Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 239.
17]
Dienstag, den 8. Dezember.
( Nachdrud verboten.)
Das Verbrechen des Arztes.
Roman von J. H. Rosny.
Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Nun kannte er sie. Jetzt wußte er ganz genau, wie das Kind war, das er beraubt hatte. Und bitter bereute er seine That. Eben noch war sein Verbrechen ein Phantasiegebilde gewesen, ein Roman, dessen Konsequenzen ins Unbestimmte verschwammen. Jetzt hatten sie greifbare Gestalt angenommen. Das Bild des fleinen, von Motten zerfressenen Salons, des schönen, feinfühligen Kindes erschien ihm fast in greifbarer Klarheit, während der Zug mit ihm in die tiefe Dämmerung hineinfuhr.
1903
einmal unverhoffte Aufträge bekommen haben. Auch der Handel ist ein Roman
"
Er schrieb das Billet ab, fuhr aber in seinem Nachdenken fort. Wenn Jacques Dufrêne irgendwie über die Verwandtschaft seiner Frau mit Plessis unterrichtet war und wenn er erfuhr, daß er, Guy Herbeline, der Arzt des letzteren gewesen war, dann konnte ihn das Zusammenhalten dieser beiden Thatsachen zu sehr gefährlichen Schlüssen führen.
"
Das ist auch eine Art, mich bloßzustellen," überlegte er. Wenn sich irgend ein Beweis für das von Plessis hinterlassene Vermögen vorfindet, dann kann dieser Brief die Ursache meines Berderbens werden. Aber wo soll sich irgend ein Beweis vorfinden? Das Gericht hat eine Verlautbarung ergehen lassen, fein Notar hat irgend eine Schrift vorgewiesen. Es müßte also in privater Hand etwas deponiert sein, bei einem seiner Freunde, aber Plessis hatte ja teinen einzigen Freund, befuchte keinen Menschen. Ich kann es also wagen! Thue ich es nicht, dann verfolgt mich das Bild ihres Elends und martert mich. Ich wage es also." 5.
Nein, ich will nicht, daß diese Menschen Not leiden! Dis Ende dieser Woche muß ich einen Ausweg gefunden haben. Ach! Warum bin ich gefahren? Ich war glücklich oder beinahe glücklich. Wenigstens hätte ich doch meine Verheiratung abLassen Sie Herrn Dufrêne eintreten," sagte Herbeline warten sollen, um einige Monate der Ruhe zu genießen. Jetzt zu seinem Diener, als er den letzten Patienten der Ordinationswerde ich von dieser firen Idee verfolgt werden. Ach, du lieber stunde am Mittwoch verabschiedete. Gott ! Ich brauchte Ihnen ja nur einige Banknoten zu schicken. Aber wenn sie erraten, woher es ihnen zukommt? Mein Besuch ist ein Fingerzeig, wenn man mich suchte, mich entdeckte, ein Bufall und alle Qualen, die ich vergangenen Monat durch gemacht, würden wieder von vorn anfangen! Es war ja der reine Blödsinn, aber sind die blödsinnigen Befürchtungen weniger unerträglich als die andren?"
Er betrachtete die Karte, die Marguerite Dufrêne ihm eingehändigt hatte, und las: Jacques Dufrêne, Versicherungsagent und Kommissionär für Weine. Bordeaux - und Burgunderweine aller Jahrgänge und in allen Preislagen. Liefert nur unverfälschte Weine der ausgezeichnetsten Qualität zu den angemessensten Bedingungen. 30 Rue de la Chauffeterie in Mantes ( Seine- et- Oise ).
Der Weinkommissionär also ist es, an den ich mich wenden muß," sagte sich Herbeline. Aber sich an jemand wegen WeinLieferungen nach Mantes wenden, während man in Paris lebt, und noch dazu an einen Kommissionär, den man nicht fennt!...
"
Der Zug war angekommen. Guy dinierte hastig im Hotel Terminus. Zu Hause angelangt, fand er ein Telegramm, das ihn zu einem Besuch berief. Die Sache war in einer halben Stunde erledigt. Dann überließ er sich wieder seinem Nachdenken, völlig unfähig, sich mit einem andren Gegenstand zu beschäftigen als mit Marguerite.
Nach und nach erschien ihm die Idee, sich an den Kommissionär zu wenden, um bei ihm eine Bestellung zu machen, schon weniger absonderlich. Selbst Jacques Dufrêne gegenüber glaubte er plausible Gründe anführen zu können. In feinem Kopf krystallisierte sich allmählich ein Brief, den er schließlich folgendermaßen niederschrieb:
„ Mein Herr!
