Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 106.
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Das Geld.
Mittwoch, den 3. Juni.
( Nachdruck verboten.)
Also, Madame, abgemacht, ich will mich der Sache an nehmen... Falls Sie Nachrichten zu hören wünschten, bemühen Sie sich nicht bis zur Rue Marcadet, sondern kommen Sie einfach zu Herrn Busch, Rue Feydeau, wo Sie mich täglich gegen vier Uhr sicher treffen."
Mit einer neuen Angst im Herzen kehrte Frau Karoline
nach der Rue Saint- Lazare zurück.
Dieser gegen die Menschheit losgelassene, unstät durch die Welt irrende und gehezte Unhold, welche Verheerungen würde er wie ein hungriger Wolf im Gewühl der Menschenmenge anrichten, um seiner anererbten Bösartigkeit zu frönen? Rasch nahm sie ihr Frühstück und ließ einen Wagen holen. Vor ihrem Besuch in der Conciergerie hatte sie noch Zeit, am Boulevard Bineau vorzusprechen, und sie brannte vor Begier, möglichst bald die näheren Umstände zu erfahren.
Unterwegs, in ihrer wirren Aufregung feimte ein Gedanke auf, der bald ihr ganzes Denken beherrschte: sie wollte zuerst zu Marime, ihn mit nach dem„ Heim der Arbeit" nehmen und dazu nötigen, sich um Victor zu fümmern, dessen Bruder er ja immerhin war. Er allein war noch reich, er allein konnte helfen und in wirksamer Weise sich der Sache an
nehmen.
Bei ihrer Ankunft in der Avenue der Kaiserin fühlte sich aber Frau Karoline schon im Vestibül des reichen fleinen Hotels zu Eis erstarren. Tapeziere nahmen Teppiche und Wandbehänge herunter, Diener schützten die Sessel und die Kronleuchter durch Ueberzüge, während aus den durcheinandergewühlten Sächelchen auf den Möbeln, auf den Etagèren ein matter Duft wie von einem am Tage nach dem Ballfest weggeworfenen Blumenstrauß emporstieg. Hinten im Schlafzimmer erschien Marime zwischen zwei mächtigen Koffern, die der Kammerdiener mit einer wundervollen Wäsche- Ausstattung, reich und zart, wie für eine Braut, vollpackte.
Sobald er ihrer ansichtig wurde, begann er sehr fühl und mit barscher Stimme:
" So? Sie sind es! Sie kommen mir gerade recht, das spart mir die Mühe des Schreibens an Sie. Ich habe dies alles satt und verreise."
Wie? Sie verreisen?"
" Jawohl, noch heute abend reise ich ab und lasse mich in Neapel nieder, wo ich den ganzen Winter zubringen will." Nachdem er mit einem Wink den Diener hinausgeschickt hatte, fuhr er fort:
Sie glauben vielleicht, daß es mir Spaß macht, seit sechs Monaten einen Vater in der Conciergerie figen zu haben! Ich will doch nicht hier bleiben, um ihn auf der Anklagebank zu sehen. Ach! und ich kann das Reisen nicht leiden! Nun, es ist ganz schön dort; ich nehme ungefähr mit, was ich notdürftig brauche, und werde mich vielleicht nicht gar zu sehr langweilen."
Sie sah sich den Menschen an, der tadellos und hübsch vor ihr stand, sie sah auf die überfüllten Koffer, in denen fein einziges Stück weiblicher Wäsche für eine Gattin oder eine Geliebte mitgenommen wurde, und aus denen nur die Selbvergötterung schaute. Trotzdem gestattete sie sich die Bemerkung:
" Ich kam eigentlich, um Sie wieder um einen Dienst zu bitten Dann erzählte sie ihm die Geschichte mit dem Banditen Victor.
Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen, gehen Sie mit, bereinigen wir unsre Anstrengungen."
Er ließ sie nicht ausreden, mit fahlem Gesicht und leisem, ängstlichem Bittern, als fühlte er eine schmutzige Hand auf seiner Schulter, rief er aus:
" Ja, freilich! das mußte noch kommen! Ein Vater, der stiehlt, ein Bruder, der mordet. Ich habe zu lange gezögert, ich wollte schon vorige Woche fort. Das ist ja abscheulich, ganz abscheulich, einen Mann wie mich in eine solche Lage zu bringen!"
