Nnterhallungsblatt des Horwärls Nr. 70. Freitag, den 8. April. 1904 (Nachdruck verboten.) 371 Bftber Tlaters. Roman von George Moore . Ein sechzehnjähriges Mädchen, das mit Schritten, fast wie ein kleiner Mann, daherging, kreuzte die Straße. Sie hielt die linke Hand in der Tasche ihres roten Kaschmir - kleides verborgen, um die Schultern trug sie einen perl- benähten Umhang, und ihr herabhängender Zopf war mit einem roten Bande zusammengebunden. Dicke Weiber gingen vor ihr her, deren feucht-schwimmende Augen die vorher- gehenden Männer begehrlich und auffordernd ansahen. Der dicke Loafer, der Wirtshäusler, ein Mann von fünfzig Jahren mit Hakennase und blankgewichstem Schnurrbart, stand vor der Thür des Restaurants und musterte die vorübergehenden Frauen. Zwei junge Männer schwankten halb betrunken auf dem Pflaster vor Esther einher. Die Thüren der public bcnwks standen sämtlich offen, und man sah die Männer und Frauen mit roten, aufgedunsenen Gesichtern darin umher- stehen und sihen. lind diese ganze bunte Menge bewegte sich langsam, faul und indolent vorwärts. Der einzige eilige Passant in dieser Gegend war der glattrasierte Schauspieler, der nach seinem Theater hineilte. Dies war das wahre London des Themse -llfers. Das London der Theater, der Music Halls , der Destillationen und der Wirtshäuser. Die blasse Abendluft schwebte geheimnisvoll über diesem ganzen Leben und Treiben, und die Menschen bewegten sich darin herum wie träge Fliegen oder wie Leute, die nichts zu thun haben, als hier in den Straßen planlos umherzuwandern. Von Zeit zu Zeit erschienen handfeste Schubleute auf der Bild- fläche, welche ganze Gruppen zerlumpter Jungen und lieder- licher Mädchen in grobem Tone zum Weitergehen aufforderten. Nach dem gegenseitigen Austausch einiger Grobheiten ver- schwanden diese dann in den benachbarten Straßen. «i- Plötzlich sah Esther ein bekanntes Gesicht, welches auf sie zukam. Es war Margarete Gale. Sie blieb stehen. „Wie? Du, Margarete?" „Ja, ich bin's! Aber was thust Du denn hier? Hast Du's satt, in Stellung zu sein? Komm, wir wollen was trinken gehen." „Nein, nein, Margarete! Ich freue mich nur, daß ich Dich gesehen habe, aber ich muß mich eilen, daß ich meinen Zug nicht versäume." „Ach nein, das geht nicht," sagte Margarete und hielt sie am Arm fest,„wir müssen ein Glas miteinander trinken." Esther fühlte wohl, daß, wenn sie jetzt nicht bald etwas zu sich nähme, sie sicher in Ohnmacht fallen würde. Sie folgte Margarete daher in ein nahes Wirtshaus, in welchem diese, vertraut mit den Räumlichkeiten, ein ruhiges Eckchen auf- suchte. Als beide dort eingetreten waren, erschrak sie über die Blässe auf Esthers Antlitz. „Was fehlt Dir?" fragte sie. „O nichts, ich bin nur ein bißchen matt: ich habe den ganzen Tag über nichts gegessen." „Schnell, schnell," rief Margarete dem Kellner zu. „Branntwein und Wasser"— und einen Augenblick später hielt sie das Glas ihrer Freundin an die Lippen. „Den ganzen Tag über nichts gegessen? Dann wollen wir jetzt etwas zusammen nehmen. Ich bin auch ein bißchen hungrig"— und wieder rief sie dem Kellner zu: „Zwei Würste, Brot und Butter." Während die Mädchen aßen und tranken, plauderten sie miteinander. Margarete erzählte Esther von ihrem Unglück. Die Familie Barfield war ruiniert. Sie hatten Unglück beim Nennen ge- habt und hatten alle ihre Dienstboten entlassen müssen. Dann war Margarete nach London gekommen. Sie war hier schon in mehreren Stellungen gewesen. In einer hatte der Herr ihr nachgestellt, und seine Frau hatte sie Hals über Kopf hinausgeworfen. Was sollte sie nun thun?