Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 247.
25]
Freitag, den 18. Dezember.
( Nachdruck verboten.)
Das Verbrechen des Arztes.
Rontan von J. H. Rosny.
Autorisierte Uebertragung von M. v. Berthof. Mit glühendem Grbeben richtete Guy wieder seinen Blick auf das vergängliche Geschöpf, das die Herrlichkeit der Dinge so unbegrenzt vermehren konnte.
Nun," sagte er, fast mit leiser Stimme, wenn Sie sich nach einer nütlichen Beschäftigung sehnen, so werde ich Ihnen eine solche finden! Hat Ihr Vater mir nicht gesagt, daß Sie das Deutsche sehr gut gelernt haben?"
" Ich war wenigstens die Erste," antwortete sie. „ Es wäre für mich sehr wichtig, das Buch des Doktor Sommer genau fennen zu lernen. Wollen Sie es für mich übersetzen? Es wird Ihnen nicht wenig Mühe machen, die technischen Ausdrücke verstehen zu lernen."
„ Und könnte das für Sie nüßlich sein?" fragte sie dringend.
Sogar sehr müglich und vielleicht, ja ganz gewiß für meine Kranken."
Wirflich?" drängte sie mit einem leisen, schüchternen und flehenden Lächeln.
„ Ganz gewiß!"
"
Wie froh werde ich sein, diese Arbeit machen zu dürfen, und welche Mühe will ich mir dabei geben!"
" Ich wünsche aber keineswegs, daß Sie mehr als drei Stunden täglich arbeiten," erklärte er.„ Das ist die Bedingung, die ich stelle."
Sein Herz war von Freude überflutet. Dieses leise Band zwischen ihnen erschien ihm schon als etwas unendlich Süßes.
„ Wir sind also einig?" sagte er. Ich bringe Ihnen morgen das Buch und die Wörterbücher. Ihr Vater scheint entschieden nicht zu kommen. Ich werde ihn also heute abend oder morgen früh erwarten. Auf Wiedersehen!"
Er hielt die kleine, schmale, frische Hand einige Sekunden fest, dann machte er sich auf den Weg. Die Dämmerung trat ein. Der ungeheure Sonnenball lag ganz tief, dann versant er. Der Wolfenhimmel leuchtete gleich einem Feuermeer. Ganze Landschaften flammten auf; es öffneten sich grünliche Fluten neber scharlachrotem Boden. In einem gelblichen See schwammen allerlei Fabeltiere. Das Land der Cabiren entzündete seine blutroten Schmieden, Hydren tauchten aus violetten Sümpfen empor und die Titanen beherrschten den in Silber und Schnee erschimmernden Olymp.
Herbeline hielt mitten am Wege an. Er erblickte noch das Sandsteinhaus im Glycinenschmuck, über den sich eine große Wolfe ausbreitete. Ihm war, als sei er ein Mensch völlig andrer Art geworden. Sein vergangenes Leben war dunkel, nichtssagend und eitel das Leben einer menschlichen Larve. Und er wunderte sich bereits gar nicht mehr, er zitterte nicht vor dem nächsten Morgen. Er nahm dies neue Schicksal entgegen, als ob es stets das jeinige gewesen wäre.
9.
Die Tage, die nun folgten, waren herrlich. Guy war jeden Morgen allein mit Marguerite. Er erklärte ihr die Arbeit, die sie machen sollte, er lehrte sie ein wenig Physiologie. Sie hatte einen gefügigen, methodischen Verstand und überdies eine rasche Auffassungsgabe. Schon sie so aufmerksam zu sehen, gewährte ihm ein großes Vergnügen, und mehr noch, ihr zuzuhören. Die trockenen Ausdrücke und die falten Regeln erhielten einen eignen Zauber, wenn sie über ihre Lippen kamen. Sie war für ihn wie eine Schule der Schönheit. Bei jeder ihrer Bewegungen erfuhr er etwas Neues und Ergreifendes. War es mun, daß seine Liebe mit einer Krisis seines ganzen Wesens zusammenfiel, war es, daß fie in ihm jene tausend Dinge weckte, die in ums schlummern, die manchmal gar nicht erwachen und die wir von unsren Vorfahren ererben, jedenfalls geschah es, daß sich ihm tausend neue Begriffe erschlossen, daß ein tiefes Verständnis der Dinge über ihn kam. Das urewige hohe Lied der Liebe klang in ihm und dunkel begann er zu begreifen, daß derjenige, dem die große
1903
Leidenschaft fernblieb, ins Grab steigt, ohne den Gipfelpunkt der menschlichen Welt kennen gelernt zu haben.
