Anterhaltungsblatt des Vorwärfs
Nr. 38.
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Dienstag, den 23. Februar.
( Nachdruck verboten.)
Elther Waters.
Roman von George Moore . Mitunter am Abend, wenn Esther von ihrer Plackerei auf ein paar Minuten frei war, tam ihre Mutter zu ihr, und in ein und dasselbe Tuch gehüllt, gingen Mutter und Tochter in der Straße auf und ab, um einander, wie früher, ihre Herzen auszuschütten; aber solche Momente waren nur selten. Esther diente in schäbigen Logierhäusern, wo sie vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein zu arbeiten hatte: Kamine zu scheuern, Betten zu machen, Zimmer zu reinigen, Speck und Eier zu fochen, Koteletts zu braten und so weiter. Sie war eines von jenen armen Londoner Mädchen geworden, denen Dinge wie Vergnügen oder auch nur Ruhe unbekannt sind, die, wenn sie sich auch nur auf einen Augenblick niedersetzen, um auszuruhen, sofort die scharfe Stimme ihrer Herrin bernehmen, die ihnen zuruft:" Nun, hast Du gar nichts zu thun, daß Du so faul dasigest?"" Zwei ihrer Herrinnen waren ausgepfändet worden, und im Augenblick war in der Nachbarschaft das Vermieten schwer. So brauchte denn jetzt gerade teiner eine„ Sklavin", und Esther war gezwungen, nach Hause zurückzukehren; und eben bei dieser letzten Gelegenheit war es gewesen, daß ihr Vater sie bei den Schultern faßte und rief:
,, Was, keine Logierhäuser mehr, die eine„ Sklavin" brauchen? un werde ich mich mal drum fümmern; sag' mir mal zuerst, vist Du in Nr. 78 gewesen?"
" Ja, aber eine andre war schon vor mir dagewesen und hat die Stelle bekommen."
„ Na, was zum Teufel hast Du denn zu thun gehabt, daß Du nicht früher hingehen konntest? Mußtest wahrscheinlich wieder um Deine Mutter herumtanzen? Und wie ist's mit Nr. 27?"
,, Da kann ich doch nicht hingehen. Diese Mrs. Dunbar ist eine schlechte Frau.
Schlechte Frau? Wer bist Du, möcht' ich wissen, daß Du so über Damen sprichst? Wer sagt Dir denn, daß sie eine schlechte Frau ist? Gewiß einer von Deinen frommen Brüdern! Na ja, das konnt' ich mir schon denken; nun aber mach' mal, daß Du aus meinem Haus rauskommst!" ,, Wohin soll ich denn gehen?"
"
Meinetwegen zum Teufel, was geht's mich an! Nun mal raus, hörst Du?"
Esther rührte sich nicht. Es folgten heftige Worte, dann Schläge; es war ein Wunder, daß Esther ihrem Stiefvater lebendig entfam, und seine Wut legte sich erst, als Mrs. Saunders versprach, daß Esther die Stelle bei Mrs. Dunbar annehmen würde.„ Nur für eine kurze Zeit," sagte sie zu ihrem Kinde.„ Vielleicht ist Mrs. Dunbar auch besser, als Du glaubst. Thu' es um meinetwillen, Liebchen; wenn Du es nicht thust, so bringt er uns beide um."
Esther überlegte, dann sah sie ihre Mutter an und sagte: Nun gut, Mutter, ich werde morgen die Stelle annehmen." Mrs. Dunbar engagierte sie sofort; bei ihr brauchte das Mädchen nicht mehr zu hungern und brauchte auch nicht so furchtbar zu arbeiten, daß bloß der Gedanke an den kommenden Tag sie schon mit Schrecken und Verzweiflung erfüllte; und als Mrs. Dunbar einsah, daß sie ein durch und durch gutes Mädchen an ihr hatte, respektierte sie auch ihre religiösen Strupel. Sie war sogar sehr gut zu Esther, und Esther hatte fie bald gern und dachte infolgedessen nicht mehr so viel nach über das lockere Leben, das ihre Herrin führte. Dies hätte ein gefährlicher Wendepunkt in Esthers Leben werden können; sie war jung, hübsch, müde und abgearbeitet, aber gerade in diesem Moment erschien Lady Elwin auf der Scene, eine Frau, die bei ihren Armenbesuchen Esthers Geschichte gehört hatte und ihrer Mutter versprach, eine andre Stelle für das Mädchen zu suchen; und um allen Schwierigkeiten bezüglich Zeugnis, Referenzen und so weiter vorzubeugen, erklärte Lady Elwin fich sogar bereit, Esther so lange in ihren eignen Dienst zu nehmen, bis sie mit gutem Gewissen das Mädchen weiter empfehlen könne. Auf diese Weise hatte Esther die Stelle eines Küchenmädchens in Woodview erhalten.
