Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 34.

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Mittwoch, den 17. Februar.

( Nachdruck verboten.)

Elther Waters.

Roman von George Moore . Autorisierte Uebersetzung von Annie Neumann- Hofer .

I.

Sie stand auf dem Perron und sah dem entschwindenden Zuge nach. Die Biegung des Weges war durch Gebüsch ver­borgen, aber über dem Gebüsch stieg der weiße Dampf empor und verlor sich allmählich in der blassen Abenddämmerung. Noch einen Augenblick, und auch der letzte Wagen war den

Blicken entschwunden.

Auf der Bank neben ihr stand eine rotbraun angestrichene, mit einer dicken Schnur zusammengebundene Kiste. Die Haltung ihres Rückens und ihrer Schultern deutete an, daß das Bündel, welches sie trug, sehr schwer wog. An den Um­rissen konnte man sehen, daß es eine leblose Masse war. Sie trug ein verblaßtes gelbes Kleid und ein für den warmen Tag viel zu schweres Jackett. Ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, untersetzt, fräftig gebaut, mit furzen, starken Armen; ihr Hals üppig und ihr Haar von so gewöhnlichem Braun, daß es keine Aufmerksamkeit erregte. Die Nase zu dick, aber die Nasenflügel gut geformt, die Augen von leuchtendem Grau und durch dunkle Wimpern verschleiert; nur wenn sie lachte, verlor ihr Antlitz seinen gewöhnlichen, etwas miürrischen Ausdruck; dann allerdings ward es förmlich überstrahlt von Gutmütigkeit und Frohsinn. Jetzt eben lachte sie und zeigte dabei zwei regelmäßige Reihen mandelförmiger Zähne. Der Bahnhofportier hatte sie gefragt, ob sie Furcht hätte, ihr Bündel mit der Kiste dort zu lassen, und ihr erzählt, daß der fleine Efelwagen sowieso täglich nach der Station herunter­fäme, um Pakete abzuholen; er würde ihm schon ihre Sachen mitgeben; und der Weg nach Woodview, der wäre dort, geradeaus, am Feld entlang; ganz unmöglich, ihr zu ver­fehlen und hinter jener Baumgruppe würde sie schon das Parkgitter sehen.

Nachdem der Mann ihr diese Anweisungen gegeben, blieb er zögernd noch in ihrer Nähe stehen, denn das hübsche Mädchen gefiel ihm, aber der Bahnhofvorsteher rief ihn fort, um nach den Gepäckstücken zu sehen.

Es war ein öder Fezzen Land; in früheren Zeiten war bei der Hochflut das Meer fast zu der Höhe der es umgebenden Felsen heraufgeklettert und darüber hinweggeschlagen; das würde es wohl auch jetzt noch thun, hätte man nicht einen Damm am Ufer errichtet. Zwischen diesem Damm und dem Ufer floß ein verschilfter Strom, so daß die kleine Stadt eng zusammengedrängt dastand, fast mit den Füßen im Wasser. Im Hafen sah man halbverfallene Schiffsbauplätze, und lange Holzstangen firedten sich wie dürre Arme dem Meer entgegen, als wollten sie Schiffe einladen zu kommen, die doch niemals famen. Jenseits der Eisenbahn sah man die Wipfel von Apfelbäumen über eine weißgetünchte Mauer herabwinken. In den tief unten liegenden Feldern schienen sich Obst­gärtnereien zu befinden; ein wenig hinauf sah man eine dichte Reihe von Bäumen. Das war Woodview.

Das Mädchen betrachtete das öde Land wie jemand, der es zum erstenmal sieht; sie blickte es an, ohne es eigentlich zu sehen, denn im Geiste war sie mit andren Dingen beschäftigt. Sie konnte sich noch immer nicht recht entschließen, ob sie ihr Bündel bei der Siste liegen lassen sollte. Es war freilich schwer und sie wußte nicht, wie weit das Gut von der Station entfernt sein mochte. Am äußeren Ende des Perrons nahm ein Beamter ihr das Billet ab, und immer noch unentschlossen, ging sie über das Geleise hinüber. Am Anfang des Feld­weges sah sie eiserne Gitter, Lorbeersträucher und lange, bis auf den Boden herabreichende französische Fenster.

In derartigen Häusern hatte sie schon gedient und wußte genau, welcher Art ihre Pflichten darin sein würden; aber das Leben in Woodview lag wie ein großer Traum vor ihr, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie im stande sein würde, dort ihre Pflichten zu erfüllen. Sicherlich giebt es dort einen Haushofmeister, einen Diener und einen Groom; was werden die von ihr denken? Auch wohl ein erstes und ein zweites Hausmädchen dort, vielleicht gar eine Sammerjungfer, und

1904

wer konnte wissen, ob diese Damen nicht schon mit der Familie gereist waren! Auf dem Kontinent zum Beispiel! Sie hatte schon von Frankreich und von Deutschland sprechen hören; wenn das der Fall war, würde natürlich die ganze Unterhaltung sich um diese Sachen drehen, und ihr kon­fragen, in was für Stellen sie bisher gewesen wäre, und wenn sequentes Schweigen würde sie verraten. Man würde sie man dann die Wahrheit erführe, würde sie natürlich mit Schande und Schmach abziehen müssen.

