„Fährt denn heut abend das Dampfschiff?" „Ja, der„Peveril";'s giebt aber nicht Wasser genug, sagt man, um ihn vor halb acht Uhr flott zu machen, Hier ist das Nachtkleid der Kleinen und ihre Leibbinde— die wäre gerade groß genug für unsereinen, um sich das Handgelenk zu verbinden, wenn mau sich's beim Buttern ausgerenkt hätte." „Hänge sie zum Lüften über den Ofenschirm, Nancy ; ich will das Kind noch nicht gleich umziehen. Aber eile Dich, es ist bald sieben." „Ich will nur noch mein Tuch fest stecken, dann bin ich fort wie der Wind," sagte Nancy mit der Nadel zwischen den Zähnen.„Jetzt schläft"das Herzchen schon wieder." „Es schlägt, Nancy . Tu wirst erst kommen, wenn alles vorüber ist," sagte Käthe und bewegte die Wiege rascher mit dem Fuß, nun die Kleine wieder einge- schlafen war. „Tu meine Güte, laß mich nur noch die Hutbänder binden. Schade, daß Du nicht selbst gehen kannst, Kitty. Doch wenn sie nur einen Schutz Pulver wert sind, so werden sie hier herumschwenkcn und Dir auch was zum Besten geben." „Hast Du den Schlüssel bei Dir, Nancy ?" „Ja. und in einer Stunde bin ich zurück. Vergiß nur Nicht, das Kind bald schlafen zu legen, und sorge dafür... und denke daran—" Mit so vielen Erniahnungen, als ob sie die Herrin und Käthe die Dienerin gewesen wäre, ging Nancy endlich zum Hause hinaus. Käthe stand sofort auf, legte das Kind in die Wiege und deckte den Tisch für Petes Abendessen. Sie stellte den Milch- krug und die Teller hin, die Thcekanne auf die Wänueplatte, sie warm zu erhalten, und dann aus Gewohnheit zwei Paar Tassen dazu. Der Anblick der Tassen brachte sie zur Be- finnung. Sie setzte die eine in den Schrank zurück, schürte die Kohlen aus dem Feuer, hing den Kessel über die lodernde Glut und stellte den blechernen Bratofcn mit drei Speck- schnitten vors Gitter. Dann zündete sie ein Licht an, sah sich noch mit unruhigem Blick ringsum und ging die Treppe hinauf. In ihrer Schlafstube nahm sie den Mantel um, steckte sich mit zitternden Fingern Hut und Schleier fest, zog ihre Börse aus der Tasche und leerte den Inhalt auf den An- ziehtisch. „Das ist nicht mein," dachte sie. Da sie gerade vor dem Spiegel stand, sah sie ihre Ohrringe.„Ich darf nichts mit- nehmen, was von ihm ist," sagte sie zu sich selbst und griff mit den Händen nach dem Geschmeide. Dann aber schlug ihr das Herz.„Als ob Pete je an solche Dinge denken würde!— Gewiß nicht, und wenn ich auch alles, was er auf der Welt besitzt, mit fort nähme. Und weshalb soll ich mir's überlegen? Doch ich kann— ich will es nicht be- halten." Sie öffnete ein Schubfach und schob rasch alles hinein— daL Geld, die Ohrringe, den Schutzring für ihren Trauring, dann aber zögerte sie bei dessen Berührung. Ein abergläubisches Gefühl hielt sie zurück. Aber, war nicht der Ring das Ab- zeichen des von ihr gebrochenen Gelübdes?—„Mit diesem Ringe verbinde ich mich Dir." Sie riß sich den Trauring ebenfalls ab und warf ihn zu dem übrigen. „Er wird alles finden," dachte sie.„Es ist das einzige, woran er erkennen kann, was geschehen, ist. Wenn er konimt, bin ich nicht mehr da. Er wird nach mir rufen und keine Antwort erhalten. Er wird nach mir suchen und ich bin doch auf immer für ihn verloren. Kein zurückgelassenes Abschieds- wort. Nicht eine einzige Zeile, um ihm zu sagen:„Lebewohl, mein guter Pete; ich danke Dir für alle Güte, die Du mir erwiesen hast. Gott segne Dich!" Es war grausam und unbarmherzig— doch was konnte sie schreiben? Was hätte sie sagen können, das nicht besser ungesagt geblieben wäre. Die kleinste Silbe— nein, völlige Ungewißheit war noch weit erträglicher. Vielleicht würde Pete glauben, sie wäre tot— sie hätte sich das Leben genommen. Selbst das Ivürde weniger bitter sein als die Wahr- heit. Er konnte darüber hiuwegkommen, er würde sich hinein- finden.„Nein," dachte sie,„ich kann nichts schreiben, ich kann ihm keinen Abschiedsgrutz zurücklassen." Sie schloß rasch das Schubfach und griff nach dem Licht. Als sie es that, bewegte sich auch ihr Schatten. Er stieg vom Fußboden zur Wand auf, von der Wand zur Decke. Im Gehen war es ihr, als ob etwas über ihr wäre, das auf sie herabhinge und drohte sie niederzudrücken und zu zcr- malmen. Es überlief sie kalt und sie eilte zur Thür. Die Stube war noch voll von andren Schatten— den Erinnerungen an schlaflose Nächte und schmerzliches Ertvachen. Sie starrten ihr aus allen Winkeln entgegen; die Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, die Kleiderkammer, die rosa Vor- hänge des Bettes, das weiße Kissen darunter— alles redete davon! Ihr war zu Mute, wie einem furchtsamen Kinde. Noch einen entsetzten Blick über die Schulter zurückwerfend, schlich sie hinaus. Als sie lvieder unten war, atmete sie freier. Hier war alles licht und das Besuchszinimer war behaglich und warm. Der Kessel sang über der Glut, die Katze schnurrte auf dem Kaminteppich und der Geruch des langsam bratenden Specks durchzog das Geniach. Sie sah nach der Uhr— es war ein Viertel auf acht.