Wnterhattungsblatl des vorwärts Nr. 149. Sonntag, den 31. Juli. 1904 (Nachdruck verboten.) "l Im Vaterkaufe. Socialer Roman von Minna Kautsky  . Der arme Körper der Toten war aufgerieben durch die Mühsal des Lebens, verbraucht bis auf den letzten Muskel. Fritz biß sich auf die zuckenden Lippen. Ja, die hatte gelitten, alles getragen ohne Klage, als etwas Selbstverständliches, bis dieses weiche Herz völlig zer- mürbt war. Dann in einem plötzlichen Ausbruch seines Schmerzes:Du arme Mutter, wieviel hast Du verheimlicht, um so ungehindert Dich hinzugeben mit Leib und Seel für die, die Du geliebt hast!" Gusti nickte. Sie hatte die Augen nicht abgewendet von der Verblichenen und, als spräche sie zu sich selbst, in Lauten voll tiefer Innerlichkeit, sagte sie leise:Sie hat uns geliebt sie hat uns glücklich gemacht. Mutter, ich möchte werden wie Du!" Kein Ton des Sclbstvorwurfs klang hindurch, nur ein heißes Sehnen nach gleicher Hingabe, nach einer Liebe, die ohne Grenzen ist und unvergängliche Liebe in den Herzen der andern zurückläßt. Fritz hörte es, und betroffen blickte er in dieses von warmem Empfinden durchglühte Mädchengesicht vor ihm. Jedem Weltschmerz fremd schien es, wie jeder unfrucht- baren Reue.   In ihrem Herzen hatte sie nie gesündigt. Und in ihm ist's wie ein Erkennen, ein Verstehen und ein Ver- zeihen. Zum erstenmal finden sich ihre Hände zusammen, und während ihre Augen auf die Tote gerichtet bleiben, fühlen sie das frische, warm Pulsierende Leben in ihren Adern und das Trostreiche, Glückverheißende ihrer gegenseitigen Nähe. Wieder ertönte die Glocke. Sie eilten an die Thür. Ein Kommissionär stand davor, mit einem mächtigen Kranz von frischen Blumen. Dicht hinter ihm war Witte die Treppe heraufgestiegen. Als er die kostbare Spende, ein Zeichen teilnehmender Freund- fchaft, bemerkte, fragte er hastig nach dem Spender. Der Kommissionär übergab ihm eine Karte. Von Edmund Reich. Ueber Wittes abgehärmtes Gesicht zuckte ein Strahl von Freude. Der ist treu.   Das ist lieb, sehr lieb von ihm!" Er selbst übernimmt den Kranz und mit beiden Händen ihn vor sich hin haltend, betritt er die Wohnstube. Von Reich!" rief er Luise entgegen, als könne er es kaum erwarten, sie von dieser Botschaft in Kenntnis zu setzen.Er schickt diesen Prachtvollen Kranz, weiße Rosen und Veilchen, ihre Lieblingsblumen. Seine Teilnahme rührt mich tief, aber sie ist begreiflich: hier seine Karte!" Luise griff danach. Ein p. t. in der Ecke, sonst kein Wort. Sie starrte regungslos auf die Buchstaben. Wir wollen der Mutter den Kranz auf den Sarg legen," sagte Witte, und verließ die Stube, um seine Absicht aus- zuführen. Luise will ihn zurückrufen. Nur ein heiserer Ton ringt sich aus ihrer Kehle. Da stiirzt sie ihm nach, eilt ihm voraus in das Lcichenzimmcr und stürzt sich über die Tote. Sie hebt den Arm wie zur Abwehr, als gelte es, die Leblose zu schützen vor Entheiligung. Nein!" bebend, erstickt, in namenloser Angst ruft sie's ihm zu.Sein Kranz soll sie nicht berühren!" Der Vater sieht tief betroffen in ihr totenblasses Gesicht, in die verstörten Augen. Ahnt er, was in ihr vorgeht? Er läßt den Kranz fallen. Seine Beine beginnen zu zittern er setzt sich auf einen Stuhl. Für den Vater war's der Zusammenbruch seines inneren Menschen. 