langte; vor allen Dingen forderte aber der Staatsdienst, daß er bei allen möglichen Gottesdiensten, Einweihungen, Dank- sagungen und so weiter zugegen war. Selten verging ein Tag ohne irgend eine äußere Forin religiöser Andachtsübung, die er mitmachte. Wenn er diesem Gottesdienst beiwohnte, mußte er sich stellen, als ob er an etwas glaubte, was er nicht glaubte— und wenn er aufrichtig war, konnte er das nicht thun. Oder er mußte in seinem Innern die Bestimmung treffen, daß all diese äußeren Formen Betrug wären und dann sein Leben so einrichten, daß er nicht genötigt war, an ihnen teil- zunehmen. Aber was so einfach schien, erforderte viele Opfer. Abgesehen davon, daß er in beständigen Kampf mit denen trat, die ihm nahe standen, mußte er den Dienst und seine Stellung aufgeben und seiner Hoffnung, der Menschheit durch jene nützlich zu sein, für jetzt und alle Zukunft entsagen. Um aber solche Opfer zu bringen, mußte jemand fest davon überzeugt sein, daß er im Rechte sei. Und er war fest davon überzeugt, im Rechte zu sein, wie jeder gebildete Mann unsrer Zeit, der ein wenig Ge- schichte kennt und weiß, wie die Religionen und namentlich die christliche Kirche zu stände gekommen sind, diese Ueber- zcugung haben muß. Aber unter dem Druck der Verhältnisse des täglichen Lebens ließ er, der aufrichtige Mann, eine kleine Lüge passieren. Er sagte, um gegen unvernünftige Dinge gerecht sein zu können, müsse man diese zuvor studieren. Das war eine kleine Lüge, aber gerade sie führte zu jener großen Lüge, in die er jetzt verstrickt war. Bevor er sich die Frage vorlegte, ob die orthodoxe Glaubensrichtung, sin der er geboren und erzogen war, die jedermann von ihm erwartete und ohne die er seine nützliche Beschäftigung nicht fortsetzen konnte, auch die richtige sei, hatte er die Antwort darauf schon parat. Und um die Frage aufzuklären, las er nicht Voltaire, Schopenhauer , Herbert Spencer oder Conitc, sondern die philosophischen Werke Hegels und die religiösen Vinets und Chomjakows und fand natürlich in ihnen, was er brauchte, nämlich etwas wie Seelenfrieden und eine Rechtfertigung der religiösen Lehren. in denen er erzogen war und die sein Verstand schon lange nicht mehr gelten ließ, ohne die sein ganzes Leben aber von Unannehmlichkeiten erfüllt wurde, welche nlit Anerkennung jener Lehren sofort verschwanden. So machte er sich denn all' die gewöhnlichen Sophiste- reien zu eigen, die beweisen sollen, daß der einzelne Menschen- verstand die Wahrheit nicht erkennen kann, daß die Wahrheit nur einer Gesamtheit von Menschen geoffenbart ist und nur durch Offenbarung erkannt werden kann, daß die Offenbarung von der Kirche aufbewahrt werde, und so weiter. Und so kam er dahin, daß er mit großer Seelenruhe, ohne sich der Lüge bewußt zu sein. Gebeten, Totenmessen und Beichten beiwohnen und in der dienstlichen Thätigkeit fort- fahren konnte, die ihm das Gefühl seiner Nützlichkeit und einige Behaglichkeit in seinem freudenlosen Familienleben verschaffte. Obgleich er also glaubte, fühlte er mit seinem ganzen Wesen, daß diese seine religiöse Ueberzeugung noch weniger als alles andre„das Richtige" war, und so kam es, daß Seljonin stets melancholische Augen hatte. So kam es, daß er sich beim Anblick Nechljudows, den er damals gekannt, � als alle diese Lügen noch nicht Wurzel in ihm geschlagen hatten, in der Erinnerung wieder als derjenige vorkam, der er damals ge- Wesen war. und mehr als je alle Verkehrtheiten fühlte, und daß ihm quälend traurig zu Mute wurde. Dasselbe Gefühl aber empfand nach dem ersten freudigen Eindruck über das Wiedersehen eines Freundes auch Nechljudow. Und so kam es, daß sie beide nach gegenseitigem Ver- sprechen, sich wiederzusehen, dieses Wiedersehen nicht suchten und sich während dieses Aufenthalts Nechljudows in Peters- bürg wirklich nicht wiedersahen. Vierundzwanzigstes Kapitel. Nachdem Nechljudow mit dem Advokaten den Senat ver- lassen, gingen sie zusammen auf dem Trottoir entlang. Seinen Wagen ließ der Advokat hinterher fahren und begann Nechljudow die Geschichte des Departementvorstehers zu er- zählen, von der die Senatoren gesprochen hatten: wie die Sache herausgekommen und wie der Mann, der von Gesetzes wegen in die Bergwerke gehörte, zum Gouverneur einer Stadt in Sibirien ernannt war. Dann berichtete er mit besondrem Vergnügen, wie verschiedene hochstehende Per- jönlichkeiten eine Summe Geldes gestohlen hätten, die für Errichtung eines noch nicht fertigen Denkmals bestimmt war, an dem sie heute morgen vorbeigegangen waren; ferner