Weit mehr beunruhigte ihn der Verdacht, den er bei den andren erwecken konnte. Die Heuchelei, in der er sich seit jeinem Verbrechen ausgebildet hatte, schützte ihn vor allem Verräterischen in seiner Haltung. Uebrigens hatte er verstanden, seiner Umgebung ein grenzenloses Vertrauen einzuflößen. Madeleine glaubte, ihren Mann bis in die tiefsten Tiefen seines Wesens zu fennen, fein Schatten von Unruhe fonnte ihr kommen. Madame Monteaux stand ganz in seiner Gemalt, ihr Vertrauen in ihn war geradezu fanatisch. Was auch gegen ihren Schwiegerjohn gesagt worden wäre, sie hätte feinem Menschen geglaubt. Dufrêne, nicht minder fanatisch, war gerade infolge eines instinktiven Mißtrauens, das er aufangs empfunden hatte, noch gläubiger geworden.
Selbst die Dienstleute teilten das allgemeine Vertrauen. Sie verehrten in Herbeline einen entschiedenen Herrn, der wenig Worte machte, logisch und genau handelte, aber ohne jede Härte, billig und großherzig und selbst nachsichtig war, wenn man ein Vergehen entsprechend rechtfertigen konnte. Sie trauten ihm keine geheimen Schändlichkeiten zu, sie glaubten ihn allen Niedrigkeiten unzugänglich. Daher fand niemand etwas Besonderes an den Zusammenkünften des Toftors mit dem jungen Mädchen. Die Scenen spielten sich übrigens fast immer unter den Blicken aller, auf der Veranda oder dem Rasen ab. Jeder, der nur wollte, konnte ihnen beiwohnen.
Aber es fand sich, daß Madame Monteaux einen wahren Schauder vor der Physiologie und Medizin hatte. So oft sie von dem seinen Mechanismus des Lebens und der Krankheit sprechen hörte, wurde sie von Schauder erfaßt. Was nun Madeleine betraf, so liebte sie die Wissenschaft überhaupt nicht, und bei der nervösen Verfassung, in die ihr Zustand sie versetzte, litt sie förmlich unter den barbarischen Ausdrücken und der trockenen Phraseologie der Handbücher.
So blieben Guy und Marguerite allein. Sie wünschten sich nichts Besseres. Sie berauschten sich an neuen Gefühlen, vergifteten sich an ungekannten Eindrücken.
Das Verhältnis hätte die längste Zeit ganz harmlos und unschuldig bleiben können, lange genug, um Herbeline in der Stunde der Versuchung die Kraft des Widerstandes zu geben. Nur hätte dann nichts Aufschreckendes, Störendes dazwischen treten dürfen. Nach ein oder zwei Jahren der wohlverstellten Leidenschaft, hätte Herbeline sich vielleicht langsam mit dem Gedanken der Verheiratung des jungen Mädchens befreunden fönnen.
Gewiß, ein Schmerz wäre es immer für ihn geblieben, eine Art empfindlicher Narbe, und lange Zeit wäre ein neues Aufflammen seiner Liebe zu befürchten gewesen. Aber er hätte allein gelitten.
Das Unglück wollte, daß das verhängnisvolle Ereignis eintrat.
Madame Monteaur und ihre Tochter hatten nur wenig Bekannte in der Umgebung. Sie verkehrten höchstens mit zehn Personen, zumeist alten Leuten, die auf ihrer Scholle klebten. Kaum daß sich darunter einige junge Mädchen mit sehr faden Gesichtern und zwei junge Leute befanden, von denen der eine bucklig und von spinnenartiger Häßlichkeit, der andre flein und zart war, überdies stotterte und bei seinen seltenen Besuchen, die er stets mur in Gesellschaft seiner Mutter, der Baronin von Brehain, machte, nicht drei Worte sprach und sich in die fernsten Winkel flüchtete. Ein derartiger Verkehr sagte dem Gemütszustande des Doktors ganz eigentümlich zu. Stein Schimmer von Eifersucht konnte sich dabei in seiner Seele regen. Er benahm sich ohne jene ficberhafte Angst, jene beständige Unruhe, die mehr als alles dazu angethan sind, eine verhängnisvolle Wendung herbeizuführen.
Da erschien der böse Geist in der Gestalt des Herrn Jean Philibert Donzagues, cinem jungen Manne von dreißig Jahren, der von einer langen Reise nach den polynesischen Inseln heimgekehrt war.
Jean Philibert Donzagues war Marine- Offizier und ging mit der Absicht um, seine Reise schriftstellerisch zu verwerten. Er war der Sohn des Jacques Donzagues, eines intimen Freundes von Madame Monteaux, besaß ein großes Vermögen und ein bestrickendes Aeußeres.