Arbeit hielt er die zerstreutesten Professors- und für ihre Ruhepunkte die angeheitertsten Verwechselungsanekdoten bereit. Dann aber kam die große Schichtung gemäß der noch zulässigen Erzählbarkeit. Zuerst rangierte die große Menge der Geschichten, die zu jeder Tages- und Nachtzeit zulässig, jedoch vor 9 Uhr abends am besten angebracht und nachher schon zublaß" waren. Eine feine Nuance trennte von ihnen diebis 10 Uhr abends". Sie haben bereits einen leisen Wildgeschmack", so leise freilich, daß sie noch in jederbürgerlichen" Gesellschaft und vor allen halbwegs erwachsenen Damen erzählt werden konnten. Hier, um 10 Uhr, begann die ersteHauptgrenze"; jenseits dieser Grenze kam dasschärfere Gewürz". Bis 11 Uhr konnten noch etliche liberale Respektpersonen undkemmes de trente ans" mit in Betracht gezogen werden; und bis 12 Uhr gab es immer noch Rücksichten aufLaienkreise". Die Mitternachtsstunde aber bedeutete für unfern Biologen der Anekdote die zweiteHaupt- grenze": jetzt geschah die große Scheidung zwischenLaientum" undFachmannschaft", jetzt blieben einzig noch die begnadeten Menschen übrig, die wie er sich ausdrückte«die Form vom Inhalt zu unterscheiden" vermochten; jetzt kam nicht mehr die Person des Hörers, sondern nur einzig noch dieStimmung der Stunde" in Betracht, um die letzte Kategorientrennung vorzunehmen. Bis 1 Uhr morgens konnte jeder Anatom zuhören, ohne zu erröten, bis 2 Uhr noch jeder Soldat, bis 3 Uhr noch jeder Weinreisende, bis 4 Uhr noch jeder Bewohner dek Affenhauses imZoologischen"; von 4 Uhr ab vermochte auch dafür niemand mehr gutzustehen... Unser Held war aber auch ein origineller Pädagoge. Er der- stand es, Kindern die Allgemeinbildung durch Anekdoten bei- zubringen. Was der Aequator sei, lehrte er sie mittels der Ge- schichte von dem Kapitän, den einige Passagiere fragten, ob man den Aequator nicht sehen könne, und der sie daraufhin durch ein Fernrohr einen quer vor das Okular gespannten Faden sehen ließ. Aber nicht nur eine Erziehung des Menschengeschlechtes durch Anekdoten, sondern auch eine ebensolche z u ihnen verlangte er. Beides sollte vereinigt werden in einerHochschule der Anekdote"; und ich glaube gehört zu haben, daß sich in seinem Nachlaß ein Legat zur Vorbereitung dieses Unternehmens fand. Wunderbar war die Menschenliebe dieses Mannes. Es bedeutete ein Stück seiner Herzenswärme und seiner moralischen Weltanschauung, daß er in dem Gesamtschatz seiner Erzählungen keinen Stand und Rang, keine Nation und Volksschicht überging. Hielt ihn jemand für einen Antisemiten, so strafte er ihn dadurch, daß er ihm solange keine jüdischen Geschichten mehr erzählte, bis jener um Vergebung gebeten. Seiner eignen Gattin auch nur eine Anekdote zu ver- heimlichen, hätte er für die größte eheliche Untreue gehalten. Ich kann von der Erinnerung an dieses Menschenmuster keinen besseren Abschied nehmen, als durch die Wiedergabe eines Ausrufes, der ihm einst aus dem Innersten drang. An einem Stammttsch lernte er einen andern Virtuosen der Anekdote kennenden einzigen, der mir gefährlich werden kann". Er fragte mich nach dessen persönlichen Verhältnissen: als ich ihm bemerkte, daß jener ein Witwer sei, entrang sich seiner Brust das Wort:Und der Arme hat keine Frau, der er die Geschichten nach Hause bringen kann!" Kleines feuiUeton. k. Urga, die Stadt deslebenden Buddha". A. G. HaleS, der Kriegskorrespondent derDaily News", der zusammen mit Kingswell eine gefahrvolle Reise durch die Mongolei   unternahm, berichtet nun ausführlicher von dem, was er gesehen, und von der Verschwörung gegen die Engländer, von der er vernommen. Tibet   erscheint ihm vor allem als eine geistige Macht, als das heilige gelobte Land, nach dem die Augen der ganzen buddhistischen