-

294

-

Marime lachte laut auf; als sie ihn ängstlich fragend anjah, begann er:

Ach was, ich glaube, Sie haben sich da wieder eine recht unnötige Sorge aufgeladen. Papa wird diese ganze Mühe nicht recht begreifen... Er hat schon so viclerlei Familien unannehmlichkeiten erlebt!"

Sie konnte die Augen von ihm nicht abwenden, wie er äußerlich tadellos dastand in seiner selbstsüchtigen Genußsucht, in seiner hübschen, blasierten Verachtung aller menschlichen Bande, auch derjenigen, die nur durch flüchtige Lust geschaffen sind. Ein Lächeln war auf seinen Lippen sichtbar, denn er allein freute sich der hinter seinem letzten Satz verborgenen Bosheit.

Sie hatte jetzt das Bewußtsein, daß sie das Geheimnis der beiden Männer streifte.

" Sie haben Ihre Mutter früh verloren?" " sa, ich habe sie faum gekannt Ich besuchte noch in Plassans das Gymnasium, als sie hier in Paris starb... Unser Onkel, Dottor Pascal, hat dort meine Schwester Klothilde bei sich behalten, die ich nur einmal seitdem gesehen habe."

Aber Ihr Vater hat wieder geheiratet?" " Ja, ja, geheiratet... Die Tochter eines höheren Be­amten, eine geborene Béraud du Châtel... Renée, feine Mutter für mich, eine liebe Freundin..."

Dann sette er sich neben Staroline nieder.

