Anterhattungsblatt des vorwärts Nr. 104. Sonntag, den 29. Mai. 1904 (Nachdruck verboten.) 70 Bfthcr Maters. Roman von George Moore  . Esther sah Jack eine ganze Weile an, ohne zu sprechen; dann plötzlich fiel ihr Mrs. Barfield ein. Möglicherweise war Mrs. Barfield eben mit ihrer Tochter unten im Süden; aber vielleicht tvar sie auch jetzt gerade in Woodview! Wenn sie in Woodview wäre, so war Esther ganz sicher, daß sie ihr ihre Hilfe nicht verweigern würde. So diktierte Esther.ihrem Sohne denn einen Brief an Mrs. Barfield; und bevor sie noch so recht eigentlich auf estie Antwort gerechnet hatte, kam schon ein Brief von Mrs. Bar- field, in dem sie schrieb, daß sie sich Esthers vollkommen er­innerte. Sie wäre soeben vom Süden zurückgekehrt, wäre ganz allein m Woodview und brauchte einei: treuen Dienstboten. Wenn Esther Lust hätte, könnte sie die Stelle haben und sofort antreten. Sie legte dem Brief eine Fünfpfundnote bei und hoffte, daß das Geld Esther in stand setzen würde, London   sofort zu verlassest und zu ihr zu kommen. Aber diese plötzliche Rückkehr in frühere, altbekannte Ber- Ihältnisse erfüllte Esthers Seele mit seltsamer Unruhe; als sie jicht so dahinschritt, erkannte sie den hohen, dünnen Kirchturm hinter den Bäumen; und die wellenförmigen Hügel, die sich bis zum Meeresufer hinabzogen, erweckten schmerzliche Er- innerungen in ihr. Sie wußte, daß sie nun bald das weiße Gitter erreicht haben mußte, aber sie konnte sich nicht mehr genau der Stelle erinnern, wo es war. Sie hatte irrtümlich den Weg nach links anstatt nach rechts eingeschlagen und mußte wieder zurückgehen. Die Angeln des Gitters waren ver- rostet, und es wurde ihr schwer, es überhaupt zu öffnen. Das kleine Häuschen, in dem der blinde Thorhüter gesessen und die Flöte gespielt hatte, war st'st verschlossen. Der Zaun, der den Park von den Feldern und Wiesen trennte, war zum Teil zerfallen, und Herumirreude Schafe und Ziegen hatten die hohen Sträucher, die es verdeckt gehabt hatten, längst vbge- fressen. Und eine große, vom Blitz getroffene Buche hatte in ihrem Fall ein weiteres Stück des Zaunes mit umgerissen; aber es war nichts ausgebessert worden; die Stücke des Zaunes lagen überall herum und der mächtige Baumstamm lag un- berührt da. Als sie an dem eisernen Gitter unter dem überhängenden Jmmergrünbogen ankam, blieb sie einen Moment stehen. Hier war sie William zum erstenmal in ihrem Leben begegnet; hier hatte er sie an den Ställen vorbeigeführt und ihr gezeigt, wo Silberschwanz stand. Sie mußte an die vielen Pferde denken, die sie hier hatte vorbeiführen sehen, die Hufklänge tönten ihr noch förmlich in den Ohren. Jetzt aber herrschte Schweigen rings umher. Viele der Dächer an den Schuppen und Ställen waren eingefallen, und Bretter und Trümmer füllten einen großen Teil des Hofes an. Sie erinnerte sich, wie sie damals durch die von der sinkenden Junisonne hell bestrahlten Küchen- fenster hindurch den großen, weißen Küchentisch und die uni ihn sich herumbewegenden, zierlich und sauber gekleideten Dienstmädchen gesehen hatte. Jetzt aber waren sämtliche Läden an diesen Fenstern geschlossen, nirgends ein Licht zu erblicken; der Klopfer war von der Thür verschwunden, und sie fragte sich im Stillen, wie sie wohl eigentlich hineinkommen sollte. Sie hatte fast Furcht, sie wußte selbst nicht wovor. Sie hatte fast Furcht, Mrs. Barfield gar nicht einmal hier zu finden. Sie bahnte sich mühsam einen Weg durch das Gestrüpp hin- durch und stolperte öfters iiber gefallene Acste und Baum- stämme. Aus den Jmmcrgrünzweigen stiegen Vögel in raschem Fluge empor, erschreckt durch die ungewohnte Nähe eines Menschen; ihr Herz hörte fast auf zu klopfen vor Furcht und Beklemmung, und sie wagte kaum, weiterzugehen. Endlich war sie auf dem freien, grünen Platze vor dem Hause angelangt. Sie überschritt ihn, ging zur Thür hin und suchte angswoll nach der Klingel. Auch der Klang derselben erfüllte sie mit Schrecken. Er tönte so schwach und doch zugleich so schrill durch das große, verödete Haus. Endlich näherten sich Fußtritte und ein Licht der