Unterhaltungsblatt des VorwärtsNr. 139.Sonntag, den 17. Juli.1904(Nachdruck verboten.)stl Im Vaterdause.Socialer Roman von Minna K a u t s k y.Paul hatte ireben Tini Platz genommen.„Es ist das reizendste Kostüm, das ich kenne. Es der-langt einen tadellosen Wuchs, einen schönen Busen, und einengeschickten Schneider trotz alledem. Ich hoffe, Sie werdenuns mit all diesen Vorzügen in angenehmster Weise bekanntmachen."„Geben Sie ihm keine Antwort auf diese Unverschämt-heit," grollte der Baron.„Papa als Pädagoge, das ist köstlich!"„Warum nicht? Jedenfalls erzieht man fremde Kinderbesser, als seine eignen."„Eine späte Erkenntnis." höhnte Paul.r„Hier wird sie rechtzeitig zur Anwendung kommen."Paul erhob sich.„Ich gratuliere, mein Fräulein, Sie sind in den bestsnHänden."Es war serviert. Gott sei Dank, dachte jeder.In dem großen Speisesaal, im Stile der Renaissauce, aneiner herrlich, mit peinlichster Sorgfalt gedeckten Tafel, die imSilberglanz strahlte und reichlich mit Blumen geziert War,hatten die Gäste in gutkombiniertcr Reihenfolge Platzgenommen.Ferdinand hatte die nie umstrittene Ehre, den älterenDamen die Honneurs zu machen, seinem Vater und seinemBruder überlassen und sich selbst neben Gusti gesetzt. Erwollte doch etwas haben.Austern wurden serviert. Gusti hatte nie eine gesehen,geschweige gegessen und wußte ihnen nicht beizukommen. IhreUnbeholfenheit amüsierte Ferdinand ungemein und ebenso dielaunigen Unterweisungen ihres andern Tischnachbars Glaser.Aber trotz Beispiel und Ermunterung legte Gusti schließlichdas silberne Messer beiseite und erklärte, sie könne es rüchtüber sich bringen, ein lebendiges Tier hinunter zu schlucken.Ferdinand lachte laut: Eine Auster ein Tier zu nennen,es war ein Hauptspaß.Glaser dokumentierte sein Wohlwollen für das„Kind",wie er Gustel nannte, indem er von den nachfolgenden Ge-richten ebenso große Quantitäten auf ihren Teller häufte, wieauf de» seinen und mit ihr ein förmliches Wettessen ver-anstaltete.Gusti war Siegerin und Glaser sprachlos.Seinen Rekord hatte noch keiner geschlagen; Ferdinandwar außer sich vor Vergnügen, denn je mehr die Kleine zusich nahm, um so heiterer wurde sie. Sie lachte nicht nur überdie Späßchen Glasers, sie hatte selbst lustige. Einfälle, sie warein zu netter Kerl. Ferdinand schenkte ihr fleißig ein, vergaßsich selbst nicht dabei, und immer übermiitiger wurden dieDrei an der unteren Ecke.Die Damen Krämer und Fuchs, die Reich in der Mittehatten, brachten das Gespräch auf die Ehescheidungen in hoch-aristokratischen Kreisen, die eben viel von sich reden machten,und wollten Näheres von ihm erfahren. Er erklärte, er wissevon nichts.Das wollten die beiden nicht gelten lassen. Er sei dochpersona grata in diesen Kreisen, er gehe dort aus und ein,gehöre zu den Intimen, werde gehätschelt, verwöhnt von denDamen--.„Ja, ja, spielen Sie nur den Unschuldigen, wir wissenschon—"„Sagen Sie doch, wann werden Sie denn Ihre Fürstinheiraten?"„Meine Fürstin?— Welche ineinen Sie?"„Oh!" machte die Fuchs, perplex; aber die Krämer ließihn nicht locker.„Mit Ihren Späßchen kommen Sie mirnicht aus, ich weiß, was ich weiß; mit der polnischenwenigstens war es so gut wie sicher— und wenn sie gewollthätten—"„Dann hätte sie mich entführt, ich brauchte dann nichtmehr zu mimen, könnte als edler Pole in der Polakei ge-mächlich auf ihren Gütern leben— aber ich trug weit besseresVerlangen—"„Wollen Sie noch höher?"