Und nun, während sie die Bücher in den Händen hielt, die Bücher, die sie nicht einmal lesen konnte, erfüllte die Ge
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schichte ihres traurigen Lebens ganz und gar ihre reine, leidenschaftliche Seele. Sie dachte an ihre armen kleinen Geschwister, an ihre Mutter, an den Tyrannen, der an ihnen seine Wut auslassen würde über das bißchen Essen und Trinken, das sie beanspruchen müßte, wenn sie zu Hause wäre. Nein, sie durfte nicht zurückgehen, fie mußte Beleidigungen und Verachtung geduldig ertragen, mußte vergessen, daß diese Dienstboten hier sie behandelten wie den Schmuß unter ihren Füßen. Was waren diese Leiden auch im Vergleich zu denen, die sie zu Hause würde ertragen müssen? So gut wie nichts, Und dennoch sehnte sie sich danach, Woodview zu verlassen. Sie war noch nie zuvor so weit von Hause entfernt gewesen, Sie hatte bisher noch immer in der Nähe ihrer Mutter und des Gebethauses gelebt. In Woodview aber hatte sie nichts, nur Margarete, die zu ihr hinaufgekommen war, sie zu trösten und zu überreden, wieder hinunterzukommen. Der Entschluß, dies zu thun, wurde ihr so schwer, daß er fast ihre Kräfte erschöpfte, und als sie wieder hinunterging, war sie völlig gleichgültig gegen das, was die andern sagen mochten.
*
Zwei, drei Tage vergingen, ohne daß sie erfuhr, ob das Schicksal ihr Hierbleiben oder ihr Fortgehen bestimmt habe. Mrs. Barfield war krank, und erst gegen Ende der Woche hörte Esther eines Tages, als sie in der Aufwaschküche beschäftigt war, eine neue, ihr noch unbekannte Stimme mit Mrs. Latch sprechen; dies mußte wohl Mrs. Barfield sein. Sie hörte, wie Mrs. Latch der Herrin erzählte, daß Esther sich am ersten Abend ihrer Ankunft geweigert hatte, an die Arbeit zu gehen. Mrs. Barfield jedoch erwiderte ihr, sie wünsche keine weiteren Klagen zu hören. Dies sei das dritte Küchenmädchen innerhalb vier Monaten, und Mrs. Latch müßte sich nun entschließen, die Fehler dieser letzten, welcher Art sie auch seien, zu ertragen; dann rief Mrs. Barfield Esther herein, und als diese die Küche betrat, befand sie sich einer kleinen Dame gegenüber, mit roten Haaren und einem hübschen fleinen, etwas spitzen Gesicht. ,, Wie ich höre, Waters so heißen Sie, nicht wahr?- haben Sie am Abend Ihrer Ankunft hier der Köchin den Gehorsam verweigert und sind aus der Küche gegangen, anstatt zu arbeiten."
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,, Nein, Ma'am, ich sagte nur, daß ich warten müßte, bis meine Siste vom Bahnhof herauffäme, damit ich mich umziehen könnte. Mrs. Latch sagte, meinem Kleide würde es nichts schaden, aber wenn man arm ist und nicht viel Kleider besitzt
" Fehlt es Ihnen an Kleidern?"
" Ich habe nicht viele, Ma'am, und das Kleid, das ich den Tag anhatte
,, Genug, genug davon! Ich frage, ob Sie ein Kleid brauchen; wenn das der Fall ist, so denke ich, meine Tochter könnte Ihnen wohl etwas schenken, Sie sind etwa von gleicher Größe, es könnte ja ein wenig geändert werden."
" Ma'am, wie gut Sie sind! Ich danke Ihnen tausendmal, aber ich denke, ich werde mich auch so behelfen können, bis ich meinen ersten Vierteljahrsgehalt erhalten habe."
Der ärgerliche Ausdruck auf Mrs. Latchs langem Gesicht vermochte nicht die Freude über diese kleine Unterredung mit der gütigen Mrs. Barfield in Esthers Herzen zu ertöten. Sie fühlte sich auf einmal ganz glücklich und sang leise vor sich hin beim Gemüsepuzen und Aufwaschen. Aber trotzdem war sie fest entschlossen, wie wenig Mrs. Latch sie auch leiden mochte, durch Gutmütigkeit den Groll im Herzen der alten Frau, den sie durch nichts verdient hatte, zu beseitigen. Margarete schlug ihr vor, sie sollte eine Zeitlang auf ihr Bier verzichten; ein reichlicher Liter extra pro Tag würde sicherlich, meinte sie, das Herz der alten Here erweichen und sie so rühren, daß sie Esther zeigen würde, Pasteten zu bereiten und Eingemachtes anzurichten.
Allerdings nahm auch Margarete teil an dem allgemeinen Spott, den Esthers tägliche Morgen- und Abendgebete in der ganzen Küchengesellschaft hervorriefen, mitunter verband sie sich sogar mit der Grover und Sarah, und sie richteten die verwirrendsten Fragen an Esther bezüglich ihrer früheren Stellungen und ihres früheren Lebens; ihre Feindseligkeiten waren aber nie schlimmer Natur, und Esther selbst sah ein, daß diese fast neutrale Stellung die vernünftigste