Anterhaltungsblatt des Vorwäris

Nr. 120.

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Auferstehung.

Sonntag, den 24. Juni.

( Nachdruck verboten.)

Noman von Leo Tolstoj  .

Versteht sich, Juſtizirrtümer kommen immer vor und werden immer vorkommen. Eine menschliche Einrichtung taun nicht vollkommen sein."

,, Und dann ist ein großer Teil unschuldig, weil die Leute in einer bestimmten Sphäre aufgewachsen sind und die von ihnen begangenen Thaten nicht für Verbrechen halten."

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Verzeihen Sie, das ist unrichtig; jeder Dieb weiß, daß Diebstahl nicht gut ist, und daß man nicht stehlen darf, daß Diebstahl unmoralisch ist," sagte Ignatius Nikiphorowitsch immer mit demselben ruhigen, selbstüberzeugten, etwas ver­ächtlichen Lächeln, welches Nechljudow besonders aufbrachte. Nein, das weiß er nicht; man sagt ihm: stiehl nicht, aber er sieht und weiß, daß die Fabrikherren ihn um seine Arbeit bestehlen, indem sie ihm den Lohn vorenthalten, daß Beamte der Regierung ihn. unter der Form von Steuern un aufhörlich bestehlen..."

Das ist schon mehr Anarchismus," definierte Ignatius Nikiphorowitsch ruhig die Bedeutung der Worte seines Schwagers.

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" Ich weiß nicht, was das ist; ich sage einfach, was ist," fuhr Nechljudow fort. Er weiß, daß die Beamten ihn be­stehlen, weiß, daß wir Gutsbesizer ihn schon lange bestohlen haben, da wir den Boden besitzen, der Allgemeingut sein muß, und daß wir ihn, wenn er auf diesem gestohlenen Boden Reisig zum Heizen seines Ofens sammelt, ins Ge­fängnis werfen und ihn überzeugen wollen, er sei ein Dieb. Ohne Frage weiß er, daß nicht er ein Dieb ist, sondern diejenigen, die ihm das Land gestohlen haben, und daß die Wiedereinbringung der gestohlenen Güter eine seiner Pflichten der Familie gegenüber ist."

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und die Existenzbedingungen des Standes aufrecht erhalten müssen, in dem wir geboren sind, die wir von unsern Vor­fahren ererbt haben und die wir unsern Nachkommen hinter­lassen müssen."

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" Ich halte es für meine Pflicht Erlauben Sic," ließ Ignatius Nitiphorowitsch sich nicht unterbrechen. Ich spreche nicht für mich und meine Kinder. Das Vermögen meiner Kinder ist sichergestellt und ich ver­diene so viel, daß wir ohne Sorgen leben können- so wie ich es auch von unsern Kindern hoffe, und deswegen, ge­statten Sie die Bemerkung, entspringt mein Protest gegen hre nicht ganz wohlüberlegten Pläne nicht aus persönlichen Interessen, sondern ich vermag principiell nicht mit Ihnen übereinzustimmen. Und ich möchte Ihnen doch raten, mehr nachzudenken und einmal nachzulesen..."

Nun, überlassen Sie mir das schon selbst, über meinte Angelegenheiten zu entscheiden und zu wissen, was ich lesen muß und was nicht," sagte Nechljudow und wurde ein wenig blaẞ; er fühlte, daß seine Hände erkalteten und er die Herr­schaft über sich selbst verlor, verstimmte und begaun Thee zu trinken.

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Dreiunddreißigstes Rapitel.

Nun, was machen die Kinder?" fragte Nechljudow seine Schwester, nachdem er sich etwas beruhigt hatte.

Die Schwester erzählte von den Kindern, daß sie mit der Großmutter zurückgeblieben wären, und begann dann, sehr zufrieden darüber, daß der Streit mit ihrem Mann aufgehört, zu erzählen, daß ihre Kinder Reisen spielten, genau so, wie einft er mit seinen drei Puppen gespielt- mit dem schwarzen Mohren und einer andern Puppe, die die Französin" hieß. Das weißt Du wirklich noch," sagte Rechljudow lächelnd.

