Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 246.

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Donnerstag, den 17. Dezember.

( Nachdruck verboten.)

Das Verbrechen des Arztes.

Roman von J. H. Rosny.

Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Guy durchschritt den Korridor. Da sah er Marguerite, die in dem alten Obstgarten lustwandelte. Eine Flut von Jugendlust weitete ihm die Brust. Der Hymnus der Liebe, die heilige Quelle aller Poesie, tönten in ihm. Das Leben begann aufs neue. Die Welt war eben erst erschaffen. Die Illusionen, die funkelnden Spiegelbilder, die immer wieder die Seelen umgestalten, bewohnten sie wieder, und dieses herr fiche Mädchen schien die mystische Blume der Schöpfung, die rätselhafte Lotosblume der alten Legenden.

Er näherte sich ihr in tiefer Befangenheit, während sie, ein wenig überrascht und beunruhigt, ihn mit einem un endlich reizenden Blinzeln der Augen herankommen sah.

Lassen Sie sich ja nicht stören!" rief er mit geheudjefter Harmlosigkeit.

Da lachte sie beruhigt. Die Schönheit dieses Lachens durchdrang Guy, wie jene plöglichen, herrlichen Düfte, die bei dem leichten Wehen   des Morgenwindes die Welt durch­strömen.

Wenn Herr Dufrêne heute abend noch herüberkommen fönnte, so wäre es mir lieb. Wenn er aber zu müde ist, dann soll er ja nicht vor morgen früh kommen. Ich hoffte ihm zu begegnen."

Er hat sich etwas verspätet," antwortete sie. Vielleicht wird er in wenigen Minuten hier sein."

Ich kann ja einige Minuten warten." Mit schüchterner Stimme fragte sie:

"

Ich hoffe, Madame Herbeline ist wieder ganz wobl?" Sie schlief, als ich fortging... Es ist gar kein Grund zu Besorgnis vorhanden."

Ach! um so besser!" rief sie voller Freude.

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all die Ausatmungen, die da durcheinanderfommmen. Es ist ja auch im Grunde recht widerwärtig, besonders im Winter, wenn alle Fenster geschlossen sind. Und dann schon alle diese Lebewesen, die da aneinander gedrängt sind ich stelle mir dabei immer Ameisen vor, die unter einem Stein herum­frabbeln."

Sie sind also keine Freundin der Menge?"

,, Sie macht mir Angst. So wie ich eine große Menschen­menge sehe, überkommt mich die Furcht, daß sie verrückt oder wütend werden könnte, oder beides zusammen..."

Alles in allem genommen wäre es also Ihr Jdeal, mur mit wenigen Menschen in Gemeinschaft zu leben?" Mein deal!" wiederholte Marguerite mit einem leichten Seufzer. Ich brauche mir ja immer nur vorzustellen, daß ich immer jo leben werde, wie ich hier lebe. Ich sehe mur Menschen, die ich lieb habe, ich atme nur die Luft, die über Bäume und Sträuter dahingestrichen ist. Mir fehlt eigentlich nichts, außer daß ich mich nützlich erweisen möchte. Das ist mein einziges Bedanern, faft ist es wie eine Angst, als wenn ich jemand be­stehlen würde

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Durch ihre filberbelle Stimme klang ein feijer Hauch von Melancholie, die das Herz Herbelines bis zur Grattation be­wegte. Er rief voll Feuer:

Aber Sie sind ja erst sechzehn Jahre alt! Leben Sie doch! Wachsen Sie und entwideln Sie sich wie diese Blumen und Blätter! Ist Ihr Vater nicht thätig? Können Sie nicht das Glück genießen, bis zu Ihrem zwanzigsten Jahre von der Arbeit Ihres Vaters zu leben?"

Und wenn er frank werden sollte?"

Er wird nicht frank werden. Er hat eine sehr gesunde Konstitution. Und wenn er frank werden sollte, glauben Sie, daß ich ihn verlassen würde?"

Sie haben schon so viel für uns gethan!" sagte sie und. richtete einen zärtlichen Blid auf ihn, daß er vor Liebe vergehen zu müssen meinte.

