Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 92.

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Dienstag, den 10. Mai.

( Nachdrud verboten.)

Efther Waters.

Roman von George Moore .

XXXVIII.

Sonntag, gleich nach Tisch, hatte Esther beabsichtigt, nach East Dulwich zu fahren, um Mrs. Lewis zu besuchen; aber gerade als sie die Thür hinter sich abschließen wollte, sah sie Sarah die Straße heraufkommen.

Ah, ich sehe, Du willst ausgehen."

" Das macht nichts; tomm immerhin wenigstens auf einen Augenblid herein."

,, Nein, danke; ich will Dich lieber nicht aufhalten. Welchen Weg gehst Du? Vielleicht können wir ein Ende zusammen­gehen."

Sie gingen zusammen Waterloo Place hinab und dann die Pall Mall hinunter. Auf Trafalgar Square fand gerade eine Volksversammlung statt, und Sarah mußte das alles not­gedrungen mit ansehen und war gar nicht vom Fleck zu kriegen, so daß, als sie endlich an Charing Croß anlangten, Esther fand, daß sie gar nicht mehr rechtzeitig nach Ludgate Hill kommen könnte, um ihren Zug zu erwischen.

Sarah bedauerte dies sehr, aber es war nun nicht mehr zu ändern. Da jedoch in dem Embankment Gardens eine Musikkapelle spielte, schlug sie vor, sich dort hinzusetzen und ein wenig zuzuhören. Um sie herum ragten die vielen Riesen­hotels mit ihren zahllosen Fenstern und Balkons gen Himmel empor. Es hatte am Morgen geregnet, und die Frauen mußten die Bänke erst mit ihren Taschentüchern abtrocknen, Bevor sie sich setzen konnten. Eine ganze Menge Arbeitsleute mit ihren Frauen und Kindern waren dort und hörten der Musik zu. Aber Esther langweilte sich; die schmetternde Blech­musik klang in der öden Stille des grauen Londoner Sonntags dumm. Auch Sarahs Geschnatter war nichts weniger als amüsant, und Esther wunderte sich bloß, wie man über nichts und wieder nichts so viel reden konnte, und bedauerte mehr und mehr, daß sie ihren Besuch in Dulwich nicht hatte machen können. Plöglich wurde im Laufe der Unterhaltung Bills Namen erwähnt, da begann das Gespräch ein wenig effant zu werden.

1904

eine hohe, steinerne Treppe hinan und kamen durch einen zweiten Bogen in den Strand hinein.

,, Es ging mir ja, weiß Gott , schlecht genug, solange ich bei ihm war," sprach Sarah weiter." Wir hatten fast niemals genug zu essen, aber ohne ihn fühle ich mich fast noch elender. Ich weiß, Esther, Du wirst mich auslachen; aber mein Herz ist schon halb gebrochen ich kann nicht ohne ihn leben- ich

tönnte für ihn alles thun, was er von mir verlangte."

„ Das verdient er aber gar nicht."

wirklich zu lieben; das weiß überhaupt nur eine Frau, wenn Das ist ja ganz egal; Du weißt eben nicht, was es heißt, sie einen Mann wahnsinnig geliebt hat, der sie nicht wieder­liebte. Hier in dieser Nähe haben wir mal gewohnt. Ist es Dir recht, wenn wir durch Drury Lane gehen? Ich möchte Dir das Haus zeigen, in dem wir gewohnt haben."

" Ich fürchte, das wird ein großer Umweg für uns sein." " nein, das wird es nicht; wir gehen um die Kirche herum und dort die Newcastle Street hinauf. Sieh, da ist so ' ne kleine Kneipe, in die gingen wir manchmal hinein. Da aßen wir dann Würste mit Zwiebeln und tranken ein Glas Branntwein dazu.

heute in die Straße hinausgespien. Große Mädchen, mit Sämtliche Höfe und Sackgäßchen hatten ihre Bewohner Tüchern um die Schultern, saßen in den Hausthüren und hielten kleine Babies im Arme. Alte Frauen kauerten auf den ausgetretenen steinernen Stufen; kleine Mädchen spielten Ball oder sprangen Seil auf dem schmalen Trottoir.

Einige Schritte weiter hinauf hatte ein Verkäufer seinen kleinen Verkaufswagen mit Gefrorenem aufgestellt und nahm sämtliche Pennies dieser armen Bevölkerung für seine schlechte Ware entgegen.

Esther und Sarah kamen jetzt auf einen elenden, halb verfallenen Platz, auf welchem zwei Familien aus ihren re­spektiven Wohnungen im dritten Stockwerk heraus quer über die Straße hinüber verschiedene streitige Angelegenheiten in schreiendem Tone erörterten.

