Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 158.

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Die flucht.

Freitag, den 12. August.

( Nachdrud verboten.)

Von K. Bagrynowski.

Bitte sehr, meine Herren! Bitte!" rief der Hausherr. Der Aelteste kommt zuerst an den Galgen, oder soll's der Reichste sein, weil Ihr Socialisten seid?" Er trat mit dem gefüllten Glase auf Tscherewin zu, und stieß dann der Reihe nach mit den andern an. Ihnen biet' ich keinen an, oder trinken Sie doch eins, dem Feste zu Ehren?" fragte er im Vorbeigehen Alerandroff, und als dieser den Kopf schüttelte, trat er zu Niehorski und Krassuski.

Und jetzt mit Euch, meine Herren!" begann er polnisch. Denn wenn unser Herrgott auch schon lange geboren ist ist's doch traurig, das Fest allein zu feiern. Man muß mit den Wölfen heulen. Und es sind nun schon zwanzig Jahre her, seit ich in diesen Steppen und Wäldern lebe, und in der ganzen Zeit hab' ich niemand aus der Heimat gesehen, hab' meine Sprache schon verlernt gehabt, bis Sie nun..." Hier brach er ab und leerte das Glas mit einem Zuge.

Niehorski umarmte ihn und füßte ihn herzlich auf den spröden, thränenbenetten Schnauzbart, und dann beugte sich Krassuski zu dem Landsmann nieder.

" Nun geht's schon wieder los: pschy, pschy. Ohne Intrigue geht's nun einmal bei den Polen nicht ab," flüsterte Tscherewin scherzhaft. Die andern fahen zartfühlend weg, und mur Delille machte eine teilnehmende Handbewegung. Aber niemand achtete auf ihn, denn Tscheremin verabschiedete sich eben vom Gastgeber und den andern Genossen. Herr Jan war ihm beim Anziehen des Pelzes behilflich, begleitete ihn ehrerbietig bis an die Thür und kehrte dann schnell zu seinen Gästen zurück.

Die waren schon dabei, Platz zu nehmen, daher schleppte er Stühle, Kisten und Schemel herbei, fletterte dann auf die hochgetürmten Kissen seines Bettes, zog die Dose aus der Tasche und sagte: So, jetzt wollen wir lustig sein!"

1904

Firmamentes noch rot, aber den Rest des Himmels hatte die sterndurchwirkte, nebelumschleierte Nacht schon in Besitz ge­nommen. In den emporschwebenden Nebeln vereinten sich die Sterne am Horizont und die von den Hütten aufsteigenden Feuerfunken zu einem einzigen, zauberhaften Schwarm. Aus all den fünfzig Schornsteinen des Städtchens stiegen Rauch­wolfen und Funkengarben empor. Da war kein Fenster, aus dem es nicht festlich strahlte. Nur die Kirche und das Haus der Polizeiverwaltung, die größten Gebäude in Dschurdschnj, schliefen dunkel und verlassen im Nebel.

Nichorski wohnte am entgegengesezten Ende der Stadt, wo die Herrschaft der Seen und Wälder begann. Seine Jurte war reinlich, aber klein. Als sie dieselbe erreicht hatten, öffnete der Wirt seinen Gästen die Thür, blieb aber selbst draußen, um einen Arm voll Holz aufzulesen, denn zu einer gewählten und gesuchten Bewirtung gehört in Dschurdschni mit Recht vor allem ein gutes Feuer.

Als er das Holz endlich im Ofen geschichtet und mit einem Streifen Birkenrinde angezündet hatte, züngelte das schwache Flämmchen lange an den gefrorenen Scheiten auf und nieder, ehe es sie zischend umfangen konnte. Aber kaum war das geschehen, so wurde allen heimischer zu Mute. Das Feuer knisterte, das Holz prasselte, die tienigen Klötze barsten, und ab und zu flog eine Kohle lustig ins Zimmer. Grelles Licht drang, den Schein der Kerze dämpfend, plötzlich in die entferntesten Winkel. Dicht aneinandergedrängt umgaben die erstarrten Verbannten den Herd, sogen die Wärme und den Glanz des Feuers wollüſtig ein und lauschten dem Sausen und Singen der Flammen und Funken, die in die weite Welt hinausstoben.... Endlich fing Samuel leise an zu singen: " Jugendzeit, Goldene Zeit!"

