Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 114.

4]

Strandgut.

Sonntag, den 14. Juni.

( Nachdruck verboten.)

Von Ernst von Wolzogen  . Thorsten war in Versuchung, abermals dem unschuldigen Tische seine Meinung handgreiflich darzuthun; doch er besann sich eben noch rechtzeitig auf Thyras Verwarnung und be­gnügte sich damit, die Augen fürchterlich zu rollen und einen ganz erschrecklichen Fluch zwischen den geschlossenen Zähnen hervorzustoßen. Und dann knirschte er weiter:" So, Kaptein, und was wollen Sie damit sagen, bitte? Etwa, daß nun die Tochter es gerade so machen müsse mit ihrem Zufünftigen, wie Ihre Frau es mit Ihnen gemacht hat? Eben haben Sie doch ganz anders von Ihrer Thyra geredet! Wissen Sie, wie ich das finde, Kaptein, wenn ein Vater sein eigen Fleisch und Blut verleumdet?"

Ach was denn, Fleisch und Blut! Nein, meine Frau hat mir, Gott sei gedankt, kein Kind hinterlassen, das ihren Leichtsinn hätte erben können!"

Wie! Und Thyra?" forschte Ole hastig. " Da Sie einmal so viel wissen," flüsterte der Feuermeister dicht an Thorstens Ohre, so sollen Sie auch erfahren, was hier sonst kein Mensch weiter weiß: Thyra ist gar nicht meine Tochter, so wenig wie Tante Petra dort meine Schwester ist." Nicht Ihre Tochter? Wer ist sie denn?"

dol Strandgut, so gut wie Sie, Ole Thorsten," versetzte der Alte mit bebender Stimme. Und die kleine Frau dort ist ihre Mutter, ihre leibliche Mutter! Aber Thyra hat keine Ahnung davon; es würde ihr zu nahe gehen, sie täglich vor sich sehen zu müssen, wenn sie wüßte, daß es ihre eigne Mutter ist wahnsinnig geworden in der Schreckensnacht, als sie ihren Mann vor ihren Augen umkommen sah und ihr einziges Kind auf dem alten Klavier da durch die böse See schwimmen!" ,, Auf dem Klavier?"

" Ja, ja hören Sie nur, Thorsten-Herr Gott im Himmel, den Tag vergeß' ich nie, und wenn ich hundert Jahre alt werde!"

Da trat Thyra mit dem Frühstück herein, und sofort ver­stummte der Alte und rückte, wie bei einem Unrecht ertappt, berlegen bis mitten auf das Sofa. Dem Mädchen entging natürlich die Befangenheit und Unruhe der beiden Männer nicht. Sie beobachtete beide mit verstohlenem Lächeln, während sie anmutig die Wirtin machte. Doch es half ihr menig, daß sie ihrem Pflegling die appetitlichsten Butter­brötchen strich und eifrig zum Essen einlud, beide waren ur plöglich ihres ganzen schönen Appetits und, wie es schien, auch gar noch der Sprache verlustig gegangen. Mit funkelnden Augen trant Ole Thorsten ihr Staal" zu und leerte hastig sein Glas, und der Vater that auf Oles Gesundheit das Gleiche und machte eine Bemerkung über Herkunft und Alter feines Portweines. Sonst aber waren nur einzelne Silben aus den langweiligen Mannsleuten herauszulocken. Mit einem Hoffnungslosen Seufzer gab Thyra endlich den Versuch auf, Leben in diese Frühstücksgesellschaft zu bringen. Und halb im Ernst sagte sie: Hör', Vater, meinst Du nicht auch, wir thäten gut, Herrn Thorsten wieder ins Bett zu stecken? Wer nicht essen kann, gehört auch noch nicht an einen gedeckten Tisch. Und gezankt habt Ihr Euch auch schon wieder, leugnet nur nicht! Das ist aber hier oben auf dem Turm streng ver­boten; besonders im Winter, wenn es kein Davonlaufen giebt!"

,, Laß gut sein, Kind!" wehrte der Alte ab. Hier war von Zanken nicht die Rede; ich habe mur alte Erinnerungen aufgefrischt, und das... das hat uns beide ein bißchen trüb gestimmt. Komm, sing uns was Lustiges vor, dann kommt am Ende auch der Appetit wieder."

" 1

1903.

Thyra lachte mitleidig und sagte: Nun, dann kommen Sie, nervöser Walfischjäger. Ah, sehen Sie nur, wie Tante Petra Ihnen nachschaut! Sieh doch, Vater, sie ist ja ganz aufgeregt! Sie haben uns Tantchen bezaubert, Sie Isländer  Herenmeister! Was ist das nur? Gewöhnlich bemerkt sie es doch kaum, wenn ein Fremder im Zimmer ist."

Ole wandte den Kopf und gewahrte, wie die Kranke sich abmühte, um ihre Lage so zu verändern, daß sie ihn sehen könne. Dabei reckte sie den Hals so tief und weit vor, daß das in blöder Milde lächelnde Gefichtchen just unter den Seitenwangen des Großvaterstuhles hervorlugte. Ole floh beinahe vor ihrem sehnsüchtig suchenden, starren Blick und schritt, von Thyra unterstützt, so rasch seine Schwäche es ihm erlaubte, ins Nebenzimmer.

