Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 19.

19

Niobe.

Mittwoch, den 27. Januar.

( Nachdruck verboten.)

Noman von Jonas Lie.

Marternd blutige Selbstironie bebte in Endres Stimme und Mimit. Dies Nichtkönnen trot all seines Wissens und Wollens, diese intelligente, schauende, geistreiche Verzweiflung über seine Ohnmacht umzitterte seine Lippen. Er saß über seinem Abgrund mit einem stummen, stillen, bebenden Lächeln, diese Ohnmacht in dem Nimbus intellektueller Begabung. Er sah hilflos darauf hinab.

Es kämpfte und zuckte in dem Antlitz des Doktors. Dies war ja Endre selber, in seinem ganzen Elend.

Der Doktor wandte sich hastig um und zog Bente mit sich hinaus.

" Vielleicht

vielleicht Du- dies sieht ja wirklich aus wie etwas. Wir müssen ihn auf alle Fälle ein wenig ftüßen, etwas helfen Du mußt versuchen, ihn zu trösten, den Aermsten. Es war ja, als läge er auf einem glühenden Rost. Du.

"

"

Ach Gott , so ein Jammer!" rief Bente aus. Nun, nun, Mutter... Ich sage Dir, wir müssen ihn stüßen, müssen das unsre thun, um ihm etwas Mut und Selbstvertrauen einzuflößen. Und ihn etwas ins Fahrwasser bringen Menschen hierher einladen. Wir müssen vor allen Dingen an ihn glauben, das missen die Leute sehen."

Kjel war draußen in der Speisekammer bei der Mutter, strich Butter auf Honigkuchen und schwelgte in diesem Genuß; es war frisch aus der Stadt gekommener Honigkuchen mit frischer Butter dazu, während eine Schüssel mit demselben delikaten Imbiß für Thefla bereitet wurde, die drinnen im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und ruhte. Er und sprach fich ganz im Vertrauen über den Bruder aus. Rechten Halt habe er ja nicht, sei entsetzlich haltlos. Aber eine solche Be­gabung! Natürlich sei es ein Jammer um ihn. Aber ganz ohne Stüße sollte er nicht sein. Noch ist Polen nicht ver­loren. Schweinemäßig gut, Mutter ist die Butter heute frisch gemacht? Ich denke, daß wird Thekla gut thun. Sie mag so leidenschaftlich gern Honig, alles, was mit Honig

zusammenhängt.

Berthea fam hereingestürzt. Da unten ist ein Tele­graphenbote, ein Telegramm

Dann laß den Burschen kommen. Er hätte sich sonst damit begnügen können, die Depesche unten auf dem Säge tvert abzugeben, statt mir hierher nachzulaufen. Hier will ich Frieden haben-"

Gleich darauf erschien der Vote in der Halbgeöffneten Speisekammerthür, und Kiel schnitt das Couvert mit einem Küchenmesser auf.

Er starrte ziemlich lange in das Telegramm hinein, steckte es dann aber gleichgültig gelassen in die Seitentasche. Es durchzuckte Bente, daß das Gesicht des Sohnes, während er las, einen Augenblic gleichsam von einer grauen Wolfe überschattet gewesen, aber es war wohl nur ihre ge­wöhnliche Angst.

Stjel schluckte schnell den Nest des Honigkuchens herunter und ergriff den Teller.

Ja, nun ist es wohl genug, Mutter, Thekla fann wohl nicht mehr es ist wirklich genug, genug, sage ich Dir, Mutter, so laß es mich jetzt doch nehmen. Weißt Du, was es war?" blieb er plötzlich stehen. Niemand anders als Bank direktor Wahl in höchst eigner Person, der hierher kommt, will sich persönlich im Distrikt umsehen. Wir müssen Staat mit ihm machen, wie Du Dir wohl denken kannst. Wenn es darauf ankommt, müßt Ihr ihn auch einladen. Er kommt direkt von der Bahn zu mir. Das heißt, so um drei, halb| vier Ubr."

Stjel sah hastig nach der Uhr und grübelte.

Verdammt turze Zeit, das. Aber mit meinem Falben und Vaters Sarriol

" Ihr müßt Thekla gleich nach Tisch nach Hause fahren Lassen, Mutter," rief er.

hinab.

