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Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 161.

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b Mittwoch, den 17. Auguſt.

Die flucht.

( Nachdrud verboten.) SER

Von K. Bagrynowski.

Alexandroff lächelte.

1904

fönnen uns auf keinen Fall damit zufrieden geben, was uns die Landkarte sagt. Es ist sicher, daß noch niemand dort ge­wesen ist. Die meisten Gegenden, die Berge und Flüsse, sind maufs Geratewohl hingezeichnet, je nach den Angaben der Ein­geborenen. Von den Eigenschaften des Weges haben wir auch nicht den geringsten Begriff. Wir müssen also wie im Dunkeln herumtappen und uns auf alle möglichen Ueberraschungen gefaßt machen. Die nötigen Vorbereitungen kosten vor allem viel Geld, und wir sind arm, sehr arm. So können wir zum Beispiel nicht daran denken, Pferde zu kaufen. Und dann würde das auch auffallen. Unfre Mittel erlauben uns nicht mal, uns mit Proviant, Waffen oder Kleidern zu versehen, und alles das müßte neu und von der besten Sorte sein. Von dem, was wir zum Leben brauchen, können wir nichts sparen. Es fehlt uns ohnehin an allen Ecken. Von Hause darf kein Geld zu uns gelangen. Der Zuschuß, den wir von der Re­gierung erhalten, ist so berechnet, daß wir unsre monatlichen Rechnungen und wenn wir noch so bescheiden leben- mit einem Manko schließen müssen. Verdienen läßt sich nichts. Ich habe keine Ahnung, wo wir zehn bis zwanzig Rubel her­nehmen sollten, und die Ausgaben, die eine Flucht wahr­scheinlich machen könnten, sehen wie nach Hunderten aus. Es bliebe uns also nichts andres übrig, als die Art zur Hand zu nehmen und so in den Wald zu wandern." " Du willigst also nicht ein?"

" Ja, Du hast mir weh gethan. Du hast eine merkwürdig higige Art, wenn Du etwas beweisen willst. Deine Worte treffen wie Peitschenhiebe... Und was noch schlimmer ist, Du giebst die Antworten Deiner Wiedersacher falsch wieder, Du flammerst Dich an jedes nicht ganz richtig gewählte Wort, thust, als wüßtest Du nicht, was man sagen will, und doch fühle ich wohl, daß Du es ganz genau weißt. Manchmal war es geradezu empörend. Ich hab' es lange ertragen weißt Du, um Deines warmen Herzens willen. Aber ich habe Dich gewarnt das ist keine Art, mit Menschen umzugehen, auf diese Weise wirst Du Dir alle abspenstig machen. Das letzte Mal jedoch hast Du die letzte erlaubte Grenze über­schritten."

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In Niehorskis Gesicht zuckte es leiſe. Eingestanden! Ich bin unausstehlich, aber Du mußt mir doch zugeben, daß wir uns gerade diesmal nichts vor zuwerfen haben. Hast Du mir nicht gesagt, ich sei nicht auf­richtig, ich gebe die Thatsachen wider mein besseres Wissen falsch an?... Und wenn es wirklich so wäre, thäte ich es nicht nach Deiner Theorie? Es giebt ja keine objektive Wahrheit, die Menschheit hat ja nur einen Maßstab für das Bestehende - und das sind die subjektiven Eindrücke des einzelnen!. Nun geht's schon wieder los mit der Metaphyfiti" brummte Alerandroff.

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" Durchaus nicht! Im übrigen... mag's Metaphysik heißen. Aber deshalb bin ich nicht hergekommen Ber­zeih' mir, wenn ich Dir zu nahe getreten bin, und gieb mir die Hand. Ich liebe Dich das weißt Du..."

Sie umarmten sich.

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,, Unfre Feinde trachten uns zu verderben, und trotzdem peinigen wir uns untereinander. Der Mensch ist doch eine wunderliche Kreatur," sprach Niehorski, indem er, auf den Arm des Freundes gestüßt, im Zimmer auf- und abging.

Und das hat manchmal seine guten Seiten. Wärst Du auf diese tolle Idee gekommen, wenn wir uns nicht gezankt hätten?"

