Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 106.

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Mittwoch, den 1. Juni.

( Nachdruck verboten.)

Im Vaterbause.

Socialer Roman von Minna Kautsky  .

1. Kapitel.

Groß- Wien war geschaffen. Die Linienwälle, welche die Stadt von den Vororten trennten, waren aufgehoben, aber noch nicht reguliert worden. Sie verblieben in einem provisorischen Zustande, in dem eine unglaubliche Verwilderung Plaz griff. Die alte Hungelbrunngasse, die von der Hauptstraße eines aristokratischen Viertels geradeaus nach dem Wall führt und ihren, der Sage entnommenen Namen, seither in einen fürst­lichen vertauscht hat, zeigte nur auf einer Seite eine Reihe Kleiner, einstödiger Häuser. Die andre war von einem Bretter­zaun eingesäumt, hinter dem sich das Terrain jählings ver­tiefte.

Der fette Lehmboden war hier in weitem Umkreise ab­gegraben und die daraus gewonnenen Ziegel gleich an Ort und Stelle gebrannt worden.

Jahre hindurch waren hier, etwa zwanzig Minuten von der Ringstraje entfernt, die Ziegeleien Tag und Nacht in Be­trieb gestanden, und was da dem Boden entnommen wurde, hatte ein so tiefes Loch zurückgelassen, daß die Schlote der Brennereien weit unter dem Straßenniveau sich befanden.

Jezt war dieser Betrieb eingestellt worden. Es war schier nicht möglich, den Boden weiter auszubeuten, da man auf Wasser gekommen war, und die Besizer gedachten ihn nun in andrer Weise nußbringend zu verwerten.

Auf den neugeschaffenen Stadtplänen von Groß- Wien waren hier breite Straßenzüge vorgezeichnet, die sich um einen neuanzulegenden Park gruppierten.

Aber die Regulierung der Wälle ließ auf sich warten. Ein Jahr um das andre verging, und auf dem weiten, wüsten Terrain, das zum Ablagerungsort für Schutt und Kehricht ausersehen ward, wuchs Gras, zur großen Freude aller Proletarierfinder der Umgebung, die damit einen Spiel­platz gewonnen hatten, nach dem sich nie ein Aufseher verirrte, und der somit ihre ureigenste Domaine geworden war.

Es war ein heller Sonntag im Mai 1892, die Sonne meinte es gut und sandte um die Mittagsstunde so glühende Strahlen hernieder, als wären die Hundstage schon an­gebrochen. Ein schwerer Dunst war über der Stadt gelagert, hier aber, auf ihrem höchstgelegenen Punkt, wehte vom Schnee­berge her, über die Höhen des Laaerberges und die grünenden Felder ein frischerer Hauch, der den Duft der jungen, auf­sprießenden Frühlingssaaten mit sich führte. Wall und Straße waren um diese Zeit wie ausgestorben.

In dem letzten Hause der Hungelbrunngasse, das, nach dem Walle zu, mit seiner Feuermauer die Ecke bildete und die Nummer 36 führte, fiel ein mächtiger vergoldeter Schlüssel in die Augen, der über dem Hausthor als Wahrzeichen an­gebracht war, und, von der Sonne beschienen, weithin er glänzte. Es war das Haus des Schlossermeisters Joseph

Schönbrunner.

Er bewohnte mit seiner Familie zwei Zimmer des ersten Stockes; die Werkstatt befand sich im Souterrain, zugleich mit der Kammer, in welcher der Gehilfe und die Lehrjungen schliefen.

Heute ruhte die Arbeit.

Das alte, einstöckige Haus, mit neun Fenstern in der Front, an denen die Jalousien herabgelassen waren, lag still, weiß und ruhig im Mittagssonnenschein.

Das Hausthor stand zur Hälfte offen, und durch den Flur und den kleinen, im Hausschatten liegenden Hof erblickt man die hellgrünen, in Blüte stehenden Bäume des Gärtchens. Im Hofe spielten einige Kinder, ohne viel Lärm zu machen.

Der Hausherr litt es nicht, daß die Proletarier, die, dicht zusammengedrängt, die Parterrewohnungen inne hatten, ihn und die schönen Parteien, die er im ersten Stock hatte, irgendwie belästigten. Zu diesen gehörte der Maler Gustav Witte mit Frau und Töchtern.

Seit fünfzehn Jahren war Herr Witte als Maler und Dessinzeichner in der Gutmannschen Teppichfabrik angestellt

1904

und erfand die schönsten, gangbarsten Muster, die sich all­gemeiner Beliebtheit erfreuten.

