Wnterhattungsblatl des vorwärtsNr. 102. Mittwoch, den 27. Mai. 1908(Nachdruck verboten.)Das Geld.Roman von Emile Zola.Diese und andre Ziffern blieben jedoch unbestimmt, undFrau Karoline konnte zu keiner genauen Schätzung jedeseinzelnen Gewinnes gelangen, da die Börsenoperationen involler Verborgenheit stattfinden und die Wechselmakler dasAmtsgeheimnis streng bewahren. Selbst aus den Notiz-büchern hätte man nichts ersehen können, da die einzelnenNamen nicht aufgeschrieben werden. So suchte sie vergeblichdie Summe zu erforschen, die der nach der letzten Abrechnungverduftete Sabataui als Beute mitgenommen haben mußte.Wieder ein harter Schlag für Mazaud. Mit Sabataniwar es die gewöhnliche Geschichte gewesen! Der zuerst mitMißtrauen aufgenommene verdächtige Kunde hatte eine kleineDeckung von zwei- bis dreitausend Frank hinterlegt undwährend der ersten Monate vorsichtig gespielt, bis der geringeBetrag vergessen und er mit dem Makler befreundet war;dann ergriff er nach irgend einem Räuberstreich die Flucht.Mazaud beabsichtigte Sabatani exekutieren zu lassen, wie erdamals Schlosser exekutiert hatte, einen Gauner von derselbennie aussterbenden Bande, die den Markt ausbeutet, wie infrüherer Zeit die Straßenräuber einen Wald. Der Levantineraber, dieser halb orientalische Italiener mit den Sammet-äugen, er war verschwunden, um irgend eine ausländische Börseabzugrasen, angeblich die von Berlin. Dort wartete er, bisman ihn in Paris vergessen hätte, kehrte dann im stillenzurück, von neuem begrüßt und inmitten der allgemeinen Nach-ficht bereit, seinen Streich zu wiederholen.Darauf hatte Frau Karoline ein Verzeichnis der in Mit-leidenschaft Gezogenen aufgestellt. Der Krach der Universellewar eine jener gewaltigen Erschütterungen gewesen, die eineganze Stadt gefährden. Nichts blieb aufrecht und im Gleich-gewicht, alle Nachbarhäuser bekamen Risse, Tag für Tagstürzten die einen oder die andren zusammen. Schlag aufSchlag fielen die Banken mit dem plötzlichen Gckrach dernach einem Brande stehen gebliebenen Mauerreste um. Mitstummem Entsetzen lauschte inan auf dieses unheimliche Krachenund fragte sich, wo der Ruin eigentlich ein Ende nehmenwürde.Was ihrem Herzen näher lag als die Bankhäuser, dieGesellschaften, die Verheerungen au den vom Sturmwind weg-geblasenen Menschen und Dingen der Finanz, das waren alledie armen Leute, Aktionäre lind Spekulanten, die sie persön-lich gekannt und geliebt hatte und die unter den Opfern zuBoden lagen. Nach der Niederlage zählte sie ihre Toten. Dawaren nicht Bloß ihr armer Dejoie, die beschränkten undjammernden Maugendres, die in ihrer Trauer so rührendenDamen Beauvilliers; ein andres Drama hatte sie tief er-schüttert, die tags zuvor beim Seidenfabrikantcn Ssdille aus-gebrochene Gant. Diesen hatte sie im Aufsichtsrat wirkensehen, er war der einzige, dem sie zehn Sous anvertraut hätte,ihn erklärte sie für den ehrlichsten Menschen von der Welt.Welches entsetzliche Ding war doch diese Spielleidenschaft! EinMann, der dreißig Jahre gebraucht hatte, um durch Arbeitund Redlichkeit eines der gediegensten Häuser in Paris auf-zubauen, hatte in weniger als drei Jahren dasselbe dermaßenunterwühlt, daß es mit einem Schlage in Staub gesunken war.Mit welcher herben Trauer mochte er an die arbeitsvollenTage von ehemals zurückdenken, da er noch an den mit zäherAnstrengung zu gewinnenden Reichtum glaubte, bis ein ersterzufälliger Gewinn ihn mit Verachtung dafür erfüllte und ihmben verzehrenden Traum eingab, in einer Stunde an der Börsedie Million zu erobern, zu welcher ein ehrlicher Kaufmann seinganzes Leben braucht! Jetzt hatte die Börse alles weggerafft,der unglückliche Mann war niedergedonnert, zu Boden ge-wrfen, unfähig und unwürdig, die Geschäfte wieder aufzu-nehmen, und sein Sohn würde in der Armut vielleicht einGauner werden, dieser nach Freuden und Lustbarkeitenstrebende Gustave mit seinen vierzig- bis fünfzigtausend FrankSchulden, der schon in einer schmutzigen Geschichte mit Schuld-scheinen an Germaine Coer verwickelt war,Ein andrer armer Teufel that Frau Karoline herzlichleid, nämlich der Kommissionär Massias,— und Gott weiß,ob sie sonst für diese Vermittler der Lüge und