"

,, Hier haben wir gewohnt," sagte Sarah und wies auf den dritten Stock eines der Häuser hinauf. Wenn ich da hinaufsehe, überkommen mich alleinal die alten Erinnerungen. Uebrigens sieht das Haus aus, als ob es bald einstürzen könnte. Dort drüben in jener Straße mußte ich mal ein gutes Kleid inter- verseßen gehen, weil Bill was zu trinken haben wollte, und man gab mir nur einen Schilling darauf und siehst Du dort jenen Laden? Na ja, er ist heute zu es ist Sonntag,- das ist so' ne Art Fleischerladen er hat billiges Fleisch, Leber und Eingeweide und Lungen und solche Sachen; wenn wir Geld genug hatten, lief ich immer dort rüber und kaufte ein bißchen Fleisch und schmorte es dann zusammen mit Kartoffeln; das hat uns dann prächtig geschmeckt, kann ich Dir sagen!"

" Ich dachte, Du wolltest ihn nie mehr wiedersehen; Du hattest es uns fest versprochen."

-

,, Es war ja auch nicht meine Schuld; es war eben ein reiner Zufall. Eines Tages, als ich noch mit Annie das ist das neue Hausmädchen bei uns von der Kirche zurück­fam, bin ich ihm begegnet, und er hat mich angesprochen." ,, Und was hat er gesagt?"

„ Er sagte:„ Na, wie geht's Dir denn? Wer hätte ge­dacht, daß wir einander noch mal begegnen würden!"" ,, Und was sagtest Du darauf?"

Sarah sprach so freudig und unablässig weiter von sich selbst; und Esther hatte weder Lust noch Mut dazu, sie zu unterbrechen. Aber sie erinnerte sie daran, daß es Zeit wäre, Ich sagte, ich wollte nichts mehr mit ihm zu thun haben. endlich weiter zu gehen. Sie gingen durch Catharine Street, Annie war gleich vorausgegangen, und er blieb an meiner dann durch Eudel Street, dann um die St. Gileskirche herum Seite und sagte, es thäte ihm sehr leid, daß er damals sound famen endlich in das Labyrinth von Soho zurück. so gewesen sei; es war nur eben gekommen, weil er gerade so viel Pech gehabt hatte."

Το

Und das hast Du ihm geglaubt?"

" Ja; es ist dumm von mir, nicht wahr? Aber ich kann wirklich nichts dafür. Hast Du schon mal einen Mann wirk­lich geliebt?"

Ohne auch nur auf eine Antwort auf diese Frage zu warten, fuhr Sarah fort, weiter zu schnattern. Sie hätte ihm gefagt, er dürfte nicht mehr zu ihr kommen; aber sie meinte Soch, es thäte ihm jetzt leid, daß er so zu ihr gewesen war. Sie erwähnte auch, daß er fort gewesen wäre, auf dem Lande irgendwo, und daß er sehr viel Interessantes ausgefunden hätte bezüglich eines neuen Pferdes für den Cesarewitchpreis wenn das Pferd gewänne, würde er wieder obenauf sein. Esther verlor endlich die Geduld.

Es wird spät," sagte sie und blickte gen Westen, wo die Sonne bereits zu sinken begann. Die Wellen im Flusse plätscherten leise, und ein leichter, kühler Abendwind hatte sich erhoben, so daß die beiden Frauen fröstelten, als sie unter dem Bogen der Waterloobrücke hindurchschritten. Dann stiegen sie

Ich fürchte, ich habe Dich müde geschwaßt," sagte Sarah. „ Alles, was ich Dir da erzählt habe, fann Dich kaum inter­essieren."

„ Ach- wir kennen uns nun schon so lange," erwiderte Esther ruhig.

Sarah blickte sie von der Seite an, und dann, unfähig der Versuchung zu widerstehen, fuhr sie fort zu plaudern. Bill hätte dies gesagt, sie hätte jenes gesagt, und so weiter.

So schwatte sie in einem fort, bis sie endlich an der Ecke von Old Compton Street anlangten.

Esther, die des öden Geschwätzes nun wirklich müde war, reichte ihr die Hand zum Abschied hin.

Du mußt wohl nun auch nach Hause zurück; willst Du noch erst ein Gläschen trinken?"

„ Es geht zwar schon auf sieben, aber da Du so gut sein willst, ja, ein Glas Bier nehme ich gern an."

Bist Du immer dabei, wenn hier abends gewettet wird?" fragte Sarah, als sie Abschied nahm.

" Ich achte nicht viel darauf, aber natürlich hört man doch so mancherlei."