Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 35.

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Donnerstag, den 18. Februar.

( Nachdrud verboten.)

Elther Waters.

Roman von George Moore .

Hundert Meter weiter herauf trennte eine hohe, aus Ziegelsteinen aufgeführte Mauer den Park von den Stallungen, und als William und Esther sich nach links ge­wandt hatten, erklärte William ihr, daß die sämtlichen niedrigen Gebäude, die sie dort sehe, Ställe seien. Hinter den vielen Thüren, an denen sie vorüberkamen, hörten sie das Getrappel von Pferden und das Klirren von Ketten. Dann tamen fie auf einen großen, schönen Hof, auf welchen die Hinterfenster des Hauses blickten; man sah Giebel und grün­berankte Thüren am Hause, und durch die großen Küchen­fenster konnte man die zahlreichen Dienstboten hin und her gehen sehen. Am Ende des Hofes war ein Gitter; dies führte in den Park hinein und war wie das vorher von einem hohen grünen Bogen überwölbt. Eine Reihe von Pferden kam eben auf das Gitter zu, und William eilte hin, es zu öffnen. Die Pferde waren alle mit grauen Decken behängt, auf dem Kopfe trugen fie Kapuzen, und durch die Augenlöcher darin fah Esther die großen, runden, schwarzen Augen der Tiere. Sie wurden von sehr kleinen, häßlichen Jungen geritten, die ihre furzen Beine hin und her schlenkerten und die Tiere mit grünen Zweigen schlugen, wenn Sie ihre Köpfe vornüber beugten, um am Baum zu beißen. Als William zurückkam, sagte er:

,, Sehen Sie mal da den dritten, das ist er; das ist Silberschwanz!"

Ein ungeduldiges Klopfen an dem einen Küchenfenster störte ihn in seiner Bewunderung. Er wandte sich schnell um und sagte:

,, Vergessen Sie nicht zu sagen, daß der Zug Verspätung hatte. Sagen Sie ja nicht, daß ich Sie aufgehalten habe, sonst krieg' ich was Ordentliches ab. Hier" und er zeigte ihr die Thür, die in einen breiten, mit Kokosnußmatten be­legten Korridor führte. Sie gingen diesen Korridor entlang; die erste Thür führte in die Küche, und Esther war ganz er staunt, als sie den prachtvollen Raum sah, der die Küche dar stellte. Die Kochmaschine füllte fast die ganze eine Seite aus, und wohl ein Dugend Kochtöpfe standen darauf und fummten leise. Die Küchenschränke reichten fast bis zur Decke hinauf und waren mit einer Menge von Tellern, Tassen und Töpfen angefüllt. Esther dachte sofort, welche Mühe sie sich geben wollte, alles stets ebenso blank zu erhalten, wie es jetzt war; aber die elegant gekleideten Dienstboten in ihren weißen Hauben, die um den weißen Tisch herumschritten, dienten nur dazu, ihre Zweifel an sich selber noch zu vermehren.

,, Hier, Mutter, hier ist das neue Küchenmädchen." " So? Wirklich?" sagte Mrs. Latch; sie blickte von der Platte auf, auf der eine Reihe von Törtchen standen, die sie aus dem Backofen genommen hatte und mit Gelee füllte. Die Aehnlichkeit zwischen Mrs. Latch und ihrem Sohne fiel Esther sofort in die Augen. Zwar hatte die Mutter schon ganz graue Haare, aber bei ihr, wie bei William, war die Nase der hervor­ragendste Zug im Gesicht.

Nun werdet Ihr mir natürlich erzählen, daß der Zug Verspätung gehabt hat. Was?"

" Jawohl, Mutter," sagte William rasch. Der Zug hatte eine Viertelstunde Verspätung."

" Dich, Du fauler, nichtsnukiger Vagabund, hab' ich nicht gefragt! Wahrscheinlich hat der Zug gar keine Verspätung gehabt, sondern Du hast das Mädchen aufgehalten. Ich möchte nur wissen, wie ich fertig werden soll? Sechs Gäste 31 Lisch und ich den ganzen Tag ohne Küchenmädchen. Wenn Margarete Gale nicht herunter gekommen wäre, mir zu helfen, so wüßte ich überhaupt nicht, was geworden wäre, und auch so wird mein Mittagessen zu spät fertig werden.

Die beiden Hausmädchen standen in ihren hübschen Kattunkleidern da und hörten zu. Esthers Gesicht bewölkte sich, und als Mrs. Latch ihr nun kurz befahl, rasch Hut und

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Jade abzulegen und sich ans Gemüsewaschen zu machen, damit sie sehen könnte, was sie verstünde, gab Esther zuerst keine Antwort. Dann wandte sie sich ab und sagte halblaut:

" Ich muß mich doch zuerst umziehen, und meine Kiste ist noch nicht vom Bahnhof heraufgebracht worden."