Und denk Dir, genau so spielen auch sie." Das unangenehme Gespräch war zu Ende. Natalie be­" Ich verstehe nicht, und wenn ich verstehe, stimme ich ruhigte sich, wollte aber in Gegenwart ihres Manns nicht dem nicht bei. Das Land muß unbedingt irgend jemandes über dasjenige sprechen, was nur ihrem Bruder verständlich Eigentum sein. Wenn Sie es teilen," begann Ignatius war, und begann, um eine allgemeine Unterhaltung ein­Nitiphorowitsch, vollkommen und fest davon überzeugt, daß zuleiten, von einer Petersburger Neuigkeit, dem Summer der Nechljudow ein Socialdemokrat sei und daß die Forderungen Namenskaja, zu sprechen, die ihren einzigen Sohn im Duell der socialdemokratischen Theorie darin beständen, alles Land verloren hatte. gleichmäßig zu verteilen, und daß eine solche Teilung sehr dumm sei, und er sie leicht widerlegen könne: wenn Sie es heute gleichmäßig teilen, geht es morgen wieder in die Hände der Fleißigeren und Fähigeren über..." Niemand denkt auch nur daran, das Land gleich mäßig zu verteilen. Es soll niemandes Eigentum sein, soll nicht Gegenstand von Kauf oder Verkauf oder von Darlehen bilden."

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Ignatius Nifiphorowitsch gab seiner Mißbilligung einer Ordnung der Dinge Ausdruck, bei der die Tötung im Duell aus der Reihe allgemeiner Kriminal verbrechen ausschiede.

Diese Bemerkung rief eine Erwiderung Nechljudows hervor, und es entbrannte wieder ein Streit über dasselbe Thema, wobei in keinem Punkte etwas entschieden wurde und beide Gegner sich nicht aussprachen, sondern bei ihren bom Partner jedesmal verurteilten Ueberzeugungen stehen blieben.

Das Eigentumsrecht ist dem Menschen angeboren. Ohne Eigentumsrecht giebt es fein Juteresse an der Bearbeitung Ignatius Nitiphorowitsch fühlte, daß Nechljudow ihn ver­des Lands. Vernichten Sie das Eigentumsrecht und wir tehren zum Zustande der Wildheit zurück," brachte Iguatins Nifiphorowitsch antoritativ heraus, und wiederholte damit das gewöhnliche, für unwiderleglich gehaltene Argument zu Gunsten des Privatbesizes von Land, welches auf der An­nahme beruht, daß das Verlangen des Volfs nach Landbesitz dessen Notwendigkeit beweist.

" Im Gegenteil, erst dann wird kein Land mehr brach liegen wie jetzt, wo die Gutsbesiker, wie der Hund auf dem Heu, selbst nicht im stande, das Land zu benutzen, andern, die cs vermöchten, feine Benutzung vorenthalten."

Hören Sie, Dmitri Iwanowitsch  , das ist doch voll­kommener Blödsinn! Wie ist es möglich, in unsrer Zeit das Grundeigentum aufzuheben? Ich weiß, das ist seit langem Ihr Steckenpferd. Aber erlauben Sie mir, Ihnen einfach zu fagen..." Und Ignatius Nikiphorowitsch wurde blaß und feine Stimme begann zu zittern: augenscheinlich berührte diese Frage ihn sehr nahe. Ich möchte Ihnen raten, diese Frage wohl zu überlegen, bevor Sie an die Entscheidung derselben durch die That herangehen."

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urteilte und seine ganze Thätigkeit verachtete und wollte ihm die ganze Ungerechtigkeit seines Urteils zeigen. Nechljudow aber war, gauz abgesehen von dem Aerger, den er darüber empfand, daß der Schwager sich in seine Landangelegenheiten einmischte( in der Tiefe seiner Seele fühlte er, daß der Schwager und die Schwester und ihre Kinder als seine Erben das Recht dazu hätten), im Innersten damit unzufrieden, daß dieser beschränkte Mensch voller Selbstvertrauen und Nuhe fortfuhr, etwas für richtig und gesetzlich zu erklären, was Mechljudow jezt unzweifelhaft sinnlos und frevelhaft vorkam. Dieses Selbstvertrauen erregte Nechljudow.

Was hätte das Gericht dann thun sollen?" fragte Nechljudow.

Einen von den beiden Duellauten wie gewöhnliche Mörder zu Zivangsarbeit verurteilen."

Nechljudows Hände erkalteten wieder, und er begann

hikig:

Sprechen Sie von meinen persönlichen Angelegenheiten?" feit " Ja, ich nehme an, daß wir alle uns in einer gewissen Abhängigkeit befinden und die Verpflichtungen auf uns nehmen müssen, welche aus dieser Abhängigkeit erwachsen, ist

"

"

Nun, und was wäre dann?"

Das wäre dann gerecht."

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Als wenn Gerechtigkeit das Ziel der richterlichen Thätig­bildete," sagte Nechljudow.

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Was denn sonst?"

,, Aufrechterhaltung der Standesinteressen. Das Gericht meiner Meinung nach nur ein Werkzeug der Verwaltung