Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 73.

13]

Auferstehung.

Freitag, den 13. April.

( Nachdruck verboten.)

Roman von Leo Tolstoj  .

1900

Und gleichsam selbst niedergeschmettert von der Wichtig­keit der bevorstehenden Entscheidung, sank der Staatsanwalt, augenscheinlich aufs höchste von seiner Rede entzückt, auf seinen Stuhl nieder.

Der Sinn seiner Rede mit Ausschluß der Redeblüten war der, daß die Maslowva den Kaufmann hypnotisiert, sich in sein Vertrauen eingeschlichen habe, dann mit dem Schlüssel, um Geld zu holen, ins Zimmer gekommen sei, hier alles für sich habe nehmen wollen, dann aber, von Simon und Euphemia überrascht, mit diesen habe teilen müssen. Sodann sei sic, um die Spuren ihres Verbrechens zu verbergen, wieder mit dem Kaufmann in den Gasthof gekommen und habe ihn dort vergiftet.

Der stellvertretende Staatsanwalt sprach sehr lange. Einmal bemühte er sich, all die verständigen Dinge zu be halten, die er sich ausgedacht; dann aber ging sein Haupt­bestreben darauf hinaus, nicht eine Minute stecken zu bleiben, sondern es so einzurichten, daß seine Rede, ohne zu ver stummen, fünf Viertelstunden hintereinander dahinfloß. Nur ein einziges Mal hielt er inne, aber dann kami er alsbald wieder in Zug und entschädigte die Zuhörer für diese Ver- Nach der Rede des Staatsanwalts stand von der Ad­zögerung durch verstärkte Beredsamkeit. Er sprach bald mit vokatenbank ein Herr mittleren Alters im Frack und weißer, zarter, einschmeichelnder Stimme, indem er von einem Fuß halbkreisförmig gestärkter Brust auf und hielt geschwind auf den andern trat und die Geschwornen ansah; bald in die Verteidigungsrede für Kartinkin und die Botschkowa. Das ruhigem, geschäftsmäßigem Ton, wobei er in sein Heft war der von den beiden für dreihundert Rubel augenommene guckte; bald mit lauter, überführender Stimme, wobei er Rechtsanwalt. Er rechtfertigte feine Klienten und wälzte alle sich entweder an die Zuhörer oder an die Geschwornen Schuld auf die Maslowa.

wandte. Nur nach den Angeklagten, die alle drei mit den Maslowas Aussage, wonach die Botschkowa und Kartinkin Augen an ihm hingen, sah er nicht ein einziges Mal hin. bei ihr gewesen, als sie das Geld genommen, verwarf er ein­In seiner Rede war der Inbegriff alles dessen enthalten, fach und bestand darauf, daß ihrem Zeugnis, das von einer was damals in seinem Kreise in Umlauf war, und was überführten Giftmörderin herrühre, kein Gewicht beigelegt als letztes Ergebnis aller gelehrten Weisheit damals au werden könne. Das Geld, die ziveitausendfünfhundert Rubel, gesehen wurde und noch angesehen wird. Da waren Ver- sagte der Advokat, konnte gauz gut von zwei arbeitsamen, erbungstheorie und angeborene Verbrechereigenschaften verehrenhaften Leuten, die bisweilen drei bis fünf Rubel von treten, Lombroso   und Tard, Entwicklungstheorie und Kampf den Gästen erhielten, verdient sein. Die Barschaft des Kauf­ums Dasein, Hypnotismus und Suggestion, Charcot und manns aber wäre von der Maslowa entivendet und irgend Decadence. jemand übergeben, bielleicht auch verloren worden, da sie sich nicht in normalem Zustand befunden. Die Vergiftung hätte die Maslowa allein besorgt.

Der Kaufmann Smjelfow war nach Definition des Staats­anwalts geradezu der Typus des mächtigen, urwüchigen Russen mit seiner grandiosen Natur, der infolge seiner Vertrauents­seligkeit und Großmut jenen tief innerlich verkommenen Sub­jeften zum Opfer fiel, in deren Macht er geraten war.