Thür; hie Kette wurde zurückgezogen, die Thür ein wenig geöffnet, und eine Stimme fragte, wer da sei. Esther nannte ihren Namen; da wurde denn die Thür völlig geöffnet, und sie stand ihrer alten, früheren Herrin gegenüber. Mrs. Barfield stand da, das Licht in der hocherhobenen Hand, so daß sie Esther sehen konnte. Esther erkannte sie sofort wieder. Sie hatte sich nur wenig verändert: sie hatte ihre prachtvollen weißen Zähne und ihr mädchenhaftes Lächeln von früher noch immer. Das dünne, etwas spitzige Gesicht hatte sich in seinen Umrissen kaum verändert, aber das rötlichblonde Haar war so dünn geworden, daß es auf der Seite gescheitelt werden mußte, um nur den Schädel einigermaßen noch zu bedecken; die Gestalt aber war noch genau so zart lind beweglich wie in früheren Jahren. Esther hatte alles dieses init einem einzigen Blick er» faßt, und Mrs. Barfield hatte gleichfalls mit einem Blick be- merkt, daß Esther bedeutend stärker geworden war. Ihr Gesicht war angenehm anzusehen, denn sie hatte jenen Ausdruck der biederen, derben Natürlichkeit, der stets ihr größter Reiz ge» Wesen war, behalten. Sie war jetzt der echte Typus der kräftigen, untersetzten Arbeiterfrau von vierzig Jahren und stand nun da, etwas verlegen, beide Hände in die Taschen ihrer fadenscheinigen Jacke versenkt. Wir wollen die Kette wieder vorlegen," sagte Mrs. Bar- field,denn ich bin ganz allein im Hause." Haben Sie denn gar keine Furcht, gnädige Frau?" Ein bißchen schon, aber dn lieber Gott, es giebt bei mir nichts mehr zu stehlen. Ich habe den Schutzmann gebeten, auf das Haus gut aufzupassen. Kommen Sie in die Bibliothek, Esther." Wie im Traume folgte Esther ihrer Herrin. Da war alles ganz unverändert; da war der große, runde Tisch, das kleine, grüne Sofa, das Klavier, der Papageienkäfig und die leeren, gelben Bücherschränke; und plötzlich schien ihr halbes Leben gleichsam hinter ihr zu versinken, und es schien ihr, als wäre es erst gestern gewesen, daß sie in das Zimmer zu ihrer Herrin beschieden worden war, um ihr Geständnis abzulegen. Es schien wie gestern, und doch waren fast achtzehn Jahre seitdem vergangen! Aber diese Jahre erschienen ihr jetzt in der That wie ein Traum; ein Traum, in dem die verbindenden Glieder fehlten; und wie gestern stand sie da in dem alten Zimmer, ihrer alten Herrin gegenüber, Auge in Auge mit ihr. Es ist kalt, Esther; möchten Sie nicht eine Tasse Thee  trinken?" O, gnädige Frau, für mich! Das ist ja ganz caal." Nein, gar nicht; es macht ja auch keine Mühe; ich möchte selbst eine Tasse haben. Das Feuer in der Küche ist zwar schon ausgegangen; wir können aber den Thee auf Spiritus bereiten!" Sie gingen durch die wohlbekannte grüne Thür den Korridor hinunter. Mrs. Barfield zeigte Esther, wo die Küche. die Speisekammer und die Vorratskammer sei. Esther aber entgegnete, daß sie sich ganz gut auf allys das besänne. Darauf sagte Mrs. Barfield; Also haben Sie Woodview nicht vergessen, Esther?" O nein, gnädige Frau; es ist mir gerade so, als hätte ich es erst gestern verlassen aber ich fürchte, es ist etwas feucht in der Küche, gnädige Frau; die Kochmaschine sieht sehr ver» nachlässigt aus." Ah ja, das glaub' ich; Woodview ist nicht mehr das« was es war!" Stundenlang saßen sie an dem Abend noch plaudernd zu- sammen. Mrs. Barfield erzählte Esther, wie sie ihren Mann auf dem kleinen Kirchhof hinter der alten Dorfkirche begraben hatte. Ihre Tochter hatte sie nach Aegypten   gebracht, dort lange mit ihr gelebt und sie allmählich dahinschwinden sehen: bis kaum noch mehr als ein Gerippe von ihr übrig war, das man schließlich eines Tages ins Grab legte. Ja, gnädige Frau, ich kenne das; ich habe es selbst mit angesehen: das ist'ne Krankheit, die den Menschen Zoll für Zoll hinwegrafft. Mein Mann ist auch an der Schwindsucht gestorben." Der Abend war lang, ein Wort gab das andre, und nach und nach erzählte Esther Mrs. Barfield die Geschichte ihres ganzen Lebens, von dem Tage an, da sie einander in diesem felben Zimmer, in dem sie jetzt saßen. Lebewohl gesagt hatten. Das ist ja ein völliger Roman, Esther l"