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hofft sie auch nicht mehr. Aber es bleibt ganz unflar, was denn etwa sonst sie so lange an der Seite dieses Mannes festgehalten haben tann? Sie hat, erzählt fie, seit jener Stunde jeden Verkehr ihm geweigert; fie ist unabhängig, nichts hat sie von ihm angenommen und was sie für sich brauchte, aus eigner Tasche bezahlt". Kein fonventionelles Vorurteil fesselt sie. Also, warum geht sie nicht, ist sie nicht längst gegangen? Je mehr man den Voraussetzungen, auf denen das Drama fich aufbaut, nachgeht, um so brüchiger er scheinen sie. Ist es denkbar, daß eine so brutale Natur, wie die Peters, diesen jahrelangen, passiven Widerstand ertragen hat, ohne zur Gewalt zu greifen?

Jr den Bühnenvorgängen selbst tritt die Art bloß theater­mäßiger Scheinmotivierung, und zwar in den die Handlung ent­scheidenden Wendungen, womöglich noch störender hervor. Es giebt prächtige Ansätze der Charakteristik, so in der Figur des alten Ulrichs, der Großmutter und vor allem Jakob Doorns. Das Bild dieses trobigen, verwahrloft aufgewachsenen Jungen, der mit der täppisch eifersüchtigen, schwärmerischen Liebe feiner sechzehn Jahre an Renate hängt und mit dem dumpfen Groll des Enterbten Beter haßt, ist in den ersten Akten voll lebendiger Kraft, das Beste in dem Stück. Doch auch er fällt schließlich dem Effektbedürfnis einer äußer lichen Handlung zum Opfer. Heinrich, der dritte der Brüder, der draußen in der Welt mit rüffiger Kraft sich seinen Weg gebahnt, fehrt, von der Regierung beauftragt, die neuen Stromarbeiten zu Teiten, unvermutet ins Vaterhaus zurück. Er hat Renate einft ge­liebt. Die alten Erinnerungen werden wach, unwillkürlich verrät die Frau, daß fie in ihrer Ehe namenloses Elend dulde, und Heinrich, in dem jäh die Hoffnung wieder auflodert, dringt in sie, ihm zu neuem Leben zu folgen. Somit ist hier die Psychologie noch ver­ständlich. Aber was hat die Liebe, die sich jetzt leise auch in Renatens Herzen zu regen beginnt, mit dem Geheimnis, das sie weiß, zu schaffen? Warum, wenn sie bisher geschwiegen, um ihrem Manne die Schande des Gefängnisses zu ersparen, tommt ihr nun auf ein mal das brennende Begehren, Heinrich, der den Schaden längst verschmerzt hat, Peters That zu verraten? Es fehlt da jeder Halb­vegs überzeugende Zusammenhang. Noch toller ist es, wenn, um die Spannung durch ein retardierendes Moment noch länger aus­zudehnen, Ohm Ulrichs, unter gänzlicher Verleugnung seines früheren Charakters, plöhlich als Warner auftritt. Renate das ist der durchsichtige Zweck soll eben den Borsak, zu schweigen, nochmals erneuern, um ihn dann in einer prasselnden Effektscene desto wirt samer zu durchbrechen. Peter droht ihr zum erstenmal in fünf Jahren mit Bergewaltigung, und nun in zitternder Empörung ruft fie Heinrich herbei und schreit ihm das Verbrechen seines Bruders ins Gesicht. Da tönt von draußen Alarm: der Eisgang naht. Und die Brüder stürmen hinaus, mit den andren gemeinsam den Damm zu hüten. Der dritte und lebte Aft ist wohl der schwächste. Peter. zur Rede gestellt, leugnet selbstverständlich alles ab. Was seine Frau behaupte, habe er niemals gesagt, es feien ihre eignen frankhaften Einbildungen. Renate mußte, wie sie ihn kannte, voraussehen, daß er mit dreister Lüge sich verteidigen werde. Aber der Dichter will, daß ihr das als ein Neues, Ungeheures erscheine. Denn nun erst sagt sie sich von ihrem Manne los. Als Jakob von Heinrich den Betrug erfährt, schäumt er auf in wilder Wut. Aber noch schärfer stachelt ihn die Eifersucht. Nicht ihm, dem Bruder, hat Renate das Geheimnis verraten; jenen also, nicht ihn, hat sie geliebt. Von Peter verhöhnt, finnlos in seiner Rachsucht und dem Schmerz getäuschter Liebe, sucht er den Damm zu durchstechen. Alles soll die Flut ersäufen. Peter jagt ihm nach und beide stürzen, miteinander ringend, in den Strom. Die fraffe Gewaltsamkeit des Ausganges überrascht nicht, fie stimmt zum Stil des Ganzen.