" Du hast vielleicht recht. Sie spukte mir schon früher im Kopfe, ohne jedoch eine bestimmte Gestalt anzunehmen. Diese vierzehn Tage hindurch wußte ich mich vor Sehnsucht nicht zu lassen. Ich hatte keinen Menschen, mit dem ich ein Wort reden konnte. Du kennst sie ja: Samuel ist wißig, aber immer so fühl und im alltäglichen Leben oft unerträglich. Er spricht sich nie ganz aus, achtet auf jedes Wort, fängt jede Kleinigkeit auf, er ist ein durchaus anständiger Mensch, aber es ist mir nun einmal unmöglich, mit ihm zu reden. Bjebroff!... der ist zu sehr in seine eigne Beredtjamkeit ver­liebt und läßt niemand zu Worte kommen; Glitsberg hat nur für Piebroff Ohren. Alle beide sind sie gute Kerle, aber noch allzu jung. Kurz, ich hatte niemand, mit dem ich ein Wort wechseln fonnte, um auf andre Gedanken zu kommen. Wenn ich ausging und mich umsah, war's ewig dasselbe: Schnee, Nebel, Frost... Und über mir immer dieselbe un ergründliche, endlose Nacht. Und dies Schweigen überall! Nur die Hunde bellen. Nichts als Finsternis, grausige Finsternis. Und morgen, übermorgen wieder dasselbe! Man glaubt, von einem furchtbaren Wahn befangen zu sein. Fast laufend pflegte ich nach Hause zurückzukehren, nicht er­frischt von dem Spaziergange, sondern niedergedrückt. Die Sehnsucht wühlt sich ins Hirn, ins Blut, frißt am Herzen, verscheucht den Schlaf. Ah! ich hab's satt. Ich kann's nicht länger ertragen! Warum nennst Du meinen Plan eine tolle Idee?"

Alexandroff dachte eine Weile nach, dann nahm er ein Licht und führte den Freund in den angrenzenden Raum, wo sein Bett stand und wo er auch eine Karte von Sibirien hängen hatte.

Auch ich habe oft daran gedacht, ob's nicht möglich wäre, zu fliehen; aber hör', was ich über Deinen Plan sagen will. Du mußt doch zugeben, daß Du nicht das geringste über diese Länder weißt, oder doch nicht viel mehr als nichts. Wir

Das hab' ich nicht gesagt. Im Gegenteil. Aber das wird keine Flucht sein, sondern ein Protest. Wir werden gehen und sterben. Vielleicht erzielen wir dadurch, daß man auf die Lage der Verbannten aufmerksam wird, die verdammt sind, in einer ähnlichen Wildnis zu leben. Und die Schwachen und Wankelmütigen werden, wenn sie erfahren, was wir ge­than stärker und mutiger werden und vielleicht erwacht bei ihnen die Scham." " Oder sie werden noch ängstlicher," dachte Niehorski in seinem Sinn.

"

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Wohl," sagte er laut ,,, mir liegt nur daran, daß Du einwilligst. Laß Deine Flucht ein Protest sein. Ich bin's zufrieden. Wir fliehen, denn wir wollen uns retten. Ich glaube fest an die Möglichkeit einer Flucht. Es ist nicht so schlimm, wie Du denkst! Hör' nur zu!...

Er nahm neben Alexandroff auf dem Bette Platz und setzte ihm seine Gründe, lebhaft gestikulierend, auseinander. Alerandroff saß schwerfällig da und hörte ihm zu.

,, Wir haben verschiedene Sachen, wir können all den Krimskrams zusammenfuchen und verlosen. Mußja eignet sich ausgezeichnet zu diesem Geschäft."

Ach, dieser Mußja! Vor allen Dingen muß er fort von hier und die ganze Zeit über ferngehalten werden. Der wird alles ausplappern."

,, Meinetwegen. Wir werden ihn fernhalten, sobald er die Lose untergebracht hat. Wenn dann die Flucht endgültig beschlossen ist, schreibe ich an meine Verwandten, sie möchten mir einige hundert Rubel an Tas schicken. Tas wird uns unterdessen Kredit geben. Ich hab' schon mit ihm gesprochen, er hat halb und halb zugesagt. Wir nehmen von ihm, was wir an Lebensmitteln brauchen, und auch mehr, als wir brauchen. Den Ueberschuß an Thee und Labak machen wir nach und nach zu Geld. Auf diese Weise lassen wir unsre Sapitalien unangetastet. Dann führen wir verschiedene Er­sparnisse ein. Wir rauchen nicht mehr. Wir ziehen alle zu­sammen in eine Jurte."

Er sprach noch lange weiter, ohne die geringste Kleinig­feit, den nichtigsten Umstand, der ihnen günstig sein könnte, außer acht zu lassen. Es war ein so feingefügtes Gewebe von Träumen und Hoffnungen, daß das Ganze unwiederbringlich zu Grunde gehen mußte, sobald nur ein einziger Faden riß. Alerandroff schüttelte oft den Kopf, aber er schwieg. Krafsuski, der unbemerkt eingetreten und an der Thür stehen geblieben war, blickte sie lächelnd an.

Ei, wollt Euch nur vergleichen," Herr Krug wohlwollend fleht. Die Herren Brüder alle: Wer an der Spitze steht."*)

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Er sagte das plötzlich in polnischer Sprache.

"

, Aha, bist Du da! Das ist gut. Gleich sollst Du wissen, wir hier beschlossen haben," sagte Niehorski.

*) Aus dem Epos Herr Thaddäus" von Mickiewicz .