Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 104.

66]

Das Geld.

Freitag, den 29. Mai.

( Nachdruck verboten.)

Roman von Emile Zola .

1903

heimgesucht. Nun war Alice von Beauvilliers am fraglichen Nachmittage ohne ihre Mutter in das Heim gekommen, um der dienstthuenden Schwester bei der vierteljährlichen Revision des Arzneischrankes behilflich zu sein. Dieser Schrank stand in dem Raum zwischen den beiden Krankensälen, dem für Behn Jahre lang hatte der Millionenregen angehalten, Knaben und dem für Mädchen. Im ersteren befand sich Victor heitere Schlafräume mit hellen Malereien, großartige allein in einem Bett; die Schwester war auf wenige Minuten Touvreähnliche Fassaden, blühende Gärten voll seltener fortgegangen und hatte bei ihrer Rückkunft zu ihrer Ueber­Pflanzen, zehn Jahre voll prächtiger Arbeiten, in einem un- raschung Alice nicht wieder angetroffen, so daß sie nach kurzem glaublichen Durcheinander von Unternehmern und Bau- Warten die Vermißte zu suchen begann. Ihr Erstaunen wuchs, meistern. Und nun war sie herzlich froh und durch das Be- als sie wahrnahm, daß die Thür zum Krankenſaal der Knaben wußtsein hoch beglückt, ihre Hände seien nunmehr rein, fein inzwischen von innen verriegelt worden war. Was ging denn Sou, fein Centime mehr übrig. Sie hatte sogar das erstaun- vor? Sie mußte hinten durch den Gang herumgehen und liche Kunststück fertig gebracht, Schulden zu machen, und sie war beim Betreten des Zimmers vor dem sich darbietenden wurde wegen einiger auf etliche hunderttausend Frank sich be- Anblick entsegt und starr geblieben. Die junge Gräfin lag Laufenden Rückstände verfolgt, ohne daß es ihrem Sach- halb erwürgt auf dem Bette, ein Tuch über das Gesicht ge­verwalter gelingen wollte, in der endgültigen Zerbröckelung worfen, um ihr Schreien zu ersticken. Am Boden lag ein des nach allen vier Winden des Almosens hinausgeworfenen leeres Geldtäschchen, Victor war verschwunden. Der Vorhang Riefenvermögens die Summe aufzubringen. Deshalb fündete ließ sich leicht wieder zusammenstellen: Alice war wohl herein­ein großes Schild über dem Thorweg die Versteigerung des gerufen worden und hatte dem fünfzehnjährigen, schon männ­Hotel Orviedo an; das war der letzte Besenstrich, der die letzten lich behaarten Jungen eine Schale Milch gebracht; dann war Spuren jenes im blutigen Kot der Börsenräubereien auf der Unhold plößlich nach jenem schwächlichen Körper und jenem gelesenen Sündengeldes tilgen sollte. zu langen Halse lüstern geworden und aufgesprungen, hatte Ober erwartete die alte Sophie Frau Karoline. Sie war das Mädchen gewürgt und wie einen Lappen aufs Bett ge­immerwährend in wütender Stimmung und brummte den worfen, vergewaltigt und bestohlen, dann in aller Haft seine ganzen Tag: sie hatte es ja gesagt, die Fürstin würde schließ- Kleider übergeworfen und die Flucht ergriffen. Aber wie lich kein Bett mehr behalten; hätte sie nicht eher sich wieder viele dunkle Punkte, wie viele verblüffende und unlösbare verheiraten und mit einem andren Manne Kinder bekommen Fragen! Wie kam's, daß man nichts gehört hatte, kein Ringen sollen, da ihr das Herz ja ausschließlich daran hing? Für und fein Stöhnen? Wie hatten so grauenhafte Dinge sich sich selbst brauchte sie zwar nicht zu klagen und zu sorgen, so rasch innerhalb kaum zehn Minuten zutragen können? Wie denn sie hatte längst eine Jahresrente von zweitausend Frank hatte namentlich Victor es fertig gebracht, sich zu flüchten und erhalten, die sie jetzt in ihrer Heimat bei Angoulême zu ver- gewissermaßen spurlos zu verduften? Nach den sorgfältigsten zehren gedachte. Aber der Zorn übermannte sie bei dem Ge- Nachforschungen hatte man nämlich die Gewißheit erlangt. danken, daß die Fürstin sich nicht einmal die wenigen Sous daß er nicht mehr im Hause war. Wahrscheinlich hatte er vorbehalten hatte, die sie jeden Morgen für Brot und Milch, seinen Weg über den Bädersaal genommen, der auf den Gang ihre einzige Nahrung, brauchte. Daraus entstanden endlose mündete und dessen Fenster über einer Reihe übereinander 3wistigkeiten zwischen den beiden Frauen. Die Fürstin pflegte getürmter Dächer sich öffneten, die bis zum Boulevard führten: voll gottseliger Hoffnung lächelnd zu antworten, sie brauche indessen bot ein solcher Weg derartige Gefahren, daß viele nicht ja vom nächsten Monat ab nur noch ein Zeichentuch, nach ihrem glauben wollten, ein menschliches Wesen könnte ihn genommen Eintritt in das Kloster, wo sie sich längst ihren Plaz belegt haben. Alice war zu ihrer Mutter gebracht worden und hütete hatte, ein strengstens von der Welt abgeschlossenes das Bett, halb bewußtlos, schluchzend und von hochgradigem Karmeliterkloster. Ruhe, ewige Ruhe! Fieber geschüttelt.