Ich habe gar nichts gethan," erwiderte er fast mit Ent­rüstung. Ihr Vater war für mich eine unvergleichliche Hilfs­fraft. Stein andrer hätte mir solche Dienste leisten fönnen; Ruhe gegeben, die mir erlaubte, mich einzig mit meiner Garriere zu beschäftigen, ohne jene hinzukommenden Sorgen zu haben, die am Leben nagen, die Gesundheit vernichten und oft die Verwirklichung dessen verhindern, was man am heißesten wünscht! Das, mein Seind, find Dienste, die mit gar nichts entlohnt werden können, Lebensdienste, wenn ich mich so aus­drücken darf. Ich halte mich nicht nur für den Schuldner Ihres Vaters, sondern auch für den Ihrigen, und ich würde mich sehr verletzt fühlen, wenn es mir nicht erlaubt wäre, zu glauben, daß ich bis zu einem gewissen Maße auch für Ihre Zukunft würde sorgen dürfen."

Sie schwiegen. Guy fühlte sich so befangen wie ein Kind. Die besondere Befangenheit, die er sonst immer in Mar- niemand hätte mir solches Vertrauen eingeflößt, hätte mir die guerites Gegenwart empfunden und die dem Bewußtsein seines Verbrechens entsprang, hatte ihn nie eingeschüchtert. Er wechselte mit dem jungen Mädchen, wenn er es allein oder in Gesellschaft traf, gewöhnlich einige gleichgültige Redensarten, die er nach seinem Gutdünken unterbrach. Noch vor einigen Tagen hätte er sich damit zufrieden gegeben, fchweigend zu warten oder einige gleichgültige Fragen zu stellen. Aber heute war es ihm peinlich, daß er nichts zu sagen fand, und be­sonders erschien es ihm furchtbar schwer, natürlich zu bleiben. Furcht, Sorge, Scham über sich selbst, er hatte all das bis zum äußersten empfunden, aber Schüchternheit nie und diesem lähmenden Gefühl zu begegnen, das die Be­wegungen steif macht und die Gedanken hindert, einander zu folgen, das war für diesen selbstischen, eigenwilligen Menschen eine unerträgliche Cual.

Haben Sie jetzt gute Nächte?" fragte er beinahe barsch, ,, feine Schlaflosigkeit mehr?"

,, Nein, ich schlafe wieder ganz gut, besonders seit ich auf dem Lande bin."

,, Gehen Sie zeitig zu Bett?"

" Ich bin ja auch in der Pension nicht spät zu Bett ge gangen. Ich glaube, was mich dort am Schlafen hinderte, war, daß ich nicht allein war! Ich finde, es liegt etwas Ve­unruhigendes in der Gegenwart andrer, die um einen herum schlafen. Manchmal wurde mir ganz schlecht dabei. Wenn ich so die steif daliegenden Körper unter den Deden sah, da hatte ich das Gefühl, als wäre ich unter lauter Toten. Und dann mag ich auch an die verschiedenen Ausatmungen nicht denken, die sich da vermischten. Ich finde, man muß die Menschen sehr lieb haben, mit denen man lange eine und die­selbe Luft atmen soll."

,, Es liegt schon etwas Wahres darin," sagte er mit einem halven Lächeln. Zum Glück denkt man mur meistens nicht daran."

O, ich schon!" entgeguete fie lebhaft.ch fühle den Atem der Menschen. In der Klasse und im Schlafsaal hatte ich sehr oft eine Art Erstichungsanfall bei dem Gedanken an

Sie sah ihn mit so gerührten, thränenfeuchten Bliden an, daß sie kein Wort erwidern konnte. Wie gut Sie find," sagte sie nur.

betrachtete.

Der gütige Dieb!" dachte er, während er sie voll Liebe Und indem er einen etwas rauheren Ton anzuschlagen. versuchte, sagte er:

Ich bin kaum gerecht und billig."

Wieder schwiegen sie beide. Herbelines Schüchternheit war verschwunden. Es verblieb in ihm nur eine ungeheure Kraft der Bewunderung, eine Zärtlichkeit, wie sie seine herbe Seele noch nie gekannt hatte. Im übrigen gar kein Be­gehren, feine umlautere Empfindung, nichts als jene trügerische Anbetung, aus der die Illusion der platonischen Liebe ent­standen ist. Sie, die im tiefsten Innern gerührt, fühlte ihr Herz erfüllt von einer großen und füßen Zuneigung für diesen Mann, eine jener Zuneigungen, die je nach dem Laufe der Ereignisse jede Gestalt annehmen können.

Sie sagte halblaut:

Das alles ist kein Grand, daß ich mich nicht auch nützlich machen könnte."

Ist es der Wunsch, sich nüglich zu erweisen, oder das einfache Bedürfnis nach Arbeit, das Sie quält?"

Ich beschäftige mich ja," sagte sie. Aber wem nügt meine Arbeit?"

Nüglich sein!" flüsterte er wie traumverloren.