Der Mann verdiente ein hübsches Geld, aber er war an­spruchsvoll und liebte es, sich flott auf den Künstler hinaus­zuspielen.

Als schöne Partei zahlte er den Zins vierteljährig, aber nicht immer pünktlich. Dann pflegte Frau Witte zum Haus­herrn zu kommen und de- und wehmütig um Geduld und Nachficht zu bitten, die ihr gewährt wurde, da er, wie er galant behauptete, einer so hübschen Frau nichts abschlagen könne.

Seinen kleinen Parteien gegenüber, die verhältnismäßig am teuersten wohnten, fühlte er sich indessen frei von solchen Schwächen. Da kassierte er wöchentlich selbst den Zins ein, und wehe, wenn die Kreuzer nicht richtig und voll beisammen waren, da duldete er keine Schlamperei.

ständigen Wechsel, ein ewiges Aus- und Einziehen. Bei den kleinen Wohnungen gab es denn auch einen be­

Die verschiedensten Leute mit den verschiedensten Erwerbs­thätigkeiten lösten einander ab, aber es kam selten was Besseres nach, wie der Hausherr brummend versicherte.

Sie waren Proletarier alle miteinander, und was sie be­lohnten, nebst einer Unmasse von Kindern. saßen, war ein Schund von Möbeln, die eine Pfändung nicht

Diese Leute wußten recht gut, daß sie für einen Haus­befizer keine empfehlenswerten Eigenschaften besaßen, und sie thaten daher ihr möglichstes, um ihn mit ihrer Gegenwart zu versöhnen. Die Kinder waren stets bereit, für die Hausfrau unentgeltliche Botengänge zu machen, und wenn Herr Schön­brunner, der ein stattlicher Vierziger war, an Sonntagen in Gala sich zeigte, tamen sie alle herzugelaufen, um ihm die Hand zu küssen.

Er nahm es mit lächelndem Behagen entgegen.

Er besaß selbst so großen Respekt vor Geld und Besitz, und nur davor, daß er Unterwürfigkeit von Leuten, die weniger brunner war eine herrische, rechthaberische Natur. als er oder gar nichts besaßen, natürlich fand. Joseph Schön­

hatte er doch Verstand und ein scharfes Auge für die Schwächen Beschränkt und in den engsten Vorstellungen befangen, der andern.

Das sicherte ihm ein großes Uebergewicht über seine Umgebung und war geeignet, die hohe Meinung, die er von feinen eignen Fähigkeiten besaß, immer mehr zu befestigen. ,, Es ist merkwürdig," pflegte er zu sagen, daß ich immer alles weiß, daß ich halt immer recht hab'- ich täusche mich nie, ich sehe alles voraus."

Im Wirtshause führte er das große Wort, denn er besaß die Gabe der Rede und eine gewisse Schlagfertigkeit, die oft roh und geschmacklos, doch nicht ohne Humor war, und die Lacher auf seine Seite brachte.

So wie er war, imponierte er dem Kreise, in dem er lebte, ganz ungemein. Er war in den Bezirksausschuß gewählt und kandidierte für den Gemeinderat. Er war überzeugt, daß er gewählt würde, und auch seine Freunde zweifelten nicht daran. ein Haustyrann war und von den Seinen den unbedingten Daß er bei dieser wunderbaren Veranlagung und Bedeutung. Gehorsam heischte, ist selbstverständlich.

Sein Sohn Emil sah zu dem Vater wie zu einem höheren Wesen empor und überließ es ihm getrost, über seine Zukunft zu entscheiden. Und die Gattin war von vornherein zur Demut und Unterwürfigkeit dressiert und darin erhalten worden. Wie hätte sie es auch wagen dürfen, den Mund gegen ihn aufzuthun. Herrgott! was war er und was war sie!

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Er würde anders dastehen, wenn er ein reiches Mädchen geheiratet hätte. Ein Prachtkerl wie er hätte unter ihnen die Auswahl gehabt.

Aber er hatte das arme Ding genommen, und zwar aus dem dümmsten Grunde, bloß weil sie ein rosiges Gesicht und einen üppigen Leib hatte.

Nun, er hatte damit einen Beweis von Uneigennütigkeit und Großmut gegeben, der ihm ausreichend schien für sein ganzes Leben.

Er versäumte nicht, dies Faktum sich und seiner Frau bei jeder Gelegenheit in Erinnerung zu bringen, aber es fam ihm vor, als ob sie das Opfer nicht in seiner ganzen Größe au würdigen vermöchte.