Dort war des jungen Mädchens enges, trauliches Puppen­heim, vollgepfropft von allerlei nützlichem und unnüzem, meist wertlosem, aber zierlichem Kleinkram von Körbchen, Büchschen, Väschen, Gläsern und Porzellanfiguren, Bilderrahmen, Poesie­büchern, Albums und dergleichen mehr, und fast zur Hälfte erfüllt durch einen bizarr gewundenen, knorrigen Baumstamm mit vielen eben solchen, und wie der Stamm dunkel gebeizten und lackierten Zweigen, auf denen zahlreiche Standpläge für Blumentöpfe angeordnet waren. Der Silberschrank, der kleine Schreibtisch und ein Nähtischchen bildeten die übrige Möbel­ausstattung. Hell, warm und sauber war es in dem drolligen Stübchen, wie es sich für ein stimmungsvolles Mädchenheim auch so gehört.

In einen leichten Korblehnstuhl ließ sich Ole Thorsten matt hineingleiten. Er hielt seine schöne Pflegerin noch an der Hand fest und flüsterte:" Laß mich Dir in Deine blauen Augen sehen, Thyra, daß ich das Grauen los werde. Die arme Frau, sie hat vielleicht einmal ebenso schöne, frohe Augen gehabt wie Du, und nun.!

" Ja, sie soll sehr schön gewesen sein, sagt Vater. Wenn sie schläft, kann sie manchmal auch heute noch ordentlich hübsch und rührend gut aussehen.

Er legte sanft einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. Ach, Thyra," flüsterte er ohne allen Uebergang mit bebender, leiser Stimme, wirst Du mich denn nie lieben fönnen?"

Sie machte sich mit einem neckischen Seufzer von ihm los: Herr Bruder Ole, Sie sind ein großes Kind. Sie werden ohne Gnade und Barmherzigkeit wieder ins Bett ge­steckt!" Und als der Vater in diesem Augenblick gleichfalls hereintrat, fügte fie laut hinzu: So, und nun will ich singen: nicht etwa, damit Ihr besser schwatzen und streiten könnt, Ihr Unholde, sondern nur, damit Tante Petra auf andre Ge­danken kommt." Damit lief sie hinaus, und gleich darauf ließ sie auch schon das gewünschte lustige Lied erschallen.

Der Feuermeister hatte sich einen Stuhl dicht neben Ole  gerückt, denn er dachte sich wohl, daß der nicht wenig be­gierig sein werde, sein Geheimnis baldmöglichst zu erfahren. Und so wartete er denn nur noch, bis der Gesang recht flott im Zuge war, und nahm dann, selbst ungeduldig und erregt, den Faden seiner Erzählung wieder auf.

"

-

,, Also, was ich sagen wollte. Es war schon so eine halbe Stiege Jahre vergangen seit der sauberen Geschichte mit meiner Frau; ich war ein Mann von achtunddreißig Jahren geworden inzwischen. Von den Weibern wollte ich im Ernste nichts mehr wissen und hatte für meine Zukunft keine andren Pläne und Erwartungen mehr, als daß ich fortan mit der See verheiratet wäre und darauf leben wollte, bis einmal die Reihe an mein Schiff käme und ich d'ran glauben müßte. Sechzehn Jahre sind es jetzt her wir famen wieder einmal von Rio Janeiro zurück da hatten wir im Kattegatt einen schweren Sturm zu bestehen. Meine schmucke Brigg hielt das Wetter aus, aber böse zugerichtet wurde sie doch: wir mußten den Großmast fappen und samt dreiviertel der Tafelage über Bord gehen sehen. Gegen Morgen flaute der Wind plötzlich ab und als die Sonne aufging, war's ganz still geworden, und wir sahen zu unserm Schrecken, daß wir bedenklich nah an die jütische Stüſte, so etwa zwei, drei Meilen südlich vom Limfjord­Eingang getrieben waren. Mein Stürmann steht mit dem Kickert neben mir und sichtet das Land, während ich mit der Karte in der Hand abloten lasse. Da fahr' ich plötzlich zu­sammen, denn der Stürmann hat ein ganz erschrockenes Hallo

Ach ja, bitte thun Sie das, Fräulein Thyra!" bat Ole, indem er sich erhob und auf sie zuging. Und dann sette er Teiser, feinen Mund ihrem Ohre nähernd, hinzu: Darf ich wohl dabei dort drin in Ihrem Zimmer fizen? Es ist nicht, daß mich die Töne aus der Nähe so angreifen, aber.es ist eine dumme Schwäche, ich schäme mich fast, es zu sagen Eingang getrieben waren. Tante Petras Blick ich weiß nicht, was es ist... aber mir steigt dabei alles Blut zu Kopfe, und ich kann die Hände nicht still halten, wenn sie mich so starr ansieht."