Anterhaltungsblatt des Horivärts Nr. 132. Mittwoch, den 11. Juli. 1900 <?Iachdrllik eeibottB.) 72) Aufevpkehuug. Roman von Leo T o l st o j. In dem Murinen Zimmer roch es außer nach Tabaks- rauch noch nach irgend welchen sehr scharfen, übelriechenden Sachen. Bei Nechljudows Anblick stand der Offizier auf und rückte gleichsam spöttisch und argwöhnisch dem Eintretenden entgegen. „Was ist gefällig?" sagte er und schrie, ohne die Antwort abzuwarten, in die Thür:„Bcrnoiv, den Samowar! Wird's endlich!" „Sofort." „Ich werd' Dir sofort was draufgcbc», daß Du daran denken sollst!" schrie der Offizier mit blitzenden Augen. „Bringe schon!" rief der Soldat und trat mit dem Samowar ein. Nechljudoiv wartete, bis der Soldat den Samowar hingestellt hatte(der Offizier begleitete ihn mit blinzelndem bösen Blicken, als messe er ab, wohin er ihn schlagen sollte). Als der Samotvar aufgestellt war, goß der Offizier Thce auf. Tann holte er aus seinem Reisekasten eine viereckige Karäffe mit Cogiiac und Albcrt-Cakes hervor. Nachdem er alles das auf das Tischtuch gestellt, wandte er sich wieder an Nechljudow. „Also womit kann ich dienen?" „Ich ni ächte um eine Zusammenkunft mit einer Gcfaugeuen bitten," sagte Nechljudow. ohne sich zu setzen. „Mit einer Politischen? Ist gesetzlich verboten," sagte der Offizier. „Das Weib ist keine Politische," sagte. Nechljudow. „Bitte sehr, setzen Sic sich," lud der Offizier ihn ein. Nechljudow setzte sich. „Sie ist keine Polttischc," fuhr er fort,„sondern man hat ihr auf mein Bitten von oben her gestattet, mit den Politischen zu reisen." „Ah. ich iveiß." unterbrach ihn der Offizier.„Die Kleine, Schwarze? Gewiß, das geht. Befehlen Sie Eigaretten V" Er schob Nechljudow' eine Schachtel mit Eigaretten hin, schenkte accurat zwei Gläser Thee ein und schob eins Nechljudow hin. „Bitte," sagte er. „Ich danke Ihnen. Ich möchte sie sprechen.. „Die Nacht ist lang. Das können Sic. Ich lasse sie Ihnen herausrufen." „Geht es nicht so. daß sie nicht heransgernfen wird, sondern daß man mich in den Raum hineinläßt sagte Nechljudow. „Zu den Politischen? Gesetzlich verboten." „Man hat mich mehrmals hineingelassen. Wenn man bc sürchtet, daß ich etwas übergebe, so könnte ich das ja auch durch sie thun." „O nein, sie wird durchsucht," sagte der Offizier und lachte in unangenehmem Ton, indem er die crckorkte Karaffe an Nechljudows Glas heranschob.„Gestatten Sie V Nun, wie Sie wünschen. Lebt man in diesem Sibirien , so ist man über jeden gebildeten Menschen seeleuvergnügt. Unser Dienst ist ja, wie Sie wissen, der allertraurigste. Und wenn ein Mensch sich an einen andern gewöhnt hat, ist es schwer. Man hat ja von unsereins die Meinung, daß ein Eskorte- Offizier ein roher, ungebildeter Mensch ist! ober daran denkt man nicht, daß jemand ganz in andern Leuten auf- gehen kann." DaS rote Gesicht des Offiziers, sein Parfüm, der Fiugcr- riug und besonders sein unangenehmes Lachen waren Nechljudow sehr widerwärtig; aber er befand sich auch heute, wie während der ganzen Reisezeit, in jener ernsten und auf- merksanien Gemütsverfassung, in der er sich nicht erlaubte, mit jemand, wer es auch immer sein mochte, leichtsinnig und verächtlich umzugehen, sondern es für nötig hielt, mit jedem Menschen„über alles" zu sprechen, wie er selbst dieses Der- hältnis bezeichnete. Nachdem er den Offizier angehört und feinen Seclenzustaiid begriffen, sagte er ernsthaft: „Ich denke, man kann auch in Ihrer Thätigkeit einen Trost darin finden, daß man die Leiden der Leute erleichtert," sagteer.''