„Noch höher, bis in den Himmel hinein!" Ein schönerBlick traf Luise, die ihm gegenüber saß.Gläserklirren—■ ein Aufschrei— hastiges Rücken—Lachen— Pardonrufe lenkten die Aufmerksamkeit auf dieuntere Ecke.Das lustige Kleeblatt hatte„Prosit!" getrunken undFerdinand hatte so heftig mit Gusti angestoßen, daß ihr Glaszersprang und der rote Wein über ihr Kleid floß.„Mein Kleid, mein schönes, neues Kleid!" rief Gusti.Glaser und Ferdinand waren mit ihren Servietten ihrhilfreich beigesprungen, sie wischten und wischten.„Das wird nie mehr heraus gehen!" jammerte Gusti,„die großen Flecken— die Rinne bis zum Saum— ach Gott,ach Gott!"Sie sah so hilflos, so desperat und dabei so reizend aus,daß sämtliche Gäste in ein lautes Lachen ausbrachen. Dasbrachte sie zur Besinnung.Sie wurde brennend rot und als Ferdinand, der fort-während in sich hineinkicherte, ihr zuflüsterte:„Ich bin schuld,ich werde den Schaden wieder gut machen, protestierte sieängstlich. Vater Witte war zu ihr getreten.„Mach' kein solches Aufsehen wegen dieser Lappalie,"bemerkte er ärgerlich.„Morgen kaufe ich Dir ein neues Kleid."Die Tafel war aufgehoben, man begab sich in den Salon,wo man ungehinderte Bewegungsfreiheit wieder erlangte.Doktor Jensen, der bei Tisch Luisens Nachbar war, bliebauch jetzt noch an ihrer Seite.Betti hatte am Sofa Platz genommen. Sie wickelte sichbis über die Ohren in ihre rote Cröpe lisse Echarpe, diemit schwarzen Spitzen garniert war. Sie war übelster Laune,ihre Augen funkelten wild. Als Jensen in ihre Nähe kam,winkte sie ihn zu sich.„Jetzt bleiben's einmal bei mir und machen's mir a bisse!den Hof, wenn's Ihnen auch sarier wird... Wenn der Haus-Herr nicht weiß, was sich g'hört, Sie müssen a feinere Bildungzeigen. Bei Tisch hat er mich zwischen zwei Maler g'setzt, diedümmsten Menschen auf Gottes Erdboden... Aber wenn erglaubt, daß i alles vertragen kann, dann irrt er sich. Daschau'ns nur, was ihm da wieder einfällt: animiert dieModeln zum Rauchen— wenn's nur seekrank werden möchten,das wär' doch a Spaß.— Was stieren's denn so hin. mirscheint, Sie möchten gern a dabei sein... Nix da— daserlaub' i nit... Sie bleiben bei mir."Frau Krämer hatte sich ans Piano gesetzt, sie spielteVrahms. Niemand achtete darauf. Als aber jetzt PaulBrandt annoncierte:„Fräulein Tina Schöne wird die Gütehaben, uns die neuesten Wiener G'stanzeln vorzutragen," riefalles im Saale:„Bravo!"Schon hatte sich ein Kreis um das junge Mädchen ge-bildet.Betti war blaß geworden.Wie, die— die wird aufgefordert, die soll vortragen,während man sie, die gefeiertste Wiener Coupletsängerin,ignoriert!Wut, Schmerz, Wehmut durchtobten sie. War's möglich!War's wirklich aus mit ihr? War sie nicht mehr die Betti?War ihre Macht zu Ende? Ein solches Ende! Der Geringstenzu weichen, nur weil sie jung war— ist das nicht traurig?!Ein ungeheures Mitleid mit sich selbst übermannte sie. IhreLippen zuckten. Die Muskeln ihres Gesichts wurden schlaff,es sah grau und verfallen aus. Diese elende Welt... Dieseelenden, dummen Menschen! Und wieder packte �sie derGrimm und riß sie empor. Sie stand aufrecht�„Ich willmeine Ohren nicht beleidigen lassen. Kommen Sie, Doktor,geleiten Sie mich aus dem Saale— bis zur Treppe. Siesind Kavalier und vielleicht werden Sie sich einmal'wasdarauf einbilden, daß Sie der berühmten Betti Ihren Armgeliehen haben, als diese krank war, ohne Stütze, verbittertvon dem Undank der Menschen."An seinem Arm hängend, rauschte sie hinaus.Es schmeichelte ihrer Eitelkeit, daß der Schönste, derVornehmste, der Gebildetste in diesem Kreise an ihrer Seite.schritt, in respektvoller Ritterlichkeit sich ihrer annahm. Nie-