Welt gerichtet sind, und dessen früher so fest verschlossene Bezirke alles Teure und Ver- ebrungswürdige bergen, so daß ein Fortreißen dieser mystischen Umhcgungen, wie es durch die Engländer geschehen, in allen Kreisen bei Hoch und Niedrig als eine Entweihung der Religion und eine Profanierung des Göttlichen erscheint. Er fährt dann fort: Sechzehn Tage und Nächte bin ich auf einem Kamel durch die Wüste Gobi   geritten, bis ich in den Mauern des Tempels stand, der dem lebenden Buddha in Urga   geweiht ist. Urga   ist die Haupt- stadt der Mongolei   und das zweite Centrum des ganzen Buddhismus  in der Welt. Lhassa  , der Vorort des buddhistischen Glaubens und die Hauptstadt Tibets  , birgt den Dalai Lama  , das Haupt der buddhistt- schen Religion. Im ganzen weiten Osten giebt es keinen Ort, wo er nicht Anhänger hätte, und größer ist die Menge der Gläubigen, die ihm dienen, als die Zahl derer, die sich zu Jesus   bekennen. Und die Grundformel dieses Glaubens, die Botschaft, die er verkündet, ist Friede. Trotzige Männer mit stolzem, heißen Blut sind um ihn geschart, Männer, die bis zum Tod mutvoll kämpfen würden, wenn ihre Priester es geböten. Doch er bändigt sie mit einem milden Blick, hält sie von Gewaltthaten zurück, eingedenk der Lehre, daß ein strenger Buddhist kein Menschenleben vernichten darf. In Urga hat der zweite Beherrscher der buddhistischen Gläubigen seinen Sitz, der lebende Buddha". Auf meinem Wege zu seinem Tempel sah ich Anzeichen, die mich überzeugten, daß der Buddhismus   eine lebendig wirkende Macht ist, und einen gewaltigen Einfluß besitzt, daß er ein Faktor ist, mit dem man rechnen mutz. Pilger sah ich aus China  , die demlebenden Buddha" ihre Huldigung darbrachten. Heiliger Ernst lag auf ihren Zügen und sie waren erfüllt von der Bs» beutung dieser Stunde, die Söhne aus dem Himmlischen Reiche, Einige hatten sich selbst Bußen auferlegt für begangene Sünden, denn beim Gehen warfen sie sich in Zwischenräumen von wenigen Metern mit dem Gesicht nach unten der ganzen Länge nach in den Schmutz. Einige waren abgezehrt bis auf Haut und Knochen und sahen wie lebende Skelette aus, denen nur noch die religiöse Inbrunst eine geheime Lebenskraft einzuhauchen vermochte, die spitzen Backen- knochen schienen durch die Haut hindurchzustechen; dünn, blutlos und blau die zusammengepreßten Lippen, die Gesichter so starr wie bei Toten, die Augen eingesunken und verborgen in den Höhlungen unter den Augenbrauen, doch glühend in fanatischer Seligkeit, und von heißer Sehnsucht nach Frieden leuchtend für die gequälte und gehetzte Seele, die nur durch die Buße Ruhe finden kann. Buräten aus Sibirien   sah ich russische   Unterthanen, doch Verehrer des Buddha. Friedensuchende gütige Riesen mit mächtigen Gliedern, die, Weih- geschenke demütig in der Hand, nach Urga kamen und es, Haß gegen England im Herzen, verließen. Ich sah Mongolen, prächtig ge- baute kraftvolle Menschen, Männer mit schweren schläfrigen, tief- liegenden Augen, Männer mit viereckigen Kiefern, vorstehenden Backenknochen, großen Nasenlöchern das waren die Krieger des Landes, die in stiller Ehrfurcht zu ihrem Gotte wallten. Mancke Leute waren monatelang aus dem Wege. Und auch ich ließ mich von diesem Menschenstrom forttreiben, trug Geschenke in den Händen, um dem wunderbaren Mann zu huldigen, der das Schwert in der Scheide hält und Frieden gebietet. Seit Jahrhunderten strömen viele Priester in demselben Monat in Urga zusammen, um für den Frieden der Welt zu beten. Der lebende Buddha und die Buddhas um ihn leiten dies Gebet und stimmen es feierlich an. Menscben» alter sind dahingegangen, Herrschergeschlechter sind gestürzt worden, die Flüsse haben den Lauf geändert, aber das Flehen um den Frieden stieg