■ „Welche Leiden? Es ist doch nun einmal solches Volk." „Wieso ist es ein besonderes Volk?" sagte Nechljudow. „Die Leute sind genau so wie alle, manche sind auch im- schuldig." „Gewiß sind alle möglichen da. Gewiß hat man Mitleid. Andre erlauben gar nichts, ich dagegen bemühe mich, ihr Los zu erleichtern, wo ich kann. Will lieber selbst leiden, als daß ich sie leiden lasse. Andre kommen,»venn etwas loS ist, sofort mit dein Gesetz: ich dagegen habe Mitleid. Befehlen Sie? Trinken Sic ans," sagte er und goß noch Thee auf.„Was. ist das eigentlich für ein Weib, das Sie zu sehen wünschen?" fragte er. „Es ist— eine Unglückliche; sie ist ungerecht venirteilt, wegen einer Vergiftung; es ist aber ein sehr braves Weib," sagte Nechljudow. ' Der Offizier schüttelte de» Kopf- „Ja, das kommt vor. In Kasan war eine, will ich Ihnen sagen— die hieß Enrma. Eine geborene Ungarin, die Augen richttg persisch," fuhr er fort, nicht mehr im stände, bei dieser Erinnerung ein Lächeln zurückzuhalten.„War so chic, daß sie füglich als Gräfin..." Nechljudow unterbrach den Offizier und kehrte zu dem früheren Gespräch zurück. „Ich denke, Sie könueu die Lage solcher Leute erleichtern, so lauge sie in Ihrer Macht sind. Wenn Sie so handeln, bin ich überzeugt, werden Sie große Freude empfinden ," sagte Nechljudow und bemühte sich, möglichst deutlich zu reden, wie man mit Ausländern oder Kindern spricht. Der Offizier blickte Nechljudow mit glänzenden Augen an und wartete offenbar ungeduldig daraus, daß er enden würde, um die Erzählung von der Ungarin mit den persischen Angcu fortzusetzen, die offenbar lebhaft vor seitler Einbildung stand und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. „Ja. daS mag meinetwegen so sein," sagte er.„Ich be- dauere sie auch. Nur wollte ich Ihnen von dieser Emma er- zählen. Also die that folgendes..." „Es interessiert mich nicht," erwiderte Nechljudow:„ich will Ihne" offen sagen, daß ich früher wohl anders gewesen bin, aber jetzt solche Beziehungen zu Frauen Haffe ." Ter Offizier sah.Nechljudow erschreckt an. „Aber nicht noch ein Gläschen gefällig?" sagte er. „Nein, danke." „Bernotv!" rief der Offizier-.«Führ den Herrn zu Wakulorv! laß ihn in die Abteilung zu de» Politischen führen! da kann er bis zur Kontrolle bleiben." Achtes Kapitel. Bon der Ordonnanz geleitet, trat Nechljudow wieder auf den dmikeln Hos, der von rot brennenden Laternen trübe er- leuchtet war. „Wohin?" fragte ciiHhnen begegnender Eskovtesoldat den Begleiter Nechljudows. „Nach der Abteilung Nnirrmer 5." „Hier kannst Du nicht durch, ist geschlossen. mußt über die andre Treppe." „Was heißt geschloffen?" „Hat der Aelteftc gethan, ist dann selbst ins Dorf ge- gangen." „Rinn, dann kommen Sie hier." Der Soldat führte Nechljudow eine andre Treppe hinauf imd trat ans den Brettern zu einem andren Eingang. Schuir vom Hof ans rvar drinnen cur Sttinnwngctöse und eine Bewegung zu hören, wie in cmcin großen Bienenstock. dessen Insassen sich zum Ausschwärmen anschicken. Als aber Nechljudow näher trat und die Thür öffnete, da verstärkte sich dieses Getöse und ging in ein Gewirr von sich überschreienden, schimpfenden und lachenden Stimmen über. Man hörte den klirrenden Klang von Ketten, und es rvar ein gewisser schwcrcr Gcnich zu verspüren. Diese beiden Eindrücke— das. Stiminengetösc mit dem Kettengeklirr rmd dieser schreckliche Geruch— floffcn für Nechljudotv stets in ein quälendes Gefiihl zusammen: in eine Art moralische llebelkeit, die in körperliche ilcbelkcit über-
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17 (11.7.1900) 132
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