-

Der

Bater noch nichts gesagt... Ich möchte so gern dieses arme fampfes gebiert den Dichter. Weil nun von solcher gerade ein Wesen etwas vom moralischen Schmutz reinigen, damit man Arbeiterleben so oft erschüttert wird, so läßt sich die Anzahl der Zu es lieben kann." nicht selten ungewöhnlich begabten Dichter sehr wohl erklären. Jedes der­den alten stellen sich von Zeit zu Zeit nene Talente. selben giebt einen Beweis von der ungemein hohen geistigen Regfamteit, zu welcher die sociale Bewegung das gewaltige Heer der Arbeiterschaft anspornt und befähigt. Nachgerade beginnt man nun auch schon im Lager des nichtsocialistischen Bürger­tums jener Erscheinung Aufmerksamkeit zu schenken. Romanschriftsteller Adolf Wilbrandt vermittelt uns nämlich die Bekanntschaft mit dem Erstlingsbuche eines in Brooklyn - New York lebenden Fabrikarbeiters deutscher Zunge:$ ugo Bertsch. Aus Bilbrandts Vorwort, mit dem er das Wertchen einführt, sei ent­nommen, daß Bertsch im schwäbischen Schwarzwald geboren ist, dort eine Dorfschule besuchte und Feldarbetter war. Jung an Jahren verließ er die Scholle, durchwanderte, nach eigner Mit­teilung, die Welt kreuz und quer und wurde bis Amerika ver­schlagen. Als Farmer, Bergmann , Holzhacer, Ziegelbrenner, Matrose, Fabrikarbeiter, in grobem Kittel, mit rauhen, schweren Händen aber( ohne zu erröten) reiner, unsäglich empfindlicher Seele", schreibt er habe ich so für mich gelesen, gelebt, geduldet getveint. Ein Sonderling." Bertsch ist ein Mann int reifsten Jahren, verheiratet und Familienvater, seit er zit schreiben begami. Nach des Tages Arbeit ist so in der Küche, am Küchentisch inter den Augen der Kinder sein Buch wieder- Die Geschwister"") entstanden. Wenn auch nicht der erste dichterische Versuch, ist es doch das erste Werf, das dem Heraus­geber nicht bloß als druckreif, sondern zugleich als Zeugnis einer hervorragenden Dichterbegabung erschien. Jawieweit Wilbrandt dabei als ästhetischer Berater mitgewirkt hat, läßt sich natürlich nicht feststellen. Sicher ist, daß das Buch so wie es in seiner möglichst durchfichtig geführten romanhaften Handlung" und vor allem in seiner stofflichen, wie formalen Begrenzung vorliegt, ge wissermaßen unter den Augen Wilbrandts entstand. Denn Bertsch war ja ein Werdender. Wohl hatte er viel in Büchern, mehr noch in Gottes Buch: Die Welt " gelesen, allein die erzieherische Unter­weisung im Berufe des Schriftstellers hatte ihm gefehlt und die Ermutiging, welche der sicherste Kraftmistor für einen fünstlerisch Was 111111 Ringenden ist, obendrein. Bertsch giebt, ist, im Kern eine eine schlichte, wo nicht gar wie mich dinkt, zweier Geschwister. Von Von Hand­alltägliche Seelengeschichte darin und das wenige verschwimmt ung" ist nicht viel beinah unter den Beichten, Kontemplationen, Eindrücken und Ergüssen der beiden nur in Briefen miteinander verkehrenden Ge­schwister: Tom Bratt und Jennie Daly. Beide, Bruder und Schwester, sind also die Hauptpersonen der Geschichte. Tom war Fabritarbeiter in New Yorf bis zu dem Tage, da ihm eine Band­fäge die linke Hand abschnitt und somit die Familie des gesunden Ernährers beraubte. Nachdem Tom das Spital als geheilt verlassen hat, bemüht er sich, während sein Weib Eva als Wäscherin den Beschäftigung. Betteln oder in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ver harren, will und kann Tom nicht. Endlich glückt es ihm, bei der= felben Fabrik, in der er früher arbeitete, Nachtwächter zu werden. Ein interimistischer Posten mir, denn Pratt figuriert lediglich für den erkrankten Hüter. Aber auf diesen einförmigen Stunden­rundgängen und stillen Nachtwachen wird er zum Dichter ver­Er muß schreiben. Das ist das Eigenste an der Geschichte und das wundersamste Erleben in Pratts Elends­dajein. Was da entsteht, ist ein Roman Der Seestern". Derselbe bringt dem Autor Nuhm und Geld in Hülle und Fülle. Nun kann er auch an die unversorgten Kinder seiner inzwischen verstorbenen Schwester Jennie denken. Die war die Frau eines Bergmanns in pilot Knob gewesen und seine Trösterin, so lange sie lebte. Der Umstand, daß ihr ein Junge im Bergwerk durch eine einstürzende Gesteinstvand erschlagen worden war, hatte den Schwager Peter Daly veranlaßt, mit seiner Familie nach den Silbergruben von Montana im amerikanischen Sibirien auszuwandern. Dort war Jennie gestorben. Peter Daly heiratete aber bald eine Schauffellnerin. Nun bekamen es die Kinder sehr schlecht.

Sehen Sie, man uni eben Papa verstehen. Er ist, mein Gott! nicht schlimmer als die andren. Aber seine Kinder, seine Frauen, furz, seine ganze Umgebung, alles fommt für ihn erst nach dem Gelde in Betracht. Doch halt, damit Sie mich nicht mißverstehen: er liebt nicht das Geld wie ein Geizhals, um einen großen Haufen um sich zu haben und es in seinen Keller zu vergraben. Nein! Wenn er es überall hervorquellen lassen möchte, wenn er aus jeder beliebigen Quelle Geld schöpft, so thut er dies, damit es ihm in Strömen aufließe, so thut er dies um aller Genüsse willen, die das Geld ihm verschafft, Lurus, Sinnenlust und Macht. So ist er eben, das steckt ihm im Blut. Er könnte uns beide ver­faufen, Sie und mich und gleichviel wen, wenn wir in irgend einen Handel hineinpaßten. Und dies ganz unbewußt und mit überlegenem Geist, denn er ist der leibhaftige Dichter der Million", so sehr vermag ihn das Geld zu bethören, jo jehr macht es ihn zum Schurfen, ja zum Schurken im aller- Unterhalt für Mann und sind zu erwerben trachtet, um irgend eine größten Stil!"