1904

Kaum fünf Minuten später rollte das Karriol den Weg

Ungefähr um halb zwölf Uhr am Vormittag, mitten in der letzten Unterrichtsstunde, sah Schulteiß vom Schulstuben­fenster aus Stjel mit strammen Zügeln in scharfem Trab den Doktorhügel hinabfahren.

Es interessierte ihn durchaus nicht. Eine Strähe oder ein fliegendes Infekt würde ihn mehr interessiert haben. Wenn er so häufig zum Fenster hinaussah, so hatte das seinen Grund darin, daß er sich gern flar darüber werden wollte, ob Herr Varberg mun auch anfinge, des Mittags zu kommen, als intimer Hausfreund aufgenommen zu werden beabsichtige.

Seit dem letzten Montag, wo er sich so kurz vor Tische einfand, daß der Doktor ihn aufforderte, da zu bleiben und mit zu effen, hatte ihm die Möglichkeit einer Wiederholung die Nerven stark bedrückt. Varberg hatte doch bisher, den ganzen Sommer hindurch, seine Heimsuchungen des Hauses auf die Staffee- und Theezeit beschränkt, was dann freilich ausnahmslos mit einem jener hochinteressanten Spazier gänge endete, auf denen Minta und er sich aufs eifrigste mit einander unterhielten. Es schien, als wünsche dieser Herr jezt nicht mehr ein größeres, fritisches Publikum zu haben, als vermeide er sorgfältig jeden, der ihm bei diesen seinen so fulminant interessanten Erpektorationen aus höheren mystischen Geistersphären in die Rede fallen könne.

Er wollte in ihr eine tief ergriffene Jüngerin, ein seelisch unterjochtes Wesen, eine geistige Sklavin gewinnen, ein Medium für sein Experimentieren.

er wollte sie dem Ungeheuer entreißen, wollte bis zunt Aber er Schulteiß gab das Spiel nicht verloren, äußersten kämpfen.

fühlte

Als ob er nicht wüßte, was sie dachte, wüßte, was sie konnte wohl jemand so in ihr Inneres eindringen Sie liebte Barberg nicht, sie haßte ihn ja.

wie er?

Aber wenn er dann sah, wie sie trotz ihrer Furcht, troy ihrer Auflehmung überwältigt war, wie sie Varberg stets fremd, ja scheu begegnete, ihm aber doch jedesmal gleichsam willenlos folgte. Und wenn er dann diese hypnotisierten Blicke überrumpelte, wieder und wieder dasselbe, stets das ſelbe

dieser erotischen Verblendung erlöst werden, mußte ſeine, Sie mußte sich selber wiedergegeben werden, mußte aus feine ausgestreckten Arme sehen.

Dort ganz unten auf dem Wege ward jemand sichtbar jemand, der einen dünnen Spazierstock unablässig hin und her schwang. Er blieb von Zeit zu Zeit stehen und hielt Umschau.

Varberg war es nicht!

Ah, welche Erleichterung!

Ein junger Mann. Ja, er schlug die Richtung nach dem Doktorgehöft ein.

Berthea kam ihm ganz zufällig draußen auf der Diele entgegen.

Jemand, der den Sänger Baarbig gern sprechen möchte, mein" Fräulein, Finsland Student Finsland. Einem Gerücht zufolge soll mein Freund Endre hier eingetroffen sein." Berthea verneigte sich zum Gegengruß, lief an die Stubenthür, um Endre heraus zu rufen, wandte sich mit einer taftvollen, leichten Verbeugung wieder an den Studenten: Bitte, wollen Sie nicht näher treten. Er ist gewiß ich will sogleich-"

-

Sie stürzte hinaus und traf Minka, die den Tisch deckte. Ein Student, Minka, der mit Endre sprechen will. Und gerade jetzt um die Tischzeit ich muß hin und es der Mutter sagen"

Bald vernahm man laute, beflügelte Wiedererkennungs­stimmen aus dem Wohnzimmer her, und Endre stellte mit großem Pomp den Schriftsteller und Liederdichter Alver Finsland vor.

Meine Mutter, meine Schwester Minka, dito Berthea." Er war diesen Winter eine Zeitlang auf ein Stipendium hin in Dresden gewesen. Endre hatte eins seiner Lieder in dem Konzert vortragen wollen, aus dem nichts geworden war, Jetzt hielt er sich bei seinem Onkel Finsland, dem Floß inspektor, auf, um einige Gedichte zu vollenden.