Die socialdemokratische Arbeiterpartei hatte den Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit Ausdauer und Heroismus geführt. Nur ein Stück ihrer Forderungen war ihr bewilligt worden, aber schon das war ein Sieg, und sie zweifelte nicht, daß sie auch im Wahlkampf Sieger sein und ihre Kandidaten ins Parlament bringen würde. Die gemeinsame Arbeit, die unsäglichen Opfer, die dem großen Ziele gebracht wurden, hatte sie fest zusammengeschweißt und gestählt. Wer konnte an Thatkraft es ihr gleichthun, sich mit ihr messen? Sie, die ziel- und klassenbewußte, gut organisierte Ar- beiterpartei, mußte in der fünften Kurie die Oberhand haben, die konnte ihr niemand mehr streitig machen. Und wenn die Kleinbürger sich ihr in den Weg stellten, um gedankenlos der Reaktion zu dienen, um so schlimmer für sie. Sie sollten nur der Sozialdemokratie an den tausend- armigen Leib rücken: unsre Umarmung zermalmt. Der Glaube an den Sieg war allgemein unter den Kämpfern für die fünfte Kurie, eine Kraft und Begeisterung loderte in ihnen auf, eine heilige Zuversicht, die das Gefühl ihres Rechts entzündet hatte. Es war ein ehrlicher Kampf und er sollte mit ehrlichen Mitteln geführt werden. Wer mit Selbstaufopferung einer großen Sache dient, der will sie nicht beschmutzen durch Niedrigkeit und Betrug. Aber heute, wo der Tag der Entscheidung gekommen war, mußten auch der Hitze und Leidenschaftlichkeit Zügel angelegt werden� damit sie den sicheren Sieg nicht etwa gefährdeten. Ernst und ruhig mußte die Haltung der Arbeiter sein, sie durften sich nicht provozieren lassen. Die Männer gelobten sich's zu die hitzigsten unter ihnen, von dem Gefühl der Verantwortlichkeit erfüllt. Die Weiblein aber kümmerten sich nicht viel darum, sie mußten ihrer jungen Kampfesfreudigkeit Ausdruck geben sie lechzten danach, den verhaßten Gegnern gegenüber, die sich feige versteckten, ihre Gesinnung zu dokumentieren, sie schwelgten in kühnen Herausforderungen aller Art. Alle roten Bänder und Schleifen wurden von ihnen hervor- gesucht, rotes Papier war am Abend schon ausverkauft war in den Proletarierbezirken bei keinem Händler mehr aufzu- treiben. Die jungen Frauen und Mädeln hatten einen Teil der Nacht geopfert, um daraus rote Blumen in Massen zu fabrizieren, mit denen sie jetzt am Morgen die Fenster schmückten. Rote Tücher, kleine rote Papierfähnchcn vervoll- ständigten die Dekoration. Da und dort prangten an einem Parterrefenster der Name des zu Wählenden mit großen weißen Lettern auf rotem Papier und umgekehrt. Besonders Optimistische   suchten auch schon die Leuchter für eine Be- leuchtung zusammen. Abends wollten sie illuminieren. Eine frohe Geschäftigkeit, eine begeisterte Stimmung leitete den Morgen ein, der grau und neblig sich anließ. Me Mädels hantierten an den geöffneten Fenstern, sie spürten nicht die frostige Kühle des Morgens, ihre sonst blassen Fingerchen waren an den Spitzen gerötet, sie zeigten die Farbe der Blumen, ihre Wangen hatten ein noch stärkeres Rot und die Augen glänzten vor Eifer. Die Männer rüsteten zum Aufbruch. Nur wenige Firmen hatten den Wahltag frei gegeben. Die Arbeiter konnten ihre Wahlpflicht nur, ehe sie zur Arbeit gingen oder während der Mittagspause erfüllen, sie mußten sich danach einrichten. Heute küßten die Weiber ihre Männer, ehe sie sie ent- ließen, mit besonderer Wärme; auch die, bei denen das Küssen längst nicht mehr Brauch war, fühlten einen Ansponi zur Zärt- lichkeit. Manche Mütter hoben segnend die Hand, es war wie ein Abschied vor einer Schlacht, und eine Schlacht sollte es werden, mit gutem Ausgang für sie, das war selbstverständlich. Und das gab ein Winken und Rufen und strammes Marschieren, den Wahllokalen entgegen. Fritz hatte die ganze Nacht gearbeitet. Jetzt untersuchte er sein Rad und ölte es frisch, das sollte heute gute Arbeit leisten. Er stellte sich dem Wahlkomitee zum Dcpeschendienst zur Verfügung. Auf der Straße, zunächst dem Hausthor, hatte er noch am Sattel zu richten, ehe er aufsprang. Plötzlich hob er den Kopf und sah in die Höhe, hatte er dort auch etwas in Ordnung zu bringen? In dem Augenblick öffnete sich im ersten Stock ein Fenster, ein paar dunkle Mädchenaugen, eine rundliche Hand, die unter einem schwarzen Tuch sich