Als sie weiter in ihn drang, wurde er geradezu unverschämt:
1903
,, Lassen Sie mich doch in Ruhe! Wenn's Ihnen Spaß macht, im ewigen Verdruß zu leben, so bleiben Sie eben darin. Gewarnt hatte ich Sie, es geschieht Ihnen recht, wenn Sie jetzt weinen müssen. Ich dagegen, lieber als ich auch nur ein Härchen hergäbe, sehen Sie, lieber wollte ich dieses ganze garstige Gesindel in die Gosse fegen." Sie hatte sich erhoben: ,, So leben Sie wohl!" ,, Leben Sie wohl!"
rief und das sorgfältige Einpacken seines Toilettennecessaires Beim Weggehen sah sie noch, wie er den Diener zurücküberwachte; sämtliche Stücke waren aus Gold und mit überaus zierlicher Bildarbeit geschmückt, am bemerkenswertesten das Waschbecken mit einem Reigen von Liebesgöttern. Bei ihrer Ankunft im Heim der Arbeit" fühlte sich Frau Karoline von einem eigentümlichen Gefühl von Auflehnung gegen den ungeheuer übertriebenen Lurus der Anſtalt ergriffen. Wozu diese beiden majestätischen Flügel, das Wohnhaus für die Mädchen und das für die Knaben, mit dem monumentalen Pavillon der Verwaltung in der Mitte? Wozu diese Spielplätze, so groß wie Parks? Wozu die Fliese in den Küchen, der Marmor an den Speisesälen, den Treppen und den Gängen, die für einen Palast geräumig genug waren? Wozu die ganze großartige Mildthätigkeit, wenn man es nicht fertig brachte, in dieser wohlthätigen und gesunden Umgebung ein schiefgewachsenes Wesen aufzurichten, ein mißratenes Menschenkind zu einem gefunden und ehrlichen Manne heranzuziehen?
Sie begab sich ungesäumt zum Hausvater, bestürmte ihn mit Fragen und wollte die geringsten Einzelheiten hören. Aber das Drama blieb unaufgeklärt, er konnte nur wiederholen, was sie bereits durch die Fürstin wußte. Seit dem gejtrigen Tage hatten die Nachforschungen im Hause selbst, wie in der Umgebung, ohne den geringsten Erfolg fortgedauert: Victor war schon verschollen, in dem grausigen Dunkel des Unbekannten trabte er durch die große Stadt hin und her. Geld hatte er wohl keins, denn die von ihm geleerte Geldtasche Alices enthielt bloß drei Frank und vier Sous. Uebrigens hatte der Hausvater unterlassen, die Polizei mit der Angelegenheit zu befassen, um den armen Damen von Beauvilliers den öffentlichen Skandal zu ersparen. Dafür sprach Frau Karoline ihren Dank aus und versprach, trob ihrer heißen Wißbegier bei der Polizeipräfektur keinerlei Schritte zu unternehmen. In ihrer Verzweiflung darüber, daß sie so unwissend fortging, wie sie gekommen war, bekam sie den Einfall, in die Krankenabteilung hinauf zu gehen, um die Schwestern auszufragen. Auch von diesen bekam sie keine bestimmte Auskunft. Dafür aber genoß sie droben in dem fleinen, ruhigen Gemach zwischen dem Schlafsaal der Mädchen und dem der Knaben ein paar Augenblicke tiefinnerlichen Friedens. Ein fröhlicher Lärm stieg herauf, es war die Zeit der Arbeitspause. Sie wurde sich jetzt ihrer Ungerechtigkeit bewußt beim Gedanken an all die glücklichen Heilungen, die hier durch gesunde Luft, Wohlstand und Arbeit erzielt wurden. Gewiß wuchsen in dieser Anstalt gesunde und starke Menschen heran! Ein Bandit auf vier bis fünf Menschen mit der Durchschnittsehrlichkeit welch schönes Ergebnis immerhin gegen die Tücke der Zufälle, welche die angestammten Triebe bald steigern, bald mildern!
Auf einen Augenblick von der dienstthuenden Schwester verlassen, trat Frau Karoline ans Fenster, um sich den Anblick der sich tummelnden Jugend zu gönnen, als der krystallene Klang heller Mädchenstimmen im Krankensaal nebenan ihre Aufmerksamkeit erregte.
Die Thüre war halb offen, so daß sie unbemerkt dem Auftritt anwohnen konnte. Es war ein überaus freundliches Gemach, dieser schneeweiße Krankenſaal mit den weißen Wänden und den vier Bettchen mit den weißen Vorhängen. Ein breiter Sonnenstrahl vergoldete den weißen Raum; es war, als ob in der lauen Luft reiche Lilienblüten ihre Selche öffneten. In dem ersten Bett links erkannte sie deutlich Magdalenchen, jene Kleine, die schon am Tage der Ankunft Victors als Rekonvalenscentin dalag und Brotschnitten mit Eingemachtem sich schmecken ließ. Sie erkrankte immer von neuem, ihr Organismus war von dem Alkoholismus ihrer Eltern unterwühlt und so hochgradig blutarm, daß sie mit