auf den Weg machen können, wo hätte er sonst die Mittel hergenommen. Sie hatte auch in den Bureaus der nächstgelegenen Arbeitshäuser nachgefragt, und die dortigen Beamten hatten sie für seine Schwester gehalten.

Und im Wasser schien es zu singen. Denn der Geist des Todes glitt stumun über die Fluten des Stromes dahin.

Und in seinem Gefolge waren die Seelen der ungeborenen Kinder, deren Mütter sich in der Themise ertränkt hatten. In des Eichfäßchens Ohr flüsterten sie:

"

Nicht zu sein, ist besser." Dann sang der Tod nach Es handelte feltsamer Melodie ein gar sonderbares Lied. von dem jungen Mann, dessen Ehrgeiz gekränkt war, von dem Mädchen, das von seinem Geliebten betrogen wurde, von der Er ist nicht hier, mein Stind", war ihr geantwortet Mutter, deren Sohn falschen Weibern nachlief; von dem worden. Wenn er aber noch kommen sollte, will ich ihm Vater, dessen Tochter ihre Ehre um ein Nichts verkauft hatte. gern fagen, daß Du nach ihm gefragt haft. Wie heißt er Das Eichfäßchen glaubte, daß es im Wasser singe, und denn?" fie ging näher und näher an die kleinen Wellen heran, die " Joseph", antwortetete das Eichtkähchen. Joseph Conch." I sich an den Stufen, auf denen sie stand, brachen.