hervorschob, nickte grüßend ihm zu. Ein Ruck, auch der Arm kam zum Vorschein, schon flatterte etwas herunter. Fritz bückte sich und hob es auf: eine zierliche, aus rotem Papier gemachte Nelke. Seine breite Brust hob sich mächtig. >2 Er dankte nach okm mit einem Nicken und befestigte sie rasch an seiner Jacke. Als er wieder hinaufsah, war das Mädchen verschwunden, aber am nächsten Fenster, das geräuschvoll ge« öffnet wurde, stand der Hausherr. Er grinste mit bösem Lächeln seinen ehemaligen Gesellen an, der es wagte, ein Roter zu sein, und pflanzte ein großes Bild in das Fenster, den Herrgott von Wien  , Karl Lueger  . Seine dicken Finger zeigten höhnisch darauf hin, als wolle er sagen, da schau' her, der g'hört uns, gegen den giebt's kein Aufkommen. Fritz lachte auf, lachte aus vollem Halse. Es war, als wolle sich die junge Kraft, das Glücksgefühl, das ihm in diesem Augenblick das Herz schwellte, damit Luft machen. Er sprang auf das Rad, er faß fest, und mit einer nonchalanten Be» wegung, die besagte:Der g'hört schon Euch!" raste er davon, er hatte keine Zeit zu verlieren. Die kämpfen für eine Person," rief er voll innerlicher Befriedigung sich zu,wir kämpfen für eine große Sache, für einen Schritt vorwärts in der Kultur wir müssen siegen!" 29. Kapitel. Als Luise gegen fünf Uhr das Vaterhaus verließ, war die Wahlbewegung auf ihrem Höhepunkt angelangt. Wagen rasselten hin und her. um die Indifferenten herbei» zuschaffen, die Radfahrer durchflogen die Stadt von einem Bezirk in den ander?,, von einem Wahllokal in das andre. Vor denselben stauten sich die Wähler. Die Arbeiter, die am Morgen nicht Zeit geftinden, die Massen, die im Rathause auf Treppen und Gängen stundenlang gewartet, ehe sie an die Reihe kamen, um die ihnen nicht zugestellten Legitimationen zu reklamieren, die Säumigen aus angeborener Anage, sie alle stürmten in der letzten Minute herbei, ihre Wahlpflicht zu üben. Die Polizei that ihr möglichstes an aufreizender Ordnungsmacherej, aber die musterhafte Disziplin der Arbeiter ging ihr nicht in die Falle. Luise hatte kein Auge für diese Vorgänge, wenngleich sie sich hier und da ihren Weg gegen die ihr entgegenkommende Menge zu bahnen hatte. Endlich war sie in der inneren Stadt und aus dem Bereich der Wähler der fünften Kurie. Hier residierte die Vornehmheit und der Luxus, der Kampf zwischen Anti und Soci, zwischen Demokraten und Klerikalen ward nicht bis hierher getragen. Sie suchte das Haus, das Reich bewohnte, und konnte es nicht sogleich finden. Sie befand sich in einem Zustand un- beschreiblicher Aufregung, der ihre Sinne trübte. Endlich stand sie vor seiner Thür. Sie sah nicht aus, wie ein nach Liebe dürstendes Mädchen, das den Geliebten besucht. Das dunkle Kleid, der alte Hut mit dem schwarzen Bande erhöhte noch ihre Blässe, bleich und blutarm erschien sie. Sie zitterte, aber sie war entschlossen. Sie schellte. Ein Diener erschien. Er musterte sie mit Kennerblick und fragte hochnäsig:Fräulein wünschen?" Herrn Reich" Ist nicht zu sprechen... Er spielt heute." Er wollte die Thür wieder schließen, sie hinderte Ujn daran, und mühsam die Worte hervorstoßend:Bitte, sagen Sie Fräulein Witte er wird mich empfangen." (Fortsetzung folgt.)! (Nachdruck verboten.) Gletscber. In der ganzen Busdehnung der Alpen   existiert heute nicht ein einziger bedeutender Gipfel, der dem Ansturm der Kletterer Wider» stand geleistet hätte. Von Nizza   nach Wien  , vom Mittelmeer   nach den Ufern der Donau   sind alle Picks, alle Engpässe von allen Rich- tungen durch tühne Alpinisten bestiegen worden. Dennoch bestehen über Wesen und Vorkommen' des Gletschers vielfach recht unklare Vorstellungen. Die von Gletschermassen bedeckte Erdoberfläche ist viel größer als man noch vor wenigen Jahren annahm. Sie beträgt nicht weniger als tt.S Millionen Quadratkilometer, d. h. etwa 20_ Mal mehr als die Oberfläche Frankreichs  . Natürlich ist diese Schätzung nur annähernd und sehr unbestimmt. Diese gewallige Eismasse ist sehr ungleich über die Erdoberfläche verteilt; sie ist fast vollständig in den Polargegenden konzentriert, und auf dem Rest der Erdkugel nehmen die Gletscher nur gegen 50 000 Kilometer ein, die in kleine Gruppen durch ungeheure Zwischenräume getrennt sind. Man nehme