Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 112.

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Strandgut.

Donnerstag, den 11. Juni.

( Nachdruck verboten.)

Von Ernst von Wolzogen  . Indem that sich die Thür weit auf und, den rechten Arm fest um seiner Tochter Schultern gelegt und von ihr kräftig gestützt und sorglich geleitet, schritt der Auferstandene über die Schwelle. Des Feuermeisters Sonntagskleider schlotterten erbarmungswürdig um seine abgemagerten Gliedmaßen, und in dem hübschen, bleichen Jünglingsgesicht war die rotblonde Bartsaat allbereits einen reichlichen Zoll hoch und wüst genug hervorgeschossen; aber trotzdem war Ole Thorsten nicht so übel anzuschauen, mit den dunkelblauen, frohen Augen, damit er so zuversichtlich den hellen Sonnentag begrüßte, und mit dem rofigen Hauch, den Aufregung und Anstrengung ihm auf Stirn und Wangen   gemalt hatten. Und er machte auf der Schwelle ein Weilchen Halt, um sich zu verschnaufen. Dabei ließ er seinen rechten Arm noch um Thyras Nacken und winkte mit der Linken dem Alten zu.

"

Guten Morgen, Kaptein!" rief er ihm fröhlich entgegen. Eine verkehrte Welt, was? wo sich ein junger Kerl von vier­undzwanzig Jahren von einer jungen Dame die Treppe so gut wie hinuntertragen läßt! Ach, lieber Herrgott, ja! es ist ein richtiger Jammer. Aber ich denke doch, es wird mir noch vergönnt sein, ehe ich von Hjelm Abschied nehme, das ganze Fräulein Thyra, so schwer es sein mag, auf diesen zwei Armen bis zum Feuerturm hinaufzutragen!"

,, Na, na, na!" begütigte der Alte, indem er dem un­gleichen Paar entgegenging und Ole Thorstens ausgestreckte Hand kräftig drückte. Wenn Sie solche Stückchen vorhaben, Thorsten, dann machen Sie nur, daß Sie hinüber ans Land kommen, wo's frisch Fleisch und eine guten Bordeaux dazu giebt. Unfre Konserven- und Pökelwirtschaft wirft so viel nicht ab. Von Morgen an giebt's Rosinen zum Staffee der Zucker ist uns schon ausgegangen, den haben Sie in Ihrer Limonade geschluckt und so hört ein Lurus nach dem andern auf, bis wir schließlich alle zusammen am letzten Stockfisch fauen und uns dazu Schiffszwieback im Wasser einweichen."

,, Ach ja, Kaptein," lächelte der junge Mann, indem er sich auf das alte Klavier stützte: ich glaub's schon, daß Ihr mich jetzt bald los werden möchtet. Wie lange liege ich Euch denn schon auf dem Halse?"

,, Das war am 25. November, als wir Sie auffischten, und heute schreiben wir den 10. März. Aber ich spaße ja natürlich bloß: ehe Sie nicht wieder ganz seetüchtig sind, lassen wir Sie doch nicht aus unserm Trockendock. Und zum Satt­werden wird es ja wohl auch noch reichen müssen."

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" In meinem Alter soll jaunter Umständen ein junger Mensch auch von Sonnenschein und Liebe satt werden fönnen. Den Sonnenschein hätten wir ja nun endlich, und die Liebe..." Ole Thorsten brach ab und wandte sich mit einem leichten Sefzer nach Thyra um.

Herr des Himmels!" dachte der Alte: Jetzt sucht er schon den Uebergang." Und rasch fiel er ein, indem er dem jungen Isländer   unter die linke Achsel griff: Nu dreht bei, Stürmann! Hier haben wir schmal Fahrwasser, da braucht Ihr einen Lotsen zum Durchbugsieren." Damit geleitete er ihn vorsichtig durch die Enge zwischen Klavier und Eßtisch hindurch nach seinem Lehnstuhl, in den der kaum Genesene sich ziemlich erschöpft hineinjinken ließ.

Erst jetzt gewahrte Thorsten die kümmerliche Frauen­gestalt in dem andren Lehnsessel. Sofort raffte er sich wieder halb auf, um eine höfliche Verbeugung zu machen, und richtete dann eine fragenden Blick auf Thyra und ihren Vater.

,, Das ist Tante Petra," flüsterte das junge Mädchen ihm zu. Beachten Sie sie nicht weiter, sie ist..." Und sie wies auf ihre Stirn mit jener in aller Welt verständlichen Be­deutsamkeit.

