Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 235.
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Mittwoch, den 2. Dezember.
( Nachdrud verboten.)
Das Verbrechen des Arztes.
Roman von J. H. Rosny.
Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Ein Gedanke fuhr Guy durch den Kopf, der ihn lächeln machte:
„ Warum auch nicht? Wenn er sich weigert, so ändert das nichts an der Sachlage; wenn er einwilligt, so könnte ich die Ereignisse abwarten."
Er zog seine Uhr.
" Fünf Minuten nach Zwölf. Aber vorerst das Frühstück. Man muß von feiner seiner Gewohnheiten abgehen, das erwedt die Aufmerksamkeit."
Er ging nach Hause, aß geschwind zwei Eier und eine Kotelette, während er seine Briefe durchfah, dann machte er sich auf den Weg zu dem Manne, der die Menschen„ lancierte". Victor Renouvier war so flein und zart in seiner Erscheinung, daß man ihn, von rüdwärts gesehen, leicht für einen Knaben hätte halten können. Sein Wuchs war, selbst in Anbetracht seiner kleinen Gestalt, so fein, und er trotz seiner 55 Jahre so ausdauernd und so beweglich, daß er ohne alle Schwierigkeit täglich seine 100 bis 125 Kilometer per Rad zurücklegen konnte, und zwar mit einer Schnelligkeit von mindestens 18 Kilometer die Stunde. Dieser ältliche Manu Hatte eine Pferdephysiognomie, häßlich, nervös, mit ungewöhnlich großen blauen Augen und einem glänzenden blonden Vollbart, in dent noch kein weißes Haar zu sehen war, so wenig wie in seinem blonden, sehr gut gehaltenen Kopfhaar. Er war ein habjüchtiger Mensch von sehr beweg lichem Geist, der sich über das Leben außerordentlich luftig machte. Vou jeher reich, hatte er durch glückliche und oft ganz originelle Spekulationen sein Vermögen noch vermehrt. Seine besondere Vorliebe, die er übrigens mit großer Unterscheidung durchführte, war, Menschen zu„ lancieren". Er zog daraus keine besonderen Vorteile, aber manchmal gelang ihm ein schöner Wurf. Es war, wie er selbst sagte, ein Glücksfall, ein Hazardspiel mit dem Reiz des Unvorher gesehenen, voll außerordentlicher Kombinationen und seiner eigentlichen Natur nach voll Leben. Renouvier hatte stets auf dem Pariser Platz gegen zwanzig Menschen, deren Schicksal er so leidenschaftlich verfolgte, wie ein Liebhaber von Stiergefechten den Kampf in der Arena. Der Wunsch nach Gewinn spielte dabei wohl eine Rolle man muß sich ja für die Partie interessieren, aber er fand größeres Vergnügen daran. einem Menschen, an dem er wenig profitierte, zuzusehen, wie er sich auf originelle Weise aus der Verlegenheit zog, als mehr an einem andren zu gewinnen, der ganz alltäglich seinen Weg ging. Wenn er an seinen Protektionskindern verzweifelte, dann ließ er sie ohne Gewissensbisse fallen.
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Es gab keinen zuverlässigeren Menschen, Seine Hab-, gier schwieg unbedingt gegenüber einent gegebenen Wort. In diesem Fall gab es für das alte Scheufal teine Ausrede, wie hoch auch die versprochene Summe sein mochte. Er war aber nicht weniger strikt in der Durchführung seiner Drohungen. Er führte sie oft mit drakonischer Strenge durch, selbst wenn es gegen seinen eignen Vorteil ging.
Guy traf den Spekulanten im Begriff, ein Glas„ Chate " zu trinken, ein Getränk, das er so hoch über den Thee stellte, wie etwa das Morphium über das Opium. Er richtete auf den Eintretenden seine munteren grausamen Augen.
„ Sie kommen, um Gnade zu bitten," sagte er, ich gewähre aber feine Gnade!"
Herbeline hatte ihn tief enttäuscht. Er hatte sofort das vollste Vertrauen zu diesem stiernackigen jungen Mann mit den gefunden Kauwwerkzeugen und den vollen Schläfen gefaßt, den er von allen, die ihn kannten, geschäßt, ja gefürchtet wußte. Er hatte fast ohne Zögern auf ihn gesett, er hatte ihn sofort unter die besten Renner eingestellt. Zu seiner größten Ueberraschung war Guy gescheitert, langsam, elend gescheitert, ohne auch nur einen einzigen Aufschwung zu nehmen, der das Resultat noch zweifelhaft machen könnte. I
1903
Er hatte sich jedoch in die Sache verbissen, er hatte auf ein verspätetes, dafür aber um so glänzenderes Aufblühen gerechnet. Nichts davon war eingetroffen. Seit sechs Monaten hatte Renouvier den Arzt kategorisiert. Er hatte ihm noch eine letzte Frist gewährt, dann, als er vollständig das Kreuz über ihn machte, rechnete er nicht mehr damit, von seinem Entschluß zurückzukommen.