Die Dame, von der ich mit Ihrer Tochter gesprochen habe und die ich als Mieterin der Wohnung im ersten Stock Ihres Hauses in Aussicht gestellt, hat nicht die Absicht, Mantes als Wohnungsort zu wählen. Sie wünscht sich noch viel weiter von Paris niederzulassen. Ich benütze diese Gelegenheit, um Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ihre Karte sagt mir, daß Sie die Lieferung aller Weinsorten übernehmen. Meine bisherigen Lieferanten haben mir Grund zur Unzufriedenheit gegeben und da ich in nächster Zeit ziemlich bedeutende Anschaffungen in Wein zu machen haben werde, wäre ich geneigt, mit Ihnen einen Versuch zu machen. Wenn Sie glauben, mir Bordeaux und Burgunderweine von hervorragender Qualität and in mittlerer Preislage beschaffen zu können, dann wollen Sie die Güte haben, Mittwoch oder Freitag gegen 3 Uhr bei mir vorzusprechen, mich aber vorher von Ihrem Besuch zu verständigen."
Wenigstens zehnmal überlas er dieses nichtssagende Billet und sagte sich schließlich:
Warum eigentlich auch nicht? Er muß schon mehr als
Ein Mann in einem ziemlich schäbigen braunen Ueberrod und einem dunkelblauen Gehrock darunter erschien. Guy betrachtete ihn angelegentlich. Er war eine eckige Erscheinung, mit einem kleinen weißen Gesicht, einem wegen der zu kurzen Oberlippe leicht geöffneten Munde, der von einem ganz feinen Schnurrbärtchen beschattet war, einem sehr zarten, energischen Kinn, sehr dürftigen Wangen, einer weichen, gewölbten Stirn Saaren. Seine schiefergrauen Augen hatten einen ganz be und einem schöngebildeten Kopf mit reichen, furzgeschorenen fonderen Reiz; mild, flug und hingebungsvoll waren sie die Augen eines weichen, nicht allzu klugen Menschen, verständig und leichtgläubig, beobachtend und naiv zugleich.
lich sehr schwach. Ich stelle mir vor, daß er dem Kampf des .Recht sympathisch," dachte Herbeline, aber wahrschein Lebens nicht sonderlich gewachsen ist."
Ein leise verächtlicher Zug zeigte sich im Antlitz des Doktors. Verzeihen Sie, daß ich Sie habe warten lassen. Die Patienten...
Der Eingetretene verbeugte sich linkisch und mit einem sehr sanften Lächeln.
" Ich habe Sie ein wenig weit herkommen lassen," sprach Herbeline weiter, und Sie haben möglicherweise dadurch Ihren Nachmittag verloren."
" Ich verliere so viele Nachmittage," sagte Dufrêne resigniert.
„ Gleichviel! Ich möchte nicht einer derjenigen sein, der Sie um Ihre Zeit bringt!" entgegnete der Doktor troden. Wie auch fernerhin die Geschäfte sein werden, zu denen wir gelangen, ich bitte mich dahin zu verstehen, daß ich Sie nicht umsonst bemüht haben will. Aber, sagen Sie, glauben Sie mir wirklich gute Weine liefern zu können?"
Ich glaube, sachverständig zu sein," sprach Dufrêne mit einem Schimmer von Gitelfeit, und thue mein möglichstes, um anständig zu sein, was mir übrigens bis jetzt nicht viel geholfen hat!..
"
Ach nein," dachte der junge Mann mit einer heimlichen Regung von Mitgefühl, ich glaube selbst, daß ihm das nicht viel helfen könnte!"
Nun?" fragte Guy kühl. In seinem Innersten war er etwas unruhig.
Sch stehe ganz zu Ihren Diensten, mein Herr," entgegnete der andre.
Der Ton seiner Stimme flang fast flehend, die Stimme eines schwachen, verzweifelnden Menschen, der ermutigt au werden wünscht.
" Ich sehe, daß Sie kein rechtes Vertrauen haben," sagte Guy, Sie haben ja nicht unrecht, man muß immer ein wenig Mißtrauen hegen!"
Dufrêne.
" Ich mißtraue nur meinem Glück," entgegnete lebhaft Herbeline warf ihm einen ironischen Blick zu, so bezeichnend schien ihm dieser Ausruf für das Schicksal diese Menschen.