Nnterhalwngsblatt des Vorwärts Nr. 86. Freitag, den 3. Mai. 190t (Nachdruck verdaten.) 231 A. V v V i ki Roman in drei Büchern von Emile Zola . Aus dem Französischen übersetzt von Leopold Rosenzweig. Jollivet lachte über seine eigne witzige Rede, und der gute Mazelle, der vor der Armee tiefen Respekt empfand, lachte gefällig mit: während Lucile, die Verlobte des Hauptmanns, ihren liebe- heischenden, verschleierten Rätselblick auf ihm ruhen ließ und ihn schweigend mit einem leichten, eigenartigen Lächeln beobachtete, als denke sie stillbelustigt daran, wie er sich als Gatte aus- nehmen werde. Und am andren Ende der Tafel saß der junge Achille Gourier ebenfalls schweigend, Zeuge und Richter in einer Person, in den Augen den funkelnden Strahl der Verachtung, die ihm seine Familie ebenso einflößte wie ihre Freunde, mit denen sie ihn zwang, an einem Tische zu sitzen. Aber da erhob sich wieder eine Stimme, die von allen gehört wurde, als man gerade eine Entenleberpastete, ein wahres Wunderwerk der Kochkunst, auftrug. Es war die Stimme der Madame Mazelle, die bis jetzt stumm über ihren Teller gebeugt gesessen hatte, nur damit beschäftigt, den Am sorderungen ihrer Krankheit Genüge zu thun, die ihr reichliche und kräfttge Nahrung vorschrieb. Und da Boisgelin, der sich ganz Fernanden widmete, sie vernachlässigte, hielt sie sich an Gourier, beschrieb diesem ihr Eheleben und betonte, wie voll ständig sie mit ihrem Mann über die Erziehung einig sei, die sie ihrer Tochter Louise geben wollten. Ich will nicht, daß man ihr den Kopf mit zu vielerlei Kram beschwert. Fällt mir nicht ein! Wozu sie unnötiger weise quälen? Sie ist unser einziges Kind und wird einmal alles erben, was wir besitzen." Ohne klare Absicht, lediglich einer kleinen boshaften Regung nachgebend, der er nicht widerstehen konnte, warf Lucas hier plötzlich ein: Wissen Sie denn nicht, Madame, daß das Erbrecht aus gehoben werden wird? Und sehr bald sogar, sowie die neue Gesellschaftsordnung eingeführt ist." Alle Gäste hielten dies natürlich für Scherz, aber die Verblüffung Madame Mazclles war so komisch zu sehen, daß alle ihr beizustehen trachteten. Das Erbrecht aufgehoben. welche Ungeheuerlichkeit! Das vom Vater erworbene Geld sollte den Kindern entrisien, diese sollten gezwungen werden, ihr Brot wieder selber zu verdienen? Selbstverständlich, cnt- gegnete Lucas, das sei die logische Konsequenz des KollekttviS- mus. Und als Mazelle seiner Frau erregt zur Hilfe kam und ausrief, daß er unbesorgt sei, sein ganzes Vermögen sei in Renten angelegt, und man werde es nie wagen, an das Staatsschuldenbuch zu rühren, erwiderte Lucas gelassen: Da sind Sie eben sehr im Irrtum, verehrter Herr. Das Staatsfchuldenbuch wird verbrannt, die Renten werden für ungültig erklärt. Diese Maßregel ist beschlossene Sache." Dem Ehepaar Mazelle verging der Atem. Die Renten für ungültig erklärt I Das schien ihnen ebenso unmöglich, wie daß der Himmel auf ihre Köpfe niederstürze. Sie waren so fassungslos, so entsetzt durch diese Androhung des Umsturzes aller heiligsten Gesetze, daß Chütelard sich veranlaßt fühlte, sie mit spottender Gutmütigkeit zu beruhigen. Er wandte sich halb gegen das Kinderttschchen, wo trotz Pauls gutem Beispiel Nise und Louise sich nicht besonders gut aufgeführt hatten. Nicht doch, nicht doch," sagte er,das kommt noch nicht von heut auf morgen, und Ihre Kleine wird mittlerweile noch Zeit haben, groß zu werden und ihrerseits Kinder zu be- kommen. Nur wäre eS einstweilen gut, wenn nian ihr das Gesicht abwischte, denn sie hat sich, wie es scheint, ordentlich mit Creme beschmiert." Damit war wieder der Uebergang zu Lachen und Fröhlich- keit gefunden. Alle hatten jedoch den Hauch des Kommenden, den Windstoß der Zukunft gefühlt, der wieder über diese Tafel hingefahren war und ihren aus Unrecht entstammten Luxus, ihre vergiftenden Genüsse hinweggefegt hatte. Und alle stellten sich als Schutzwehr vor die Rente, das Kapital, die bürger- liche und kapitalistische Gesellschaftsordnung, die auf der Lohn- fllaverei beruht. Die Republik begeht einen Selbstmord an dem Tage, wo sie an dem Eigentum rührt," sagte Gourier. der Bürger- meister. Wir