sedes Jahr in die klare ftische Luft der mongolischen Hauptstadt empor. Da im Jahre 1904, welch ein andres Bild! Die Kunde erging, daß sich bewaffnete Männer eingedrängt hätten in das Allerheiligste und eine große Entrüstung bemächtigte sich der versammelten Priester. Es war ja nicht eine beliebige Stadt, die besetzt worden, sondern der Hort ihres Glaubens, die Burg ihrer Ideale und die von den Vätern geweihte Stätte ihrer Verehrung war entweiht und ge» schändet. Und in den Tempeln Urgas sprach man nun nicht mehr von Frieden, die Würdenträger der Kirche gingen mit finsteren Brauen herum, und die Gongs klangen dumpf, trübe und unheil» kündend. Die Lamas kamen von nah und fern aus Tibet  , Chma und Indien  . Auf prächtigen Pferden und kostbaren Kamelen kamen sie geritten, es nahten Priester in prachtvoll hellroten Gewandungen, die vom Sattel auf den Boden wallten. Priester in dunkelroten Kleidern mit grell-gelbem Kopfputz. Sie saßen auf ihren Pferden eher wie Ritter, als wie Diener der Kirche. 25 000 Priester sah ich, verrunzelte und ehrwürdige Greise, Jünglinge im ersten Morgen- glänz der Jugend und reise Männer, und alle sprachen nur von dem Sakrileg, das an ihrem Höchsten begangen. Die Empörung der Priester drang unter das Volk; in wilder Aufregung verlangte eS Bestätigung dieser dunklen Gerüchte, in ernster Entschlossenheit schienen alle zum Kriege bereit, als sie von dem Einmarsch der Engländer in Lhassa   hörten, doch die Priester mahnten zum Frieden, den die heilige Religion gebiete. Und als ich mich unter die Scharen dieser 25 000 Priester, die zu Urga versammelt waren, mischte, horchte ich auf mancherlei und das ist's, was ich vernommen habe: In jedem Winkel und jedem Eckchen ganz Indiens   und des weiten Asiens  , überall da hin, wo der Buddhismus   Freunde zählt und An- Hänger hat, wird eine Botschaft ausgehen, und sie ist inzwischen schon nach allen Richtungen hin ausgesandt, die das Vorgehen Groß» britanniens in Tibet   verurteilt. Pilger und Priester, Hausierer und Kaufleute, alle werden es ausbreiten, wie die Vögel Samen» körner von weit hertragen und sie fallen lassen auf allen Wegen, so daß die Saat weithin aufgeht. Und so wird diese Kunde hinaus- getragen werden in alle fernen Lande und in den Bazaren HindostanS wird man ebenso mit Erbitterung davon erzählen wie in Tibet   und in der Mongolei.   Aus dem Tierleben. is. Wie sich ein Tausend füßler bewegt. Mit den merkwürdigen Formen der Hundert- und Tausendfüßler hat sich auch der Sinn des Volkes beschäftigt. Schon die Namen sind ein Beweis dafür, denn die Insekten dieser Gruppe haben weder tausend noch hundert Füße, aber jedenfalls eine verblüffend große Zahl, die der Einbildungskraft zu Uebertreibungen Veranlassung gegeben hat. Ein gewöhnlicher Tausendfuß, wie wir ihn leicht im Erdboden aufspüren können, ist ein sonderbares Ding. Da er klein ist, sauber aussieht und keinerlei Waffen an sich vermuten läßt, wird sich auch nur ein äußerst ängstliches Gemüt davor scheuen, ihn sich genauer anzusehen. Man versuche einmal zu beobachten, was ein solches Tier mit seinen schier unzähligen Beinen anfängt. Wenn eS sich fortbewegt, so geht es wie eine Welle durch die lange Reihe von faserarttgen Beinchen, und man wird in der That eine Bewunderung dafür nicht unterdrücken können, daß dies nur wurmähnljche Insekt seine vielen Beine in so harmonischer Weise zu gebrauchen versteht. Ein bedeutender Zoologe hat kürzlich genau festzustellen versucht, wie ein Tausendfüßler über seine vielen Beine beim Gehen verfügt. Sie bewegen sich wirklich in Gruppen oder Wellen, jede Welle um» faßt eine ganz bestimmte Zahl von Beinen, wenigstens bei ein und derselben Art, während sie bei verschiedenen Arten der Familie wechselt.