Der Feuermeister begann mit ungewohnter Lebhaftigkeit, denn er wollte die gefürchtete Fragestellung so lange wie mög­lich hinausschieben, von den Wetteraussichten und dergleichen naheliegenden Dingen zu reden. Aber Ole Thorsten schenkte

1903.

ihm nur geringe Aufmerksamkeit. Wie es so manche Frauen in der Hoffnung unwiderstehlich reizt, den Anblick von allerlei Garstigkeit und widerlichen Gebrechen, der ihnen doch gefähr­lich werden könnte, geradezu aufzusuchen, so fühlte sich dieser bleiche, junge Mann seine Augen wie magnetisch gefesselt an das Jammerbild dieser schmächtigen, zusammengesunkenen Frauengestalt, die ihm da gerade gegenüber im Lehnstuhl hockte. Und auch Tante Petra betrachtete die fremde Er­scheinung mit wunderlicher Beharrlichkeit. Der stets lächelnde die matten Augen öffneten sich weiter als sonst, und die Zug um ihre Mundwinkel bekam etwas seltsam Gespanntes, schmalen Finger bewegten sich hastiger und gewaltsamer denn als nervös, aber es mußte wohl die Schwächung aller Kräfte ie durcheinander. Der junge Isländer war nichts weniger durch das lange, schwere Fieber daran schuld sein- der Anblick dieser rastlosen Finger, der starre Blick dieser gleichgültigen und doch so sanften blauen Augen ward ihm bald unerträglich. Er hatte auch nie zuvor Gelegenheit gehabt, einen Frrsinnigen so jo aus der Nähe zu beobachten, und er fühlte sich erregt von mitleidsvollem Grauen wie ein Kind, das zum erstenmal eine Leiche sieht. Er spürte bald selbst einen unwiderstehlichen mußte, um der unheimlichen Versuchung nicht nachzugeben, Drang nach hastiger Bewegung in seinen Fingern zucken und die Armlehnen seines Sessels fest um fassen.

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Ist sie immer so?" wandte sich Thorsten in der ersten Gesprächspause an Thyra, die hinter ihm auf dem Sofa saß und eine Handarbeit vorgenommen hatte. Und hinter vor­gehaltener Hand vorsichtig flüsternd fragte er weiter: Sie sieht mich nicht? Sie hat kein Bewußtsein von dem, was um sie herum vorgeht?"

,, Sie kennt die Hausgenossen wohl, und sie sieht, daß Sie ein Fremder sind; aber sie denkt nichts dabei, und wenn Sie sie anreden wollten, würde sie Sie nur immer so anstarren, ohne zu antworten. Sie spricht fast gar nicht mehr, und auch mir antwortet sie nur durch Nicken oder Kopfschütteln, wenn ich ihr einen Wunsch in den Mund lege."

,, Und wie lange ist sie schon so?" ,, So lange ich zurückdenken kann."

,, Seit sechzehn Jahren," schaltete der Alte ein. Seit Gatte und Kind im Schiffbruch umkamen!"

ihr " Die arme Frau!" seufzte Thorsten und richtete wieder seine ehrlichen, blauen Augen groß und staunend auf sein Gegenüber.

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Warum arm?" rief Thyra ernsthaft. Sie weiß nichts von der Zeit, noch von sich selbst. Sie ist und trinkt und träumt wie kann sie unglücklich sein? Was macht denn uns Vernünftige unglücklich? Erinnerung, Sehnsucht, ge­täuschte Hoffnung, das bleibt ihr ja alles erspart. Wir fühlen uns doch auch nur glücklich, wenn wir einmal ausnahmsweise von dem allen nichts empfinden, nicht wahr? Und sie empfindet es niemals!"

O, Thyra!" versetzte Ole warm, indem er sich lebhaft der Sprecherin zuwandte: Fräulein Thyra, das ist wohl nicht Ihre wirkliche Meinung! Es giebt doch auch noch Dinge in dieser Welt..." er suchte nach Worten und errötete flüchtig, da er sie nicht zu finden vermochte. Endlich schloß er hastig: Sehen Sie: ich zum Erempel bin zur Zeit ganz glücklich, obwohl meine Erinnerung... ich habe meine Eltern sehr früh verloren, ja kaum gekannt; in einem rauhen Lande in harter Arbeit aufgewachsen. Meine Hoffnungen sind auch oft genug getäuscht worden, besonders die letzten, die ich auf das Schiff und meine Reise gesetzt hatte und meine Sehnsucht... ach! Fräulein Thyra...!"

Dem Feuermeister ward es immer unheimlicher zu Mute. Er fraute sich unruhig im Bart und fiel gerade bei dem ge­fährlichen Wendepunkt dem Eifrigen in die Rede.

Hören Sie doch nicht auf das dumme Zeug. Das ist ihre Winterphilosophie. Wenn erst das Eis fort ist und die Schiffe im Sunde wimmeln und wir hier oben lustigen Besuch kriegen, dann bläst der Wind wo anders her. Haha! Nicht wahr, Thyralille?" und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er gleich, auf die Schwester deutend, fort: Und was Lante Betra angeht, die hat auch noch ihre kleinen Freuden und Er­innerungen, sollt' ich meinen. Sie war eine hübsche, muntere