haben Gesetze, und alles bricht zusammen, wenn sie nicht mehr angewendet werden," sagte der Präsident Gaume. Auf alle Fälle ist die Armee da. und sie wird dafür sorgen, daß das Gesindel nicht zu Herren der Welt wird," sagte der Hauptmann Jollivet. Vertrauen wir auf Gott , er ist die Güte und die Ge- rechtigkeit," sagte der Abbv Marle. Boisgelin und Delaveau begnügten sich damit, beizustimmen, denn sie waren es, denen alle socialen Mächte zu Hilfe eilten. Und Lucas erkannte deutlich, wie die Regierung, die Beamten- schaft, die Justiz, die Armee, die Geistlichkeit mit allen Kräften die sterbende Gesellschaftsordnung stützten, das entsetzliche Gerüst der Ungerechtigkeit zu erhalten suchen, das zur Grund- läge hat die mörderische Arbeit der ungeheuren Mehrzahl, welche das verderbte Nichtsthun einiger wenigen mit ihrem Blute nähren muß. Die schreckliche Vision des gesttigen Abends setzte sich hier fort. Nachdem er die Unterseite gesehen, sah er nun die Oberseite dieser in Auflösung begriffenen Gesellschaft, deren Bau auf allen Seiten klaffende Risse bekam. Und selbst hier, inmitten dieses Luxus, dieses triumphierenden Glanzes, hörte er das Knistern und Knacken, er sah sie alle von Unruhe ergriffen, sich betäubend, dem Abgrunde szueilend. wie alle die Verblendeten, welche von den Revoluttonen weg- geschwemmt werden. Das Deffert wurde aufgettagen, die Tafel war bedeckt von Cremes, von süßem Backwerk, von herrlichem Obst. Um dem Ehepaar Mazelle wieder das volle Gefühl der Behaglichkeit zurückzugeben, stieß man, als der Champagner kam, auf das Nichtsthun an, auf das göttliche Nichtsthun, das nicht von dieser Welt ist. Und inmitten dieses prächttgen, fröhlichen Speisesaals, über den die großen Bäume draußen ein mildes grünes Licht streuten, ver­sank Lucas in tiefes Sinnen. Ein mächtiger Gedanke, von dem er unbewußt erfüllt gewesen, begann klar und klarer in ihm zu werden; angesichts dieser Leute, welche die ungerechte und tyrannische Macht der Vergangenheit verkörperten, er- kannte er die heilige Pflicht, für die Befreiung der Zukunft zu wirken. Nach dem Kaffee, der im Salon gereicht wurde, schlug Boisgelin einen Spaziergang durch den Park bis zum Pächter- Hof vor. Währeud der ganzen Mahlzeit hatte er sich eifrig um Fernande bemüht, die ihn nach wie vor abweisend behandelte. Sie entzog ihm ihren Fuß unter dem Tisch, sie antwortete ihm nicht einmal und widmete ihr strahlendes Lächeln ausschließlich dem Unterpräfekten ihr gegenüber. Das dauerte nun schon seit acht Tagen. Sie verweigerte ihm jede Süßigkeit, sowie er sich einmal vermaß, irgend eine ihrer Launen nicht augenblicklich zu erfüllen. Der Grund ihrer gegen- wärttgen Entzweiung war. daß sie verlangt hatte, er solle eine Parforcejagd veranstalten, lediglich weil sie das Vergnügen haben wollte, dabei in einem neuen Kostüm zu erscheinen. Er hatte sich erlaubt, nein zu sagen, denn die Kosten waren enorm; obendrein hatte Suzanne, als sie von dem Plan hörte, ihn inständig gebeten, doch vernünftig zu sein. Damit war nun der Kampf zwischen den beiden Frauen erklärt, und es handelte sich darum, wer den Sieg davontragen würde, die Geliebte oder die Gattin. Während der Mahlzeit war dem sanften, traurigen Blicke Suzannens nichts von der ge- spielten Kälte Fernandens. noch von der ängstlichen Beflissen- heit ihres Mannes entgangen. Als dieser daher den Spazier- gang vorschlug, begriff sie sogleich, daß es sich ihm lediglich darum handelte, ein Alleinsein mit der Schmollenden herbei- zuführen, um sich zu verteidigen und sie wiederzugewinnen. Verletzt, außer stände, einen solchen Kampf zu führen, zog ie sich auf ihre leidende Würde zurück und sagte, daß sie hier bleiben wolle, um den Mazelle Gesellschaft zu leisten, die aus Gesundheitsrücksichten nach Tische niemals einen Schritt gingen. Der Präsident Gaume, seine Tochter Lucile und der Hauptmann Jollivet erklärten ebenfalls, daß ie es vorzögen, ruhig zu bleiben; das hatte zur Folge, daß der Abbö Marie dem Präsidenten vorschlug, eine Partie Schach zu spielen. Der junge Achille Gourier hatte sich schon der- abschiedet, glücklich, wieder mit seinen Gedankeil allein durchs