Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 223.

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Freitag, den 13. November. di natale quileres

( Nachdruck verboten.)

Das Verbrechen des Hrztes.

Roman von J. H. Nosny.

Autorisierte liebertragung von M. v. Berthof.

1.

1903

in der Art, wie er sich zur Geltung brachte, obwohl er weniger aus Gewissenhaftigkeit als aus unerbittlicher Logif Gleich­gültigkeit, ja selbst Abscheu gegen komplizierte Behandlungen an den Tag legte.

Seine Schulden wuchsen. Herbeline hatte die Gabe, bei Geldleuten Vertrauen zu erwecken, so daß er in einem jüngeren Lande, wie etwa in Deutschland oder in Amerifa, gewiß schnellen Erfolg gehabt hätte. Aber seit sechs Monaten war sein Kredit erschöpft. Von allen Seiten bedroht, war sich der junge Mann bewußt, daß die Katastrophe nahe bevorstand. Er geriet durch dieses ewige, unerträgliche Gejagt-, Verfolgt, Bedrohtsein, diese ewige, notgedrungene Wachsamkeit, in einen 3Zustand, der einem Manne der That ans Leben geht. Das Telephon und die Thürglocke waren für ihn eine Qual ge­worden.

Dr. Guy Herbeline war aufgebracht über den Nord­wind, der ihm ins Gesicht schnitt. An diesem stürmischen Februartage fühlte er empfindlicher den Zwang, die eiserne Disciplin, die die Gesellschaft und die Natur dem Menschen auferlegen. Eine düstere Unzufriedenheit Tag auf seinen Zügen. Er sah sich furchtbar vereinsamt innerhalb der großen menschlichen Wildnis, bar aller Zärtlichkeit, aller Sympathien, die das Leiden erträglicher machen. Und die" Ich werde zu Grunde gehen," sagte er sich, indem er flüchtigen Blicke, die er den Vorübergehenden zuwarf, drückten auf das Hotel Kontinental zuschritt. ,, Und wie soll ich in je nachdem faltes Mitleid, Verachtung oder Neid aus. Seit meinem Beruf mich jemals wieder erheben ohne Wohnung, längster Zeit rechnete er nur noch auf den Zufall, nie jedoch ohne Möbel... Weiß Gott , ich werde ein Verbrechen be­hatte er es so bitter als eben jest empfunden, wie sehr das gehen!" gesellschaftliche Band ein Band des Hasses und der Furcht ist. Das liegt doch auf der Hand," murmelte er wütend vor sich hin. Wir können einander nicht ausstehen! Mit Mut und Teilnahme vermöchte man all diese Elenden zu retten; aber wer unter ihnen würde nicht, wenn er sich selbst damit aus der Klemme helfen könnte, den Ruin, ja den Tod seines besten Freundes wünschen?"

Er hatte den Pont- Royal überschritten. Ein Wind, der mit tausend kleinen Messern zu schneiden schien, erhob sich vor der Seine. Der Himmel fenfte sich tief, düster und blei farben hernieder, und die Quais, der Louvre, das Palais Mazarin sowie die Sainte- Chapelle rückten wie Felsen über einer arktischen Fläche empor. Auf dem gefrorenen Pflaster verursachten die vorüberfahrenden Omnibusse und Wagen cin unausstehliches Gerassel. Guy Herbeline warf einen langen, verzweifelten Blick über diese vereiste Landschaft. Seine Erinnerungen flogen düster und rasch, gleich den Raben, die sich von den Turmspiten von Notre- Dame er­hoben. Und doch war er einst glücklich gewesen, gefesselt von der Wissenschaft, freudig bei der Arbeit mit einem Stopf, in dem es von Ideen summte, einem gefunden französischen Stopf, in den das Wissen tief und wohlgeordnet Eingang fand. Schon auf der Schule herrscht Ungerechtigkeit, wilder und füdischer Neid, aber wenigstens ist es nicht die Regel. Man wird von Vorgesetzten und Gleichgestellten beurteilt, während man später, in dem wirklichen Kampfe, so wie man sich nur einige Ver­dienste erworben hat, dem Urteil der Tieferstehenden anheim­fällt. Obgleich Guy nicht gerade ein Vorzugsschüler war, hatte er doch seine Prüfungen glänzend bestanden, und seine Ge­fährten hatten trotz ihrer Launen und Roheiten seine Tüchtig feit anerkannt. Man mochte ihn eigentlich gern. Er hatte nur einen verletzenden Fehler: den Ehrgeiz. Im übrigen war er ein guter Kamerad, verläßlich im Verkehr und durchaus keine böse Zunge. Als er sich selber behaupten sollte, stand er eigentlich ohne Hilfsmittel da, mit einer ganz bestimmten, das heißt allzu einfachen Vorstellung von seinem eignen Werte. Es stand bei ihm fest, daß seine Wissenschaft und die Sicherheit seiner Diagnose ihm schon in den ersten Jahren gegen dreißigtausend Frank jährlich einbringen mußten.