� Darauf erzählte ihr Esther, wie sie in jenem Hause durch den Sohn ihre Stelle verloren hatte. „Ja, es ist ein reines Pech!" sagte Margarete—«je besser man sich benimmt, um so schlechter wird man behandelt, und ein Mädchen, das immer in Stellung bleibt, hat schließlich, wenn sie alt wird, nicht so viel in der Tasche, um sich Sonn- tags ein Mittagsessen gönnen zu dürfen." Sie gingen wieder aus dem Wirtshaus aus die Straße hinaus. Margarete begleitete Esther noch bis nach Wellington Street. „Weiter kann ich nicht mit Dir gehen, ich wohne ganz auf der andern Seite, in Stamford Street. Wenn Du's aber mal satt hast, in Stellung zu gehen, so komm doch zu mir. Es giebt dort ganz anständige möblierte Zimmer." Das gute Wetter war vorüber, und schlechtes war ein- getreten. Unter einem triefenden Regenschirm wanderte Esther jetzt von einer Straße Londons zur andern. Ihre feuchten Röcke klebten an den Füßen, und ihre Stiefel waren schwer von Nässe und Straßenschmutz. Der Wechsel im Wetter schien ihr unheilvoll zu werden. Denn um eine gute Stellung zu bekommen, hängt so viel von der äußeren Erscheinung eines Mädchens ab und von ihrem freundlichen Wesen— und es ist schwer, sauber und freundlich auszusehen nach einem viel- leicht anderthalbstündigen Spaziergang in Regen und Schmutz. Eine Dame sagte Esther, daß sie großen Dienstmädchen den Vorzug gäbe: eine andre erklärte, niemals hübsche Dienst- mädchen ins Haus zu nehmen; und eine andre Stelle, die gut gewesen wäre, verlor sie durch die unbedachte Antwort, daß sie zu einer Sekte gehöre. Diese Dame wollte von Sekten nichts wissen. Dam: kamen die Enttäuschungen, die die Briefe in ihr hervorriefen, welche sie von Leuten bekam, die sie wahrscheinlich engagiert haben würden, die aber, als sie hinkam, ihr sagten, es thäte ihnen leid, aber sie hätten schon eine andre engagiert. Eine weitere Woche verging, und Esther begann ihre Kleider ins Pfandhaus zu tragen, um nur genug Geld in der Tasche zu haben für ihre Fahrten durch London und die Brief- marken, die sie im Bureau zurücklassen mußte. Sie blickte nun schon gänzlich hoffnungslos in die Zukunft und konnte nachts keinen Schlaf mehr finden, von dem bedrückenden Gc- danken gequält, daß der Kleine und sie ins Armenhaus gehen müßten. Viel länger konnten sie bei Mrs. Lewis nicht bleiben. Mrs. Lewis war sehr gut zu ihnen gewesen, aber Esther schuldete ihr schon seit mehr als zwei Wochen die Bezahlung. Was sollte sie thun? Wohl hatte sie schon von Wohlthätigkeitsanstalten gehört, aber sie war ein unwissendes Mädchen und hatte keine Ahnung, wie sie es anfangen sollte, dort Hilfe zu erlangen. O, ein wenig, nur ein ganz klein wenig Geld! Der Gedanke machte sie sast wild. Stur genug, um leben zu können, bis die Leute in die Stadt zurückkehrten! Eines Tages kam Mrs. Lewis, die täglich die Zeitung für sie las, zu ihr und zeigte ihr eine Annonce, welche ihrer Meinung nach vielversprechend aussah. Esther zählte die wenigen Kupfermünzen durch, die ihr aus dem Erlös ihres letzten Kleides noch geblieben waren. „Ach," sagte sie,„ich fürchte, es wird auch nicht mehr sein als die andern, ich habe eben kein Glück mehr." „So dürfen Sie nicht sprechen," sagte Mrs. Lewis,„nur nicht den Mut verlieren: ich stehe Ihnen bei, solange ich irgend kann!" Die beiden Frauen fielen einander in die Arme und weinten sich tüchtig aus, und dann gab Mrs. Lewis Esther den Rat, die Stelle anzunehmen, auch wenn sie nicht mehr als sechzehn Pfund einbrächte. „Mit immerwährendem Sparen kann man doch aus- kommen." sagte sie,„und wenn Sie ein paar abgelegte Kleider kriegen und zehn Schilling zu Weihnachten, sehe ich gar nicht ein, warum es nicht gehen sollte. Ehe Sie nicht eine Stelle als Köchin kriegen, will ich nicht mehr als fünf Schilling für den Kleinen haben. So, und hier ist die Adresse: Miß Rice, Avondale Road, West Kensington." XXIl. Avondale Road war eine etwas versteckte und noch ziem- lich unbekannte Straße der Vorstadt, unbekannt, weil sie eben erst entstanden war. Die Bretter von den Gerüsten, welche
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21 (8.4.1904) 70
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