26. Kapitel. Es war ein kalter, nebelgrauer Nachmittag, an dem Frau Elise auf dem protestantischen Friedhof vor der Matzleins- dorfer Linie bestattet werden sollte. In dem großen, von einem Gitter umsäumten Hofe, wo die Friedhofskapelle mit dem schönen Kuppeldach, eine Schöpfung Hansens, sich erhebt, waren eine Anzahl Wagen aufgestellt. Die Kapelle war mit Blumen geschmückt und glänzend er« leuchtet. Der Herr Superintendent hatte seines Amtes gewaltet« nun setzte die Orgel ein und feierlicher Gesang, weithin ver- nehmbar, tönte dazwischen. Dieser Aufwand galt nicht der armen Elise. Es war eine vornehme Leiche, deren Einsegnung in der gedrängt vollen Kirche soeben stattgefunden und welcher der Herr Superinten- dent einen schwungvollen Nachruf gehalten, in dem er die Tugenden der Verstorbenen in überschwenglicher Weise gefeiert. Die Einsegnung der Armenleich' sollte am offenen Grab er- folgen. Der Vikar und der Kirchendiener warteten auf ihr Er- scheinen bereits fünf Minuten. Sie hatten ihre Winterröcke an, rieben sich die Hände und! zeigten sich sehr erbost über die Verzögerung. Endlich traf die Armenleiche ein. Vier Männer im schäbigen, schwarzen Mänteln trugen den Sarg. Unmittelbar dahinter schritten Witte und Fritz, die einzigen männlichen Leidtragenden: in einiger Distanz folgten die weiblichen, es waren Frauen aus der Nachbarschaft, die den Töchtern der Verstorbenen den Vortritt gelassen. Die Träger hatten die Weisung erhalten, ohne Aufenthalt vorwärts zu gehen. Durch ein zweites Gitterthor betraten sie den beschneiten Friedhof und schritten auf den schlecht aus- geschaufelten Wegen dahin. In diesem Augenblick fuhr ein Unnumerierter in den Hof. Tini sprang heraus, in schwarzer, einfacher Kleidung. Sie befragte den Thorwart und eilte den Dahinschreiten- den nach. Sie wollte nicht fehlen, sie hatte die gute Frau Witte so gerne gehabt. Sie durchbrach die Reihen bereitwillig machte man ihr Platz und gelangte in die vorderste zu den Mädchen. Sie begrüßte sie stumm und blieb an ihrer Seite. Du sollst es nicht als Teilnahmslosigkeit ansehen, wenn er nicht kommt," flüsterte sie Luise ins Ohr.Er geht nie zu Begräbnissen. Es erscheint ihm zu schrecklich, es irritiert seine Nerven: wie könnte er abends spielen. Er bat mich, es Dir zu sagen." Luise antwortete nicht. Hatte sie es gehört? Ihr Gesicht war noch blässer geworden als vorhin, ihre Lippen preßten sich fester zusammen und die matten Augen blickten geradeaus über den weiten beschneiten Kirchhof, wo unter Baumgruppen Hügel an Hügel und Kreuz an Kreuz sich reihte. Aus schlichtem Holz waren die einen, aus kostbarem Marmor die andern Kreuze; heute waren sie alle unter einep weißen, alles nivellierenden Decke begraben. Zu Polstern gehäuft lag der frische, flockige Schnee auf ihnen, jede Ausladung, jeden Bogen, jedes Gesimschen gleich- mäßig bedeckend. Auch die niedergelegten Kränze aus frischen Blumen hatte weiße, spitz zulaufende Mützchen aufgesetzt, unter denen die roten Kamelien und Rosen frisch und farbenschön hervorlugten. Wohl nicht lange mehr, ihre Kelche waren bereits durch- fault. Der Zug bewegte sich lautlos vorwärts, an hohen Cypressen und Trauerweiden vorüber, die unter der Schnee- last sich bis zum Boden neigten. Viele der jungen Zweige waren geknickt und hingen, nuv noch lose verbunden, tief herunter. Die Leichenträgcr hatten solche Hindernisse wohl zu be- achten, nichtsdestoweniger schritten sie tapfer vorwärts. Luise hatte Mühe, ihnen zu folgen; ihre Glieder zitterten Sie sah in die weiße Luft, aus der die großen Schneeflocken z langsam aber unaufhörlich herniedersanken, einem Schleie« gleich, der mit der Entfernung immer dichter und dichter wurde. Dahinter war nichts mehr zu unterscheiden, die Konturen zer- rannen ins Unbestimmte, lösten sich gleichsam in Nichts auf. Die Männer mit den beschneiten Kragen, die schwankende Last auf den Schultern, waren eine Strecke voraus« alsbald