des Betrugesmitleidig war! Aber sie hatte auch ihn gekannt, diesen Mannmit den großen, lachenden Augen, mit der Miene eines ge-prügelten, gutmütigen Hundes, wenn er durch ganz Parislief, um eine armselige Austräge zu erjagen. Eine Zeitlanghatte er sich endlich für einen der Herren des Marktes ge-halten, an Saccards Sohlen geheftet dem Spielglück Gewaltangethan,— und nun hatte ihn ein entsetzlicher Sturz ausseinem Traum geweckt, jetzt lag er mit zerschmetterten Rippenam Boden. Er schuldete siebzigtausend Frank, und er hattesie bezahlt, obwohl er so gut wie viele andre die Ausnahmedes Hazardspieles geltend machen konnte. Statt dessen hatteer bei Freunden Geld geliehen, sein ganzes Leben verpfändetund die erhabene und überflüssige Dummheit begangen, seineSchuld zu zahlen; denn niemand wußte ihm Dank dafür. ImGegenteil, man zuckte hie und da hinter seinem Rücken dieAchseln. Sein Groll äußerte sich nur gegen die Börse; erverfiel wieder in den alten Ekel für sein widerliches Hand-werk und sagte, man müßte ein Jude sein, um es zu etwaszu bringen. Dennoch bequemte er sich, da er einmal dabeiwar, auch dabei zu bleiben, und ließ die hartnäckige Hoffnung,schließlich doch das große Los zu gewinnen, nicht sinken, solange sein Auge scharf und seine Beine flink waren.Die unbekannten Toten auf dem Schlachtfeld, die Opferohne Namen und ohne Geschichte erfüllten das Herz FrauKarolinens mit unendlichem Mitleid. Diese waren Legion,die entlegenen Büsche seitwärts, die grasbewachsenen Gräbenwaren mit ihren Leichen gefüllt, auch hinter jedem Baum-stamm lagen verlorene Leichname und angströchelnde Ver-wundete. Wie viele entsetzliche, stumme Dramen in demSchwärm der mittellosen kleinen Rentner, der kleinenAktionäre, die auf den einen Wert ihre gesamten Ersparnissegesetzt hatten,— ehemalige Hausdiener, bleiche, alte Jungfern,die mit ihrer Katze lebten, pensionierte Unterbeamten in derProvinz, deren Leben geregelt war wie eine Uhr, durchAlmosengeben verarmte Landpfarrer, alle diese blutarmenMenschen, deren Budget einige Sous beträgt, so viel für Milch,so viel für Brot, ein so genau berechnetes und so kleinesBudget, daß der Aussall von zwei Sous schwere Erschütte-rungen herbeiführt! Im Nu war alles weg, das Leben ab-geschnitten und fortgeweht; greise, zitternde Hände, jederArbeit unfähig, tasteten angswoll im Dunkel umher. Allediese ruhigen und bescheidenen Existenzen hatte der Krach miteinem Ruck in das Grauen der Not geschleudert! Hundertverzweiflungsvolle Briefe waren aus Vendüme gekommen, wodas Verschwinden des Renteneinnehmers Fayeux das Unglücknoch verschlimmert hatte. Mit den anvertrauten Geldern undPapieren seiner Kunden hatte dieser ein Börsenspiel im großenUmfange getrieben, hatte dann verloren und war mit dennoch in seinen Händen befindlichen paar Hunderttausendendurchgebrannt. Rings um Vendome, in den entferntestenBauernhäusern hinterließ er Thränen und Elend. Ueberallihatte der Krach die ärmsten Hütten in Mitleidenschaft gezogen.Waren nicht, wie nach den großen Seuchen, die erbarmungs-würdigen Opfer die Leute aus jenem Mittelstand der kleinenSparer, deren Verluste erst die Söhne nach jahrelanger, harterArbeit wieder einholen konnten?Endlich ging Frau Karoline aus, um sich zu Mazaudizu begeben. Während sie zu Fuß nach der Rue de la Banquehinabschritt, überdachte sie im stillen die wiederholten Schläge,die seit vierzehn Tagen den Makler heimsuchten. Da betrogihn Fayeux um dreimalhunderttausend Frank, Sabatanihinterließ eine unbezahlte Rechnung von fast doppeltem Be-trage, der Marquis de Bohain und die Baronin weigerten sich,zusammen über eine Million Differenzen zu begleichen, dieGant Södille brachte ihn etwa um die gleiche Summe, dazukamen die acht Millionen, welche ihm die Universelle schuldete,diese acht Millionen, für die er Saccard in Kost genommenhatte.— dieser entsetzliche Verlust, diese gähnende Kluft, dieihn stündlich vor den Augen der angstvoll harrenden Börsezu verschlingen drohte. Zweimal war bereits das Gerüchtvon der Katastrophe umgegangen. Zu dieser Fülle von Miß-geschick war ein letztes Unglück hinzugekommen, und dies warder Tropfen Wasser, von dem das Gefäß überlaufen sollte!