Deswegen bäte er die Gefchivornen, Kartinkin und die Botschkowa für nicht schuldig der Entwendung des Gelds zu erklären; wenn sie sie aber der Entwendung des Gelds für Simon Kartintin war ein atavistisches Produkt der Leib schuldig erklärten, so möchten sie bei beiden doch die Teil­eigenschaft, ein verdummiter Mensch ohne Bildung, ohne Grund- nahme an dem Giftmord und die vorsätzliche Ueberlegung säge, sogar ohne Religion. Euphemia war seine Geliebte und ausschließen. ein Opfer der Vererbung. In ihr waren alle Merkmale Zunt Schluß bemerkte der Advokat, mit einem Seiten­einer degenerierenden Persönlichkeit vertreten. Die Haupt hieb auf den Staatsanwalt, daß die glänzenden Aus­anstifterin des Verbrechens war die Maslowa, die das Deca- führungen des Herrn Kollegen von der Staatsanwaltschaft dententum in seiner allerniedrigsten Erscheinung repräfen- über die Vererbungstheorie, wenn sie auch wissenschaftlich tierte. Diese Frau", sagte der Staatsanwalt, ohne sie dabei die Frage der Vererbung erläuterten, in diesem Fall doch auzusehen, hat Bildung genossen; wir haben hier vor Ge- deplaciert wären, da die Botschkowa eine Tochter- un richt die Aussagen ihrer Wirtin gehört. Sie kann nicht nur bekannter Eltern sei. lesen und schreiben, sondern sie versteht Französisch, ist eine

Der Staatsanwalt schrieb wütend und bissig etivas auf Waise, trägt wahrscheinlich Seime des Verbrechens in sich. Sie fein Papier und zuckte in verächtlichem Erstaunen die Achseln. ist in einer hochgebildeten, adligen Familie erzogen worden Hierauf stand der Verteidiger der Maslowa auf und ließ und hätte chrlich von ihrer Arbeit leben können; aber sie verschüchtern und stockend seine Verteidigungsrede vom Stapel. läßt ihre Wohlthäterinnen und wirft sich ihren Leidenschaften in Er lenguete nicht, daß die Maslowa au der Entivendung des die Arme. Dabei zeichnet sie sich durch ihre Bildung und Gelds beteiligt sei und bestand nur darauf, daß sie nicht die namentlich, wie Sie hier, meine Herren Geschwornen, von Absicht gehabt, Smjelfow zu vergiften, sondern ihm das threr Wirtin gehört haben, durch jene geheimnisvolle, in letzter Pulver uur gegeben, damit er einschliefe. Er wollte auch Zeit besonders dnrch Charcots Schüler wissenschaftlich unter Beredsamkeit einfließen lassen und entwarf eine Schildering, fuchte Eigenschaft aus, die unter dem Namen der Suggestion wie die Maslowa von einer Mannsperson in das lasterhafte bekannt ist. Mittels dieser Fähigkeit nimmt sie Besit von dem Leben hineingezogen sei, die straflos ausgegangen, während gutmütigen, vertrauensseligen russischen Helden Sadko( eine fie die ganze Schwere ihres Falls tragen müßte; aber dieser russische   Sagengestalt) und benutzt dieses Vertrauen dazu, Exfurs auf psychologisches Gebiet mißlang so vollständig, daß um ihn erst zu bestehlen und dann erbarmungslos ums alle sich schämten. Als er dann noch etwas von der Grau­Leben zu bringen." samkeit der Männer und Hilflosigkeit der Frauen niümmelte, empfand der Vorsitzende den Wunsch, ihm zu Hilfe zu kommen, und bat ihn, sich an das Wesentliche zu halten.

Na, das scheint mir denn doch ein bißchen weit her­geholt," sagte lächelnd der Vorsitzende und neigte sich zu dem strengen Richter.

Nach diesem Verteidiger erhob sich wieder der Staats­Ein schrecklicher Dummikopf," sagte das strenge Gerichtsanwalt und verteidigte seine Ausführungen über die Vererbung mitglied. gegen den ersten Verteidiger. Wenn die Botschkowa auch die Meine Herren Geschwornen," fuhr inzwischen der Staats- Tochter unbekannter Eltern sei, so werde die Richtigkeit der anwalt fort und wiegte sich graziös in der Taille. In Ihrer Vererbungslehre dadurch keineswegs über den Haufen ge­Macht liegt das Schicksal dieser Personen, aber in Ihrer Macht worfen; das Gesetz der Vererbung sei von der Wissenschaft liegt zum Teil auch das Schicksal der Gesellschaft, auf derartig fest gegründet worden, daß man nicht nur Verbrechen die Sie durch Ihren Urteilsspruch einwirken. Dringen Sie aus Vererbung, sondern sogar Vererbung aus Verbrechen ein in die Bedeutung dieses Verbrechens, dringen Sie ein herleiten könne. Was aber die Voraussetzung der Verteidigung in die Gefahr, die der Gesellschaft von solchen gewisser anbeträfe, nach welcher die Maslowa dent Lasterleben von maßen pathologischen Individuen wie die Maslowa droht, einer hypothetisch angenommenen Manusperson zugeführt und behüten Sie sie vor der Ansteckung, behüten Sie die un- worden sei( er sprach die Worte hypothetisch angenommenen" schuldigen, starken Elemente dieser Gesellschaft vor der An- ganz besonders giftig aus), so sprächen alle Thatsachen cher steckung, die meistens auch den Untergang bedeutet." dafür, daß sie vie Verführerin vieler gewefen wäre und viele