Das war's eben, was Frau Karoline bereits erfaunt hatte; jie ließ Marime reden und nickte ihm beistimmend zu. O, das Geld, dieses verrottende, vergiftende Geld, welches die Seelen austrocknet und daraus Güte, Zärtlichkeit, Riebe zum Nächsten tilgt! Das Geld allein so dachte sie weiter wandelt. ist der wahre Schuldige, der Gelegenheitsmacher aller Grau famfeiten und Schmählichkeiten der Menschen. In diesem Augenblick verfluchte und verabscheute sie das Geld mit der empörten Entrüstung ihres Seelenadels und ihres ehrlichen Frauengemüts. Hätte sie die Macht dazu besessen, so hätte sie mit einer Handbewegung das gesamte Geld der Welt vernichtet, wie man das Böse mit der Ferse vertritt, um das Wohlsein der Welt zu retten.

" So? Ihr Vater hat wieder geheiratet?" wiederholte sie nach einer Bause, mit langsamer, verlegener Stimme, als wachten wirre Erinnerungen wieder auf.

Wer war's denn, der in ihrer Gegenwart auf diese Ge­Tom Pratt reiste deshalb nach Montana mud nahm alle fünf, schichte angespielt hatte? Jedenfalls eine Frau, irgend eine zwei Knaben und drei Mädchen, mit sich nach New York . Das ist die Geschichte zweier Familien, richtiger die Geschichte der beiden Bekannte, in den ersten Zeiten feiner Uebersiedelung nach der Geschwister; denn die Briefe, die sie, dann auch Pratts Frau mit Rue Saint- Lazare , wo er als neuer Mieter den ersten Stock der Schwägerin austauschten, sind doch die Hauptsache daran. bewohnte. Handelte es sich nicht um eine Geldheirat, um um die Briefe der Schwester ist es freilich ein sonderlich irgend einen schmachvollen Handel? Und hatte nicht später Ding. Sie haben gewiß viel Weibliches ant sich; dennoch die Art, mit find, noch das Verbrechen ruhig im neuen Haushalt seinen Einzug ge- will der dieselben vorgetragen find, mehr aber ihr halten? hochgeistiger, grüblerischer grüblerischer Gedankeninhalt wenig mit der weichen Gefühlsart eines Weibes zusammenklingen. Hier ist es Bertsch nicht gelungen, das Wesen von Mann und Frau durchweg auseinander zu halten, es sei denn, er wollte glauben machen, daß auch Tom Pratts Schwester ein Ausnahmemensch" wie er selber gewesen sei. Immerhin kommt das Gefühlsleben der Frau besonders darin zur Geltung, wie sie sich als milde Trösterin des Bruders erweist. Sie hält es bei aller fritischen Veranlagung gegen über ihrem richtigen, manchmal räjonnierenden socialen Instinkt doch mit der Kirche und mit dem Glauben an Gott, bis sie stirbt. In Tom Pratt dagegen zeichnete Bertsch sich selber. Jener ist Fabrit

( Fortschung folgt.)

( Nachdrud verboten.)

Das Buch eines fabrikarbeiters.

In der Geschichte der deutschen Socialdemokratie bildet die Arbeiter- Dichtung eine charakteristische Erscheinung; nicht bloß darum, weil sich in ihr alle Entwicklungsphasen des Socialismus wieder spiegeln, sondern hauptsächlich deshalb, daß sie von Talenten her­rührt, die entweder den Reihen der Arbeiter entsprossen sind, oder dieser Klasse angehören. Nur die schmerzvolle Tragit des Daseins

*) J. G. Cottas Nachf. Stuttgart - Berlin 1903,