" Das ist mir eine Sache der Frechheit und der Energie," dachte er.

Es ging über sein eignes Denken hinaus. Es war ein wütender Aufschrei, wie ihn uns das Versagen jeglicher Ge­rechtigkeit entreißt. In diesem Augenblick erschien ihm die menschliche Gesellschaft nur zu sehr wie eine Herde wilder Tiere. Aber er selbst wollte nicht das geringste dieser Tiere sein, dasjenige, das durch seinen Sturz allen andren preis­gegeben ist. Er hatte einen Widerwillen gegen die einfachste Lumperei, wenngleich er sich selbst zuschwor, vor keiner guten Gelegenheit zurückzuschrecken, wenn sie ihn nur nicht mit den Gesezen in Konflikt brächte.

,, Es giebt nur keine Gelegenheiten!" groffte er bitter; alles Gute, das zu uns kommt, fommt zu spät-, alles, was uns hätte retten können, zeigt sich nur bruchstückweise, und selbst dann noch...! Aber ist das erstaunlich? In dieser alten, menschenüberfüllten Stadt lauern Millionen von Augen täglich auf Glücksfälle. Man reißt sich sie aus den Händen, in blutigen Feßen werden sie davongetragen. Warum follte gerade ich entdecken, was den Geschicktesten, den Scharf­blickendsten, den Stärksten entgeht? Der Glücksfall meines Lebens wäre gewesen, dreimal so viel Patienten zu haben, ein langfames, täglich schwankendes Glück, und da das nicht der Fall ist, zum mindeſten mit fünfundzwanzigtausend Frank in der Tasche anfangen zu können, wie so viele meiner beschränkten Kollegen!" Er knirschte mit den Zähnen und stöhnte vor Wut. Und doch ich war mehr wert, als ich in Anspruch nahm, und damit ist dieser Gesellschaft das Urteil gesprochen­ich schulde ihr gar nichts mehr! Noch mehr, wenn ich meine Stelle durch List oder Betrug behaupten könnte, würde ich ihr segar in gewissem Sinne einen Dienst leisten. Nach Maßgabe meiner Kräfte würde ich ihr die Logit aufzwingen. Doch fort mit den Gedanken, das entkräftet nur."

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Er war am Elysée vorübergegangen und schritt die Rue de Meromesnil hinauf. Als er vor seinem Hauſe anlangte, durchlebte er einige Sekunden unerträglicher Angſt. Ein Verurteilter fann faum mit größerem Widerstreben das Ge­fängnis betreten. Seit drei Monaten hatte er das dritte Stockwerk da oben nie ohne das beklemmende Gefühl des Er­schauerns betreten. Welcher Brief, welches Telegramm, welches erschreckende Ultimatum mochte in seiner Abwesenheit eingetroffen fein? Wie sonderbar sind doch diese regungslos daliegenden Blättchen, die für den Unglücklichen der Civili­ſation das bedeuten, was das Brüllen des Löwen , das Heulen der Wölfe oder das unheimlich funkelnde Auge des Panthers für ein armes Tier des Waldes ist!

" Hinauf mit dir, du Feigling!"

Guy stieg die Treppe hinauf, schon etwas erleid tert, weil er beim Hausbesorger feine Briefe vorgefunden hatte. doch da oben harrien unerbittlich die blauen und weißen Blätter. Mißtrauisch nahm er sie in die Hand und mischte sie wie ein Kartenspiel durcheinander.

Und darin täuschte er sich nicht. Aber er täuschte sich über das Maß seiner eignen Fähigkeiten. Er hätte zuerst auf dem Anstand stehen sollen: feine lebhafte Intelligenz bedurfte einiger Reibungen. Vielleicht wäre er trotzdem nicht ans Ziel gelangt, denn es ist falsch, daß die Geschickten unfehlbar den Sieg davontragen, aber er hätte doch seine Chancen vermehrt. Durch einen günstigen Zufall in Versuchung geführt, wagte er den Sprung. Eine Persönlichkeit, eine, die tüchtige Kräfte gern lanciert, hatte sich gefunden und ihm den nötigen Kredit eingeräumt, damit er sich im Quartier du Roule in einer gut fituierten, schön ausgestatteten und möblierten Wohnung niederlassen konnte. Herbeline kämpfte feit vier Jahren, aber der Erfolg wollte sich nicht einstellen. Kaum daß seine Klientel Er öffnete zunächst das Telegramm. Man forderte ihn ihm gestattet hätte, in einer Vorstadt bescheiden zu leben. Urd auf, sich zwischen 8 und 10 Uhr Rue de Penthièvre ein doch erwies er sich hervorragend in seinem Beruf und selbst zufinden. Das war bei einem alten grillenhaften una

"

Ach, ich bin ganz sicher, daß es ein Spiel ohne Trumpf ist," sagte er höhnisch vor sich hin.