wie eine Maitresse so und so viele Millionen an der Börse ge- Wonnen und so und so viele verloren hätte; wie ein Herr Soundso seine Frau verkauft und wie ein andrer sie gekauft hätte; endlich von einer Reihe von Spitzbübereien und allen möglichen Verbrechen angesehener Männer, die nicht im Zuchthaus, sondern in verschiedenen Ressorts auf Ehrenplätzen saßen. Diese Erzählungen, deren Vorrat anscheinend un- erschöpflich lvar, bereiteten dem Advokaten großes Vergnügen: sie zeigten ganz augenfällig, daß die Mittel, die er, der Advokat» anwandte, um sich Geld zu verschaffen, durchaus korrekt und unschuldig im Vergleich mit jenen Mitteln waren, welche zum selben Zwecke von den höchsten Beamten in Petersburg an- gewandt wurden. Und deshalb war der Advokat sehr er- staunt, als Nechljudow sich von ihm verabschiedete, ohne seine letzte Geschichte zu Ende gehört zu haben, sich einen Wagen nahm und nach Hause, au den Quai fuhr. Nechljudow war sehr traurig. Er war namentlich des- wegen traurig, weil der abschlägige Bescheid des Senats die unsinnige Grausamkeit gegen die unschuldige Maslowa be- stätigte, und weil dieser Bescheid seinen unabänderlichen Eni- schluß, sein Los mit dem ihrigen zu vereinigen, noch schwerer machte. Sein Kummer nahm noch zu infolge der schrecklichen Erzählungen von der herrschenden Verderbtheit, über die der Advokat mit solchem Vergnügen sprach; und außerdem dachte er unaufhörlich an den üblen, kalten, abstoßenden Blick dcS einst lieben, offenen, vornehmen Seljonin. Als Nechljudow nach Hause zurückkehrte, gab der Portier ihm mit einer gewissen Verachtung einen Brief, den„irgend ein Frauenzimmer" in der Portierloge geschrieben hätte, wie der Portier sich ausdrückte; es war ein Brief von der Mutter der Schustowa. Sie schrieb, sie sei gekonimen, um ihrem Wohlthäter, dem Retter ihrer Tochter,' zu danken und ihn außerdem zu bitten und anzuflehen, zu ihnen nach der Wassilij Ostrow, fünfte Linie, in eine bestimmte Wohnung zu kommen. Es sei das, schrieb sie, für Wjera Jcfremowna sehr notwendig. Er solle nicht fürchten, daß man ihm mit Dank- bezeugungen zur Last fallen würde; von Dankbarkeit würde man nicht reden, sondern sich einfach freuen, ihn zu sehen. Wenn es sich einrichten ließe, ob er dann nicht morgen früh kommen wollte. Ein andrer Brief war von Bogatyrew, einem ehemaligen Kameraden und Flügeladjutanten des Kaisers, den Nechljudow gebeten hatte, seine Bittschrift wegen der Sektierer dem Kaiser persönlich einzuhändigen. Bogatyrew schrieb in seiner weitläufigen, festen Schrift, er würde die Bittschrift, wie er versprochen, unmittelbar dem Kaiser selbst über- reichen; aber ihm sei eingefallen, ob es für Nechljudow nicht besser wäre, erst diejenige Person aufzusuchen, von der die Sache abhinge. Nechljudow befand sich nach den Eindrücken der letzten Tage seines Aufenthalts in Petersburg im Zustande voll- ständiger Hoffnungslosigkeit, irgend etwas zu erreichen. Seine in Moskau gefaßten Pläne erschienen ihm in der Art jener Jugendträume, die ins Leben tretenden jungen Leuten un- vermeidliche Enttäuschungen bereiten. Aber dennoch hielt er es jetzt, wo er einmal in Petersburg war, für seine Pflicht, alles auszuführen, was er zu thun beabsichtigte, und er be- schloß, schon morgen, nach der Beratung mit Bogatyrew, seinem Vorschlag gemäß zu handeln und die Person zu besuchen. von der die Angelegenheit der Sektierer abhing. Er holte aus seinem Portefeuille Papiere heraus und las sie durch, als ein Lakai der Gräsin Jekaterina Jwanowna bei ihm anklopfte und eintrat. Er überbrachte eine Einladung, nach oben zu kommen und dort Thee zu trinken. Nechljudow sagte, er würde sofort erscheinen, legte die Papiere in das Portefeuille und ging zur Tante. Auf dem Wege nach oben schaute er durchs Fenster auf die Straße und erblickte das Fuchsgespann Mariettas. Da wurde ihm plötzlich lustig zu Mute, und er hätte am liebsten gelacht. Marietta saß im Hut, aber schon nicht mehr im schwarzen, sondern in einem hellen, bunt geblümten Kleide mit einer Tasse in der Hand neben dem Sessel der Gräfin und zwit- scherte ihr etwas in das Ohr, wobei ihre hübschen lachenden Augen glänzten. In dem Augenblick, als Nechljudow ins Zimmer trat, hatte Marietta soeben etwas so Lächerliches und dabei Unanständiges vom Stapel gelassen— das sah Nechljudow sofort an der Art des Lachens—, daß die gutmütige, schnurrbärtige Gräfin Jekaterina Jwanowna, mit
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17 (13.6.1900) 112
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