Ich gewähre feine Gnade," wiederholte er mit eisiger Jovialität.„ Die, die ich verurteile, haben selbst ihr Verdift gesprochen; es giebt keine Berufung!"
Herbeline wußte sehr wohl, daß man erst gar nicht den Versuch zu machen brauchte, diesen Mann zu rühren oder selbst nur ihm durch Schmeicheln und Demütigungen beizukommen. Nur Widerstand wirkte auf ihn und auch diesen schätzte er nur, wenn er falt und entschlossen war.
,, Das wollen wir erst sehen," sagte Guy, aber vorerst muß ich gegen Ihre Voraussetzung protestieren. Ich komme nicht, um Gnade zu bitten." ,, Kommen Sie vielleicht, um mir mitzuteilen, daß Sie mich bezahlen werden? Da hätten Sie mich ebensogut durch die Thatsache belehren können."
ich
,, Nein, ich komme schon, mir eine Frist zu erbitten, aber werde meine Bitte auch rechtfertigen."
"
" Ich verweigere Sie Ihnen. Alle Ihre Rechtfertigungen haben zu gar nichts geführt. Ich bin bis zur Grenze der Möglichkeit gegangen, jetzt ist es zu spät. Ich habe gar kein Vertrauen mehr in Ihre Leistungsfähigkeit."
Dieses Recht steht Ihnen zu, obgleich mein Mißerfolg wirklich nicht meiner Unfähigkeit zuzuschreiben ist."
„ Das sagen alle! Die Umstände! Das kennt man schon. Nach ihrer Fertigkeit, den Zufall und die Umstände zu beherrschen, danach beurteile ich die Menschen."
„ Auch das ist Ihr gutes Recht. Wir können nur durchschnittlich urteilen, und es kommt wenig darauf an, ob bei diefem Durchschnitt einige Irrtümer mit unterlaufen. Es genügt, wenn Sie sich dem ganzen Bilde unsrer Anschauungen einfügen. Dennoch erlaube ich mir, noch einmal zu protestieren, aus Achtung vor mir selber, vor meinen Anstrengungen, meiner Geduld und meinem Mut. Sie und ich, wir haben uns beide in der Lage meiner Wohnung, die wir wählten, getäuscht. Nicht, daß es ausgeschlossen wäre, an der Stelle, an der ich etabliert bin, zu etwas zu kommen, aber man müßte noch zwei bis drei Jahre zuwarten. Ich war zu jung, zu unerfahren, Sie hätten die Ereignisse voraussehen sollen.". " Ich werfe Ihnen nicht vor, noch nicht reussiert zu haben. das wäre Wahnsinn. Nein, was ich Ihnen vorwerfe, ist, daß Sie Ihre Lage noch nicht verbessert haben, die Stagnation Ihres Zustandes, Ihre geringe Routine."
Sie haben eben nicht gut beobachtet, das ist alles. Bei der Klientel, die ich mir gewinnen will, kann ich nicht wie ein roher Marktschreier oder mit erentrischen Geschichten kommen. Selbst meine Reklame muß eine allmähliche und großzügige sein."
In seinem Stolz verlegt, redete sich Guy in eine gewisse Aufregung hinein; doch selbst während ihm das Blut zu Stopfe fticg, behielt er etwas Mächtiges und Sicheres. Sie haben mich verführt," sagte der andre, mit einem Schatten von Bedan.ern, und ich fühle, daß ich wieder schwach werden könnte, wenn ich Sie nicht genügend kennen gelernt hätte. Also reden wir nicht weiter darüber. Sie kommen, eine Frist anzusuchen, während ich Ihnen mein Ultimatum brieflich zukommen ließ! Ich nehme nie ein Wort zurück, noch weniger, was ich brieflich ausgesprochen habe!"
biete?"
Was, auch dann nicht, wenn ich Ihnen Garantien
„ Mein lieber Herr," entgegnete Renouvier raub,„ die Frage aufwerfen, heißt sie entscheiden. Bürgschaften, wirkliche Garantien, sind ja eine Art von Zahlung. Ich brauche das Geld durchaus nicht, das wissen Sic. Wenn Sie mir also Bürgschaften bieten fönnten, wäre es für mich ganz annehmbar, Ihnen eine Prolongation zu gewähren."
" Nun," sagte Herbeline mit voller Ruhe, ich bin sicher, Ihnen genügend Garantien bieten zu können, um einen Aufschub von mehreren Monaten zu erlangen."
Er schwieg etwas verlegen. Trotz allem widerstand es