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Das Drama, das schon in Wien und andren Städten mit großem äußeren Erfolge aufgeführt ist, fand auch beim Publikum des Neuen Theaters lauten Applaus. Dem Dichter twurden Ovationen dargebracht. Frau Sorma, die auf längere Zeit dem Reinhardt- Ensemble beigetreten ist, gab die Renate. Aber selbst ihre Kunst, so viel treffliche Einzelheiten sie gab, vermochte kein Leben in die Gestalt zu zaubern. Auch kehrte sie, schien mir, in Haltung, Miene, Ton so sehr die müde und gebeugte Dulderin heraus, daß darüber die Sinnenmacht, die von ihr ausgeht, Jakobs und Heinrichs Leidenschaft, schwer verständlich erschien. Sehr plastisch eindrucksvoll war Reicher als schnapsliebender, bedächtiger Ohm Ulrichs, Hedwig angel als Großmutter und in manchen Scenen Licho als der ungebärdige, jüngste Bruder Jakob. Peter und Heinrich Toorn wurden von den Herren Joseph Klein und Winterstein natürlich und in guter Haltung dargestellt.

Conrad Schmidt .

Kleines Feuilleton.

er. Weihnachtsbäume. In langen Reihen stehen sie die Straßen entlang, eine Stadt in der Stadt, eine Stadt mit grünen Gaffen und stillen, lauschigen Plätzen. Durch das Alltagsgetriebe der Welt­stadt flüstert plöglich ein seltsam Rauschen, zieht ein feiner Duft. Tannenrauschen, Tannenduft. Wir wandern nicht mehr in den Wald hinaus, so ist der Wald zu uns gekommen, der Christbaum­wald. An allen Eden und Enden ist er plötzlich in die Höhe geschossen. Neber die wintergrauen Straßen breiten die Tannen und Fichten ihre zierlichen Neste aus. Draußen im Westen und oben fern im äußersten Norden, wo die legten Häuser stehen". Hier hoch und

stattlich, mit ragenden Wipfeln, da llein und unscheinbar als dürfig dünne Bäumchen. Weihnachtsbäume! Der Wandrer hemmt den Fuß. Weihnachts­Bäume: fie rauschen leise, und was erflingt in ihrem Rauschen nicht? Hoffen und Erinnern, Weh und Lust zugleich. Aus den schwankenden, grünen Nadeln steigt ein Ahnen kommender Seligkeit; bald, und die Kerzen leuchten, und heimlichen Wünschen wird Erfüllung. Bald! Aus den schwankenden grünen Nadeln winkt Erinnerung mit stillen Augen: Weißt Du noch? Weißt Du noch von vergangnen Tagen, weißt Du noch von all' dem Schimmer, als forgende Liebe um Dich war? Und winkt Dir teine Liebe heut: Du besaßest Doch einmal,

Was so töstlich ist.

Db Liebe fommt, ob Liebe geht, die Tannen rauschen, und ist kein Glück so hoch und stolz, und ist kein Leid so tief und weh, ihr Rauschen flüstert doch dazwischen. Noch stehen ihre Gassen eng und dicht und tragen in das Alltagsgrau der Weltstadt ihr stilles dunkel grün: je näher des Festes Kerzen leuchten, desto lichter werden ihre Reihen. Langsam verschwindet eine nach der andern, die hohen Großen gehen zuerst, dann folgen die Kleinen und Allerkleinsten. Wohin wandern fie?