Ald, was!

Margarete Gale wird Ihnen' ne Schürze leihen." Sie können Ihr Kleid aufstecken, und Esther zögerte einen Moment.

"

Was Sie da anhaben, sieht gerade nicht aus, als ob viel daran verdorben werden könnte; also vorwärts!" Antlig flog ein Ausdruck so mürrischen Eigenfinns, daß er Die Hausmädchen lachten laut auf, aber über Esthers selbst ihre weiß und rosigen Wangen zu verdunkeln schien.

II.

Das Zimmer hatte an einem Ende eine abgeschrägte Decke, und durch die Fensterscheiben fiel das helle Sonnen­licht auf eine blau- und weißgemusterte Tapete. An einigen in die Thür geschlagenen Nägeln hingen bunte Kattunkleider; an der Wand hingen zwei Bilder, kolorierte Beilagen aus illustrierten Zeitungen; auf dem Kaminsims standen Photo­graphien der Familie Gale in ihren Sonntagskleidern und die grünen Vasen, welche Sarah Margareten zum letzten Geburtstage geschenkt hatte.

In einem schmalen, niedrigen, eisernen Bett, in den vollen Strahlen des Sonnenlichts, dicht vor dem Fenster, lag Esther mit offenen Augen, halb erwacht, halb noch von Träumen umfangen. Sie blickte auf die Uhr; es war noch zu früh, aufzustehen, und sie erhob ihre Arme, um sie be­haglich unter dem Kopfe zu kreuzen; aber plötzlich fielen ihr wieder die Ereignisse von gestern ein, und ein Schatten über­waschen. Sie hatte der Köchin nicht geantwortet, und diese flog ihr Gesicht. Sie hatte sich geweigert, das Gemüse zu hatte sie aus der Küche hinausgeworfen. Der augenblicklichen Eingebung ihres Aergers folgend, in der Hoffnung, daß sie möglicherweise nach London zurück zu Fuß gehen könnte, war sie wild aus dem Hause gerannt, aber nach wenigen Schritten schon hatte William sie eingeholt, hatte freundlich mit ihr ge­redet und sie von ihrem thörichten Vorhaben abgebracht. Sie hatte versucht, sich von ihm loszureißen, und als ihr dies nicht gelang, war sie in Thränen ausgebrochen; William war aber so freundlich zu ihr gewesen, daß sie es schließlich zuließ, daß er sie zurückführte, und er hatte ihr eine Versicherung über die andre gegeben, daß er die Sache zwischen ihr und seiner Mutter schon in Ordnung bringen werde. Mrs. Latch hatte ihr aber den Eintritt in die Küche verboten, und sie hatte sich auf ihr Bimmer zurückziehen müssen. Nun überdachte sie ihre Lage. Selbst wenn man ihr die Rückfahrt nach London vergütete, wie sollte sie es wagen, ihrer Mutter gegenüberzutreten, und was würde der Vater sagen? Er würde sie gewiß zum Hause hinauswerfen.

Und warum das alles? Sie hatte doch nichts Un­rechtes gethan! Warum mußte die Köchin sie beleidigen?

Als sie ihre Strümpfe angezogen hatte, pausierte sie einen Augenblick und dachte nach, ob sie wohl Margarete Gale aufwecken sollte.

Margaretens Bett stand in dem Schatten der schräg herabfallenden Decke. Sie lag in tiefem Schlafe da, ein Arm hing ihr herab, und ihr kurzes, breites Gesicht war dem Lichte zugewandt. Sie schlief so fest, daß Esther sich fast fürchtete, sie zu wecken, aber plöglich öffnete sie ihre Augen und blickte Either befremdet an, als fäme sie aus andren Welten zurück. Sie rieb sich die Augen und fragte: Was ist die Uhr?" Eben sechs."

"

" Dann haben wir noch massenhaft Zeit; vor sieben brauchen wir nicht unten zu sein. Ziehen Sie sich nur vollends an, ich werde warten, bis Sie fertig sind. Beide zugleich fönnen wir's ja hier nicht. Wie kann man nur zwei Mädchen in einem solchen Roch von Zimmer schlafen lassen? Auch nur ein Spiegel ist da, und der ist wahrhaftig nicht größer als meine Hand. Ihren Reisekorb werden Sie unter Ihr Bett stellen müssen. In meiner letten Stelle hatte ich ein wunderschönes Zimmer, mit' nem Brüsseler Teppich und' nem Waschtisch mit' ner Marmorplatte. Hier würde ich nicht drei Tage ge