Billet nach London zurück zu kaufen, und was für einen Grund Aber sie hatte ja nicht einmal Geld genug, um sich ein für ihr Fortlaufen sollte sie dann wohl Lady Elwin angeben, die sie aus der Stelle bei Mrs. Dunbar befreit und ihr diese Stelle als Küchenmädchen in Woodview verschafft hatte?

denken.

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es war

Nein, sie durfte nicht zurück. Ihr Vater würde vor Wut schäumen, wenn sie zurückkäme, und vielleicht gar ihre Mutter und sie schlagen. nein, das würde er richt wagen, sie noch einmal zu schlagen! Bei dem bloßen Gedanken daran überflog ein tiefes, dunkles Rot dei Scham ihr Antlitz; aber ihre kleinen Geschwister, wie würden sie weinen, wenn sie zurück­fäme! Sie hatten schon so nicht genug zu essen. Nein, nein, sie durfte nicht zurück; wie dumm, überhaupt daran zu Sie lächelte, und durch dieses Lächeln wurde ihr Gesicht so hell und strahlend, wie der gegenwärtige Monat gerade der 1. Juni. Aber froh würde sie doch sein, wenn erst Kleid gehabt hätte, für die Nachmittage! Das alte gelbe Kleid, die erste Woche zu Ende wäre. Wenn sie nur ein anständiges das sie jetzt trug, würde dafür nicht gut genug sein; freilich war eins ihrer Kattunkleider noch frisch und hübsch. und wenn fie ein bißchen rotes Band daran wandte, würde es ganz gut aussehen. Sie hatte gehört, daß die Hausmädchen in der­artigen Häusern sich stets zweimal am Tage umkleideten und am Sonntagnachmittag in seidenen Mänteln und hoch­Die Kammerjungfer modernen Süten spazieren gingen. bekam selbstverständlich alle abgelegten Kleider ihrer Herrin und ging mit dem Haushofmeister spazieren. Was werden alle diese feinen Leute von einem so einfachen kleinen Mädchen, wie sie es war, denken?

Bei diesem Gedanken wurde ihr das Herz schwer und sie seufzte, da sie im voraus schon viele bittere Enttäuschungen ahnte; aber selbst nachdem ihr der erste Quartalslohn aus­gezahlt worden, würde sie doch kaum im stande sein, sich ein neues Kleid zu kaufen, denn die zu Hause würden das Geld nötig genug brauchen. Ihr Vierteljahrslohn! Welche Idee! Ihr Monatslohn, denn nie im Leben würde sie im stande sein, eine solche Stellung länger als einen Monat auszufüllen! wahrscheinlich schon dem Squire; es waren sicher sehr vornehme Alle diese Felder und jene prächtigen Bäume dort gehörten Leute, ebenso vornehm wie Lady Elwin, vielleicht noch vor­nehmer; denn auch Lady Elwin wohnte in einem solchen Hause, wie die in der Nähe des Bahnhofes waren.

Zu beiden Seiten des langen, geraden Feldweges standen hohe, gutbeschnittene Hecken, und in deren Schatten lagerten die Kinderwärterinnen behaglich in dem weichen, hohen Grase, die Kinderwagen neben sich. Das Gebrause der Stadt war hier gänzlich verstummt, und immer deutlicher trat dem Mädchen das Bild des Lebens, in welches sie jetzt eintreten sollte, vor die Seele. Sie sah jetzt schon zwei Häuser vor sich. Das erste war aus grauem Sandstein erbaut, das andre aus roten Ziegeln, mit einem epheubewachsenen Giebel; und zwischen diesen beiden, gen Norden zu, ward ein Kirchturm fichtbar. Von einem Vorübergehenden erfuhr sie, daß das erste Haus das Pfarrhaus sei, das zweite das Pförtnerhaus von Woodview. Wenn das die Pförtnerwohnung war, wie mußte dann erst das Herrenhaus aussehen!

Ein paar hundert Meter weiter teilte der Weg sich in zwei Wege und war von hier an dicht mit schattigen Bäumen besetzt. Auf dem Feldwege hatte die Sonne heiß herab­gebrannt, aber unter den Baumwipfeln war die Luft kühl und angenehm und so kräftig, daß das Blut in den Adern des abgearbeiteten Stadtmädchens schon jetzt rascher und feuriger zu pulsieren begann. Am Ende dieser Baumreihe fam ein großes, weiß getünchtes, hölzernes Thor. und durch dieses hindurch gelangte sie in eine prachtvolle Allee. Der Pförtner sagte ihr, sie solle jegt immer geradeaus gehen und,