dieselbe Sonne fügte ihre Wipfel, derselbe Windhauch spielte mií Draußen auf freier weiter Heide standen sie alle bei einander; ihren Zweigen. Jetzt wird es anders. Sie sind unter die Menschen gekommen und die Menschen kennen feine Gleichheit, die Menschen mit sich selber. Die Großen, leppigen, das sind die kostbaren und scheiden Vornehm und Gering, fie machen es mit den Bäumen ivie eleganten, die wiegt man auch mit Thalern auf; was flein und dünn und dürftig ist, das gilt nicht viel. Und so gehen die Großen, Stattlichen denn in des Reichtums Gold und Silber hängt man an ihre Zweige und stolze Säle. funkelnden Glastand und köstliche Leckereien. Mit ungezählten Lichtern übersät man sie, vom Fuß bis zur Spitze, und sie neigen fich über reiche Tafeln, die fast brechen unter der Gaben Last. Und Glanz und Jubel ist um sie her, und leppigkeit und Pracht. Aber je fleiner die Bäumchen, je fleiner die Stuben, und die allerkleinsten kauft der arme Mann. Er kauft sie am heiligen Abend fpät, wenn die Lichter der Großen schon zu Ende brennen und wenn man die Bäumchen für ein paar Pfennige erhält, weil der Händler endlich ganz gewiß weiß, daß diesen kleinen, elenden Kram niemand mehr kaufen wird.

Niemand, das heißt, niemand, der Geld hat. Denn, wenn die Menschen den Menschen bewerten, bewerten sie ihn immer nach dem Geld und danach ob er's in harten Thalern oder in Groschen im Beutel trägt.

Und so wandern denn die allerkleinsten Bäumchen zu denen, die nur die Groschen haben, in armselige Dachlammern wandern fie, in enge Hofstuben und niedere Kellerlöcher.

Nur ein paar dürftige Dreierlichte steckt man an ihre dünnen weige, nur ein Baar billige Aepfelchen und Nüsse und Pfennig­fuchen hängt man daran. Und die Geschenke find gar schlicht und flein.

Oft fehlen fie auch ganz.

Aber seltsam ift's. Die fleinen, dürftigen Dreierlichte spiegeln fich auch in frohen Augen und wenn der Frohsin auch mit ihnen wieder erlischt. Und wenn das Bäumchen leise flüstert, dann flüstert's auch vor frohen Herzen, auch, wo nicht ein einziges Geschenk zu seinen Füßen liegt. Und soll man denn nicht froh sein?

Und wenn man sonst auch gar nichts hat, und wenn man auch Sekunden mur in holdem Wahn sich wiegt, im Bahn vom Glüd, man hat sich doch den Wahn herzaubern können! Man hat doch einen Weihnachtsbaum.

Und so viele haben den nicht mal!

So viele an der Menschheit Liebesfest", für die nicht eine Tanne rauscht, für die nicht einer Kerze Schimmer den uralt ewigen Sieg des Lichtes kündet.

So viele

Aber das Licht siegt doch!

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-Aus den Geheimnissen der Statistik. Die Deutsche St. Peters burger Zeitung" läßt den feither verstorbenen General N. M. Bara­now, der von der russischen offiziellen Statistik den Ausspruch that, sie sei nur ein Produkt der Eingebung der Bezirksschreiber", folgende Geschichte erzählen:" Die Sache spielte sich schon viele Jahre nach der Epoche der großen Reformen" in einem centralen Gouvernement ab, in dem es niemals Buddhisten oder Mohammebaner gegeben hat. In einer der Bezirksverwaltungen dieses glücklichen Gouvernements waren unter Vermittlung des Jsprawnik( Landpolizeimeisters) und des Stanowoi( Kreisrichters) die üblichen Blanketts eingetroffen, anf denen die Verwaltung die Daten über die Bevölkerung, die Gebäude usiv. zu verzeichnen hat. Nach der Tagesarbeit, so zu sagen in den Mußestunden, setzten sich der Bezirksälteste und der Bezirksschreiber nieder, um die Blanketts auszufüllen". Es ging alles ziemlich glatt. Die Rubriken Männer"," Frauen"," Kinder", Hölzerne " und steinere Gebäude", orthodoxe Kirchen " waren aus­gefüllt, die Frage nach den katholischen imd evangelischen Kirchen war mit einem entschiedenen nicht vorhanden" beantwortet, als- die Ausfüller" plöglich durch die Rubriken Moscheen und Churulen" ( buddhistische Tempel) in Verlegenheit versezt wurden,

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