„ES ist Zeit, das Kind zu wecken," dachte sie. lFortsetznng folgt.) (Nachdruck verbotni.) Eine Gnkkin. Von Anton Tschechow . „Zum Donncrwetter, icb habe Ihnen doch ausdrücklich verboten, meinen Schreibtisch zu berühren I" sagte Nilolai Jeivgrafitsch böse. „Jedesmal, wenn Sie aufgeräumt haben, kann ich' nichts mehr finden. Wo haben Sie z. B. wieder das Telegramm verkramt? Ei» sehr wichtiges Telegramm... aus Kasan ... mit dem gestrigen Poststempel! Bitte, suchen Sie jetzt I" Mit gleichgültigem Gesicht begann das magere, blasse Stuben- mädchen im Papierlorb zu suchen und reichte dem Doktor schließlich mehrere Telegramme hin; das gewünschte war aber nicht darunter. lauter Stadttelegramme von Patienten. Dann begann man im Salon, dann im Zimmer Olga Dimitrewnas zu suchen. ES war ein Uhr nachts. Nikolai Jeivgrafitsch wntzte, daß seine Frau schwerlich vor fünf Uhr früh nach Hause kommen würde. Er fand keine Ruhe, wenn sie, ivie heute, lange ausblieb, sondenr ver« zehrte sich vor Eifersucht und Verachtung. Er verachtete seine Frau, ihr Bett, ihre Bonbonniere, den Spiegel, die Maiglöckchen und Hya- zinthcn, welche ihr täglich von irgend jemand geschickt wurden und in der ganzen Wohnung die widerlich- süße Atmosphäre eines Blumenladens erzeugten. In solchen schlaflosen Nächten war er kleinlich, launisch, händelsüchtig, und deshalb versteifte er sich auch jetzt darauf, das gestern vom Bruder erhaltene Telegramm unter allen Umstünden wiederzubekommen, obwohl es weiter nichts als eine Gratulation enthielt. Im Zimmer seiner Frau fand er auf dem Schreibtisch unter dem Karton mit den Briefbogen ein Telegramm. Er betrachtete es flüchtig. Es kam aus Monte Carlo , war an seine Schwiegermutter adressiert, an Olga Dimitrewna abzugeben, und mit„Michel" unter- schrieben. Vom Text verstand der Doktor nichts, da die Depesche in eiuer fremden Sprache, wahrscheinlich englisch, abgefaßt liwr. Wer ist dieser Michel? Warum aus Monte Carlo ? Warum an die Schiviegermutter adressiert? In den sieben Jahren seiner Ehe hatte er so vielfach Grund zu Mißtrauen, so oft Gelegenheit zur Entdeckung versteckter Briefe gehabt, daß er dank dieser Vorbereitung einen vorzüglichen Kriminal- beamte» abgegeben haben würde. In sein Kabinett zurückgekehrt, begann er denn auch jetzt diese neue Spur weiter zu verfolgen. Er erinnerte sich, daß er vor 1�/2 Jahren mit seiner Frau in Petersburg gelvesen, dort mit ihr eine Gesellschaft bei einem ehe- maligeu Schulkameraden besucht und bei dieser Gelegenheit einen jungen Menschen von 22 oder 23 Jahren Namens Michael Jwanitsch Reisz kennen gelernt hatte. Zwei Monate später hatte er im Album seiner Frau die Photographie dieses jungen Menschen entdeckt mit der französischen Widmung:„Zur Erinnerung an die Gegenwart und in der Hoffnung auf die Zukunft l" Dann hatte er diesen Menschen einigemale bei seiner Schwiegermutter getroffen.... Und das alleü gerade in jener Zeit, da Olga Dimitrelvna häufig des Abends ausging und nie vor 4 oder 5 Uhr früh zurückkehrte; damals, als sie ihn beständig unr einen Auslandspaß bat, den er ihr ebenso hartnäckig venveigerte. Und Scenen waren damals an der Tagesordnung gcweseir, daß' man sich vor den Dienstboten hätte schämen müssen. Vor eineni halben Jahre hatten seine Kollegen bei ihm die ersten Anzeichen der Schivindsncht konstatiert und ihm geraten, alles im Stich zu lassen und nach der Krim zu reisen. Olga Dimitrewna hatte bei dieser Mitteilung sehr erschreckt gethan, hatte ihm unaus- gesetzt versichert, in der Krim sei es langweilig und kalt, er solle lieber nach Nizza gehe», dann würde sie ihn begleiten, ihn pflegen, ihn hüten... Jetzt verstand der Doktor mit einem Male, warum seine Frau gerade nach Nizza hatte reisen wollen: ihr Michel lebt ja in Monte Carlo ! Mit Hilfe eines englischen Wörterbuches übersetzte oder erriet er die Worte und ihre Bedeutung und stellte schließlich anS dem Telegranun folgende Sätze zusammen:„Ich trinke auf das Wohl
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19 (10.7.1902) 132
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