Wie Frau Karoline seit vier Jahren die Fürstin gekannt hatte, genau so fand sie dieselbe heute wieder, mit ihrem ewig schwarzen Kleid, das Haar durch ein Spitzenfichu verdeckt, trot ihrer neununddreißig Jahre noch hübsch mit ihren Perlen­zähnen in dem rundlichen Gesicht, aber ihre Gesichtsfarbe war gelblich, ihr Fleisch wie nach zehnjähriger Klostereinschließung abgestorben. Die enge Stube, ähnlich dem Geschäftszimmer eines Gerichtsvollziehers in einer Provinzstadt, hatte sich seit­dem mit einem noch unentwirrbareren Haufen von Papieren gefüllt, Pläne, Rechnungen, Aftenbündel, das gesamte für diese Verschwendung von dreihundert Millionen verschriebene Papier.

" Frau Karoline," begann die Fürstin mit ihrer milden und langsamen Stimme, die von keiner Erregung mehr er bebte, ich wollte Ihnen selbst eine Nachricht mitteilen, die mir heute zugegangen ist... Es handelt sich um Victor, jenen Jungen, den Sie im Heim der Arbeit" untergebracht haben."

Frau Karolinens Herz begann schmerzlich zu pochen. D, der Unglücksknabe, den sein Vater trotz seiner ausdrück­lichen Versprechungen nicht einmal vor seiner Einferferung in der Conciergerie besucht hatte, während der Monate, in denen er sein Dasein gekannt hatte! Was sollte jetzt aus ihm werden? Und so sehr sie gegen jeden Gedanken an Saccard tämpfte, immer wieder schweiften sie in dem Gewissenskampf ihrer freiwilligen Mutterschaft zu ihm zurück.

Es sind gestern entsegliche Dinge passiert," fuhr die Fürstin fort, ein Verbrechen, welches durch nichts gefühnt werden kann."

Dann erzählte sie mit ihrer eisigen Ruhe einen grauen­haften Vorfall. Seit drei Tagen lag Victor in der Kranken­abteilung, da er unerträgliche Kopfschmerzen vorgeschützt hatte. Der Arzt hatte zwar eine Verstellung aus Faulheit vermutet, aber der Knabe war thatsächlich von häufigen Neuralgien

" Ihnen will ich keinen Vorwurf machen, Frau Karoline," schloß die Fürstin, denn es wäre ungerecht, Ihnen die ge­ringste Verantwortlichkeit aufzubürden, aber Sie hatten da wirklich einen ganz entsetzlichen Schüßling."

Und als fände eine stille Gedankenverbindung in ihrem Geiste statt, fuhr sie fort:

Man lebt nicht ungestraft in gewissen Umgebungen. Ich selbst habe die größten Gewissensstörungen empfunden und mich als Mitschuldige gefühlt, als neulich diese Bank zu­sammenstürzte und so viel Verderben und Unheil aufhäufte. Nein, ich hätte nicht zugeben sollen, daß mein Haus die Wiege einer derartigen Scheußlichkeit würde... Nun, das Unglück ist geschehen, das Haus soll geläutert werden, und ich, o! ich gehöre nicht mehr zu dieser Welt, Gott wird mir ver­zeihen!"

Das schmerzliche Lächeln der endlich erfüllten Hoffnung erschien wieder auf ihren Lippen; mit ihrer Handbewegung entsagte sie der Welt, sie wollte wie eine unsichtbare, gütige Göttin für immer verschwinden.

Frau Karoline hatte die Hand der Fürstin ergriffen. Sie drückte fie fest und füßte fie, durch Gewissensbisse und Mitleid derart verwirrt, daß sie nur zusammenhanglose Worte stotterte. Sie haben unrecht, mich freizusprechen, ich bin schuldig... Das unglückliche Mädchen, ich will es sehen, ich eile sofort zu ihr.. Sie ging fort und ließ die Fürstin mit ihrer alten Magd allein, die nun für die große Reise zu packen begann, welche nach vierzigjährigem Zusammenleben beide Frauen trennen sollte.

Drei Tage zuvor, am Sonnabend, hatte die Gräfin von Beauvilliers sich endlich entschlossen, ihr Haus den Gläubigern zu überlassen. Seit sechs Monaten brachte sie die Zinsen der Hypotheken nicht mehr auf und war dadurch in eine unerträg­