"

Wirklich, Samuel, Du könntest was singen!.. ist so traurig heut!" riefen die andern alle durcheinander. ,, Umsonst singen läßt die Kehle nicht flingen. Vor allem müssen wir eine Riumetschka" trinken!" sagte San in seinem russisch - polnischen Kauderwelsch und füllte ein Glas. ,, Was soll ich Euch singen?" fragte Samuel, indem er an das leere Glas zurückgab und die Genossen mit glänzenden Augen ansah. ,, Den Kuckuck!... Den Kuckuck!"

Heil wohl ruft der graue Kuckuck Früh, frühmorgens im Morgenschein, Heil wohl weinen die jungen Helden Jm Türkenjoch, in der Stetten Bein!

Glas wanderte von Hand zu Hand und bei der

Der dampfende Samowar wurde auf den Tisch gestellt. Aber der Frohsinn wollte sich nicht einstellen: die Gäste mochten keinen Schnaps trinken, nahmen den Thee nur wider­willig, aßen mit langen Zähnen und saßen schweigend und nachdenklich da, ohne einander anzusehen. Der Hausherr versuchte sie zu zerstreuen; aber seine Mühe blieb ohne Erfolg: auch ihm krabbelte" etwas an der Seele herum. Das Feuer war ausgebrannt und am Erlöschen. Der glimmende Glut­Haufen beleuchtete die Menschen am Tische mit seinem letzten, roten Schein, aber in den Winkeln der Stube war es schon Strophe: ganz dunkel. Der geleerte Samowar summte leise; leise flirrten die im Dunkeln vorsichtig hin- und hergeschobenen fielen einige, ihrer Sache augenscheinlich nicht allzu sichere Tassen; die Menschen schwiegen, und aus der Stube nebenan Stimmen schüchtern mit ein, während der Vers: tönte der wehmütige, einförmige, gurgelnde Gesang eines Jakuten zu ihnen herüber. Samuel, der mit großen Schritten in der Stube auf- und abging, trat plötzlich an den Tisch, wählte mit zitternder Hand eine leere Tasse und stellte sie vor Jan hin. Schent' ein!"

"

Nein, nicht hier, nur nicht hier! Kommt lieber zu mir!" rief Niehorski lebhaft und bedeckte die Tasse mit der Hand. Weshalb nicht hier? Hier geht's auch!" beteuerte Jan, aber da er sah, daß seine Gäste alle aufstanden und sich zum Fortgehen anschickten, gesellte er sich nach einigem Nachsinnen auch zu ihnen. Na, meinetwegen! Aber wir nehmen auch Gieb' von hier ein Fläschchen mit... Bist Du verdreht? Die Müze her!" schrie er seine Frau an und riß ihr seine Pelz­müße aus den Händen, die sie protestierend und aufgebracht hinter ihrem Rücken zu verbergen suchte.

Keinen Augenblick fann er zu Hause bleiben! An folch einem großen Feste! Sie sind Dir mehr als Deine Frau!"

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,, Am Alltag heißt's: bleib' denn Du mußt arbeiten; am Feiertag heißt's: bleib' denn' s ist Feiertag! So nimm doch Vernunft an, Weib!"

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3.

Der furze Wintertag ging zur Neige. Der sehr schmale und blasse Streifen der Abendröte färbte den Rand des

., Ueber das blaue Meer..."

,, und dort in der Ukraine Scheint die Sonne golden,"

schon im Chor erklang.

Samt dem Rauche schwang sich der Gesang den breiten Schornstein hinauf in die Luft, wurde vom Winde erfaßt und weiter getragen.

Pit!"

" Horch! Die Verbrecher") singen!" sagten die Nach­barn, die Rosaken und Jakuten, und traten vor die Thür, um frische Luft zu schöpfen, sich die Sterne anzusehen und dem fremden, zum Herzen dringenden Liede zu lauschen.

,, Das kommt aus fremden Landen!.. Aus fremden Landen!" seufzten die Frauen.

Indessen leerten die Sänger ein Glas nach dem andern, Bald sangen alle ohne Ausnahme. Nur Niehorski sang nicht, und trant auch nicht. Ich brauch' heut gar nicht zu trinken, um trunken zu sein!" sagte er, den auf ihn Einstürmenden wehrend, singt mur!"

Je mehr sich die bauchige Flasche leerte, desto ver­schiedenartiger wurden Inhalt und Melodie der Lieder, desto wunderlicher wurden ihre Töne. Endlich kam Jan, der am

*) Verbrecher" nennt das Volk in Sibirien die politisch Ver bannten zum Unterschied von den Bosjelenjets"- Ansiedlern, d. h. Kriminalverbrechern, die lebenslänglich nach Sibirien verschickt werden.