Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 231.
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Donnerstag, den 26. November.
( Nachdruck verboten.)
Das Verbrechen des Arztes.
Roman von J. H. Rosny. Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. >>> Dieser Gedanke erschütterte Guy vom Wirbel bis zur Zehe, er zuckte ihm wie ein Bliz durch den Körper. Und gleich wieder folgte ein andrer Gedanke, daß er sie vielleicht nie wieder sehen werde, daß er fein einzigesmal ihre Lippen gefüßt haben würde. Da überkam ihn ein wahnwiziges Verlangen, sie zu umarmen, dieses schöne Geschöpf in seinen Armen zu halten, in langen Zügen die frischen roten Lippen zu küssen. Doch das war unmöglich! Er war feinen Augenblick darüber in Zweifel, wie sie so etwas aufnehmen würde er sah im voraus ihren verstörten Blick, ihre Entrüstung, ja ihren Widerwillen gegen jede brutale Bewegung.
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Guy ergriff die Hand Madeleines , berührte sie lang und zart mit seinen Lippen und begnügte sich, zu flüstern:
Wie tapfer und gut Sie sind! Ein solcher Augenblick genügt, um Jahre des Unglücks vergessen zu machen."
Auf der Straße überfam ihn eine Art von Schwindel. Das Pflaster schien vor seinen Sohlen zu fliehen, wie beweglicher Sand. Es brauste ihm in den Ohren, die Vorstellungen in seinem Gehirn wirbelten durcheinander wie im Traum und ab und zu wiederholte er die Worte:" Sie ist mein! Sie ist mein!..." mit der Trunkenheit eines Feldherrn, der einen Sieg errungen hat.
Durch seine Armut, seinen Ehrgeiz und leidenschaftliche Art, mit der er arbeitete, war er bisher von der Liebe fern gehalten gewesen. Jetzt offenbarte sich ihm plötzlich eine neue herrliche Seite des Lebens von berückendem Glanz. Aber die Totenglocke läutete, sein Herz erstarrte, er bemerkte, daß er den Weg nach der Nue de Penthièvre genommen hatte. Also hatte ihn ein dunkler Instinkt, trop des Rausches, der ihn erfüllte, nach der Richtung gelenkt, wo sein Schicksal sich entschieden hatte. Das traf ihn wie eine böse Vorbedeutung. „ Ich kann mich nicht mehr auf mich selbst verlassen," sagte er sich.„ Wenn ich selbst mich zu verteidigen hätte, ich wäre mein ärgster Feind!"
Es wurde ihm schwer, sich selbst zu überzeugen, daß er heimkehren müsse. Der Instinkt war hartnäckig, das unbestimmte, unfaßbare, dumme Bedürfnis, mehr zu erfahren, beherrschte ihn, doch widerstand er mühsam und ging nach der Rue de Miromesnil.
Ist niemand da gewesen?" fragte er das Mädchen. „ Nein, Herr Doktor, nur einige Briefe sind gekommen." „ Es ist gut!"
Beruhigt trat er in sein Zimmer. Aber eine gerichtliche Zustellung im Couvert zog seine Blicke an; er öffnete es voll Entjeßen.
Es war nur eine ganz einfache Vorladung vor den Untersuchungsrichter, unpersönlich wie das Gefeß selbst. In den Augen des Arztes nahm sie eine bedrohliche Gestalt ein.
Ich bin verloren," jagte er sich.
Und seine erste Regung war, nach dem Revolver zu greifen, eine Regung, die ihn mit Berachtung gegen sich selbst erfüllte. Aber die Erschütterung war so groß gewesen, daß er sich nicht auf den Füßen zu halten vermochte. Er warf sich in einen Fauteuil und blieb einige Minuten förperlich und geistig regungslos, als ob er einen schweren Schlag er halten hätte.
Als er wieder zu sich fan, fühlte er sich verhältnismäßig ruhig, und er machte sich daran, die Lage zu prüfen. Die Vorladung erhielt nichts Bedenkliches, denn, wenn man be absichtigt hätte, ihn zu verfolgen, dann hätte man ihn doch nicht durch eine Mitteilung darauf aufmerksam gemacht.
" Das wäre ja geradezu ein Wink, die Flucht zu er greifen!"
Schon dieser Gedanke beruhigte ihn wieder. Aber gleich darauf fiel ihm ein, daß man ihm vielleicht nur eine Falle gelegt hatte, so daß er, wenn auch scheinbar frei, doch schon in den Händen der Justiz war.
Was nun thun?
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Abwarten? Der Vorladung Folge Icisten? Gut. Aber wenn man mich festnimmt? Dana wird man mich einer
1903
körperlichen Untersuchung unterziehen, wird mir meine Wasse wegnehmen, dann liegt mein Schicksal nicht mehr in meinen Händen. Die Zuflucht zum Revolver wird illusorisch, ich muß also etwas andres herausfinden.".
Diese Komplikation regte ihn auf und demütigte ihn. Sie bewies ihm nur zu deutlich, daß die Umstände stärker sind als unsre festesten Entschlüsse. Natürlich würde er schon Mittel und Wege finden, sich aus dem Leben zu schaffen, aber wie? Sollte er sich den Kopf an der Mauer einrennen, oder sich im Gefängnis erhängen? Das waren Möglichkeiten, die ihm widerstanden. Die Wahrscheinlichkeit, damit sein Ziel nicht zu erreichen, ist zu groß. Folglich, wenn er sich heute nacht nicht das Leben nahm, dann wußte er nicht, wann er noch weiterhin Herr darüber sein würde. Die Möglichkeit, daß er durch alle Wege eines Prozesses, durch die Schande der Verurteilung werde hindurchgehen müssen, rückte näher. Sich aber heute nacht das Leben nehmen, das war der höchste Grad des Blödsinns. Es lag ja gar kein Beweis vor, daß man ihn aus andren Gründen, als nur als Zeugen vorlud So viel ist klar," murmelte er vor sich hin,„ ich kann diesen wahnwißigen Unsinn nicht ausführen. Ich muß warten! warten!!..." fügte er mit bitterem Lächeln hinzu;„ wer weiß, ob ich nicht im beständigen Zuwarten meine ganze Energie verliere. Wer weiß, ob ich mich nicht so weit erniedrige, daß ich mich sogar in Sträflingskleider stecken lasse. Man muß ein sehr naives Gemüt haben, unt an die Dauer eines Seelenzustandes zu glauben! Hatte ich etwa gestern früh eine Ahnung, daß ich zum Dieb werden würde? Und doch, ich darf mich jetzt nicht töten! Es ist meine Pflicht, zu warten
"
"
Er sah Madeleine vor seinem geistigen Auge erstehen, so frisch und strahlend, daß er aufschrie. Und dann sagte er fich ferner: Während ich vernommen werde, wenn dies überhaupt geschieht, muß ich mich erschießen. Ja, aber man wird mir gleich in die Hand fallen, wenn ich mich verfchle, das wird gräßlich sein. Aber es giebt ein sicheres Mittel mich zu retten, ich verbrenne meine Banknoten. Dann wird nie im Leben jemand etwas erfahren."
Die Banknoten verbrennen! Er warf einen langen, verzweifelten Blick auf den Geldschrank, dann öffnete er die eiserne Thür und holte die Bündel heraus.
Das Feuer glomm noch, es galt nur eine Bewegung, und jeder Beweis war verschwunden.
Seine zusammengeframpften Hände umschlossen das flüchtige Vermögen. Eine unsagbare Angst preßte ihm die Kehle zusammen, er glaubte zu ersticken. Dann also hätte er umsonst gestohlen! In einigen Augenblicken würde er wieder ganz arm sein, in einigen Augenblicken würde er Madeleine entsagen müssen, denn trotz der gewechselten Liebeserklärungen war er überzeugt, daß sie ihn ohne Einwilligung ihrer Mutter nicht heiraten würde, und diese würde einen ruinierten Schwiegersohn zweifellos abweisen. Ja, er würde verloren sein, und gestohlen hat er jo doch! Noch mehr! Das Verbrechen war nicht wieder gutzumachen! Marguerite Dufrêne blieb für immer beraubt! Das war der Untergang, das Unglück für jeden einzelnen!
„ Das wäre doch wirklich zu dumm!"
Und er warf die Bündel wieder in den Geldschrank zurück. Wieder verfolgte ihn eine neue Versuchung! Sollte er wirffich fein sicheres Versteck finden können?
Alle Vorsätze des voraufgegangenen Abends verfolgten ihn. In neuer Gestalt zeigten sich ihm die Kombinationen des Vorabends. Wie am Abend, fand er auch jetzt alles undurchführbar. Wenn er noch Werkzeuge gehabt hätte, dann hätte er vielleicht etwas versuchen können! Einmal nur ver suchte er, die Marmorplatte des Kamins aufzuheben. Gleich darauf lachte er über seine Naivetät. Das Feuer! Es blieb nur noch das Feuer!
Und wieder begann die ganze Reihenfolge der Ideen in seinem fiebernden Hirn zu freisen, bis er es unwiderruflich aufgab, vor dem nächsten Morgen irgend etwas zu unternehmen.
Einem Schlafmittel dankte Guy einen leidlichen Schlaf